"Manchmal funktioniert eine Idee wie ein Popsong"

Aber was genau macht sie zum Hit? Ein Gespräch mit dem Bestseller-Autor Malcolm Gladwell über den richtigen Moment und ewige Missverständnisse.

SZ-Magazin: Herr Gladwell, was muss passieren, damit aus einer guten Idee tatsächlich ein Erfolg wird?
Malcolm Gladwell:
Dafür müssen, glaube ich, drei Faktoren zusammentreffen: Erstens muss die Idee etwas haben, was ich den Verankerungsfaktor nenne, sie muss das Zeug dazu haben, eine ganze Gesellschaft zu packen. Das funktioniert am besten, wenn sie auf mehreren Ebenen zugleich greift.

Zum Beispiel?
Nehmen Sie die Mode: Da ist ein Trend in der Regel dann am stärksten, wenn er nicht nur in der Kleidung gilt, sondern sich auch im Design spiegelt, in der Musik, in mehreren kulturellen Bereichen also. Zweitens muss es jemanden geben, der sich zum Anwalt der Idee macht, idealerweise jemand, der innerhalb einer Gesellschaft eine besondere Rolle spielt. Solche Menschen sind leider ziemlich selten. Deshalb sprechen Sie in Ihrem Buch Tipping Point vom "Gesetz der Wenigen".
Genau. Und drittens muss der Moment günstig sein, die neue Idee muss auf bestimmte Bedürfnisse oder Erwartungen in der Gesellschaft treffen, ökonomisch ausgedrückt, muss es so etwas wie eine Marktlücke geben. Das nenne ich die Macht der Umstände. Es muss eine Situation gegeben sein, in der die Gesellschaft sofort bereit ist, der Idee eine gewisse Wichtigkeit zuzuschreiben.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Der ganze Bereich der »grünen Ideen«, also alles, was erneuerbare Energien angeht, neue Technologien, Elektroautos und so weiter. Man kann da beobachten, wie sich ein Bewusstsein, das erst als Spezialistentum galt, über die Jahre langsam in der Gesellschaft verbreitet. Das liegt eben daran, dass die Idee auf verschiedenen Ebenen wirkt, von der Autoindustrie bis zur Energienutzung zu Hause, von der Unterhaltungselektronik, wo immer mehr Menschen keinen Stand-by-Modus mehr verwenden, bis zur Mode, wo immer häufiger umweltschonend produziert wird.

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Sie sagen, dieses Bewusstsein verbreitet sich langsam. Was müsste passieren, damit es schneller geht?
Ich glaube, man kann das nicht künstlich antreiben. Wir müssen abwarten. Oft ist es vor allem eine Frage der Zeit. Kennen Sie das Beispiel von den Faxgeräten, das ich in Tipping Point beschrieben habe?

Erklären Sie es bitte noch mal kurz.
1984 hat die Firma Sharp das erste preiswerte Faxgerät vorgestellt. Im ersten Jahr verkauften die ungefähr 80 000 Stück. In den nächsten drei Jahren wurden immer mehr davon verkauft, vor allem an Geschäfte und Firmen. Das hätte jetzt noch nicht bedeutet, dass das Faxgerät ein klarer Erfolg ist. 1987 aber war der Punkt erreicht, an dem so viele Menschen oder Firmen in den USA ein Faxgerät besaßen, dass es auch für den Rest sinnvoll war, sich eins zuzulegen. Das funktioniert wie eine Wippe: Sie kippt ganz langsam von der einen auf die andere Seite – und irgendwann mittendrin ist sie plötzlich über den entscheidenden Punkt hinaus. Das ist der Tipping Point.

Es scheint aber zu dauern, bis der im Fall der grünen Ideen erreicht ist. Bräuchte das Thema noch mehr "Anwälte"?
Auf jeden Fall. In den USA wird Energiesparen zwar von verschiedenen Interessengruppen propagiert, aber die haben nicht die nötige Durchsetzungskraft. Natürlich gibt es die Reichen und Intellektuellen an der Ostküste, da findet es gerade jeder hip, Energie zu sparen und Hybrid-Autos zu kaufen. Aber wie überzeugen Sie die Leute im Mittleren Westen davon, dass etwas passieren muss?

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Bonos Absichten sind ehrenvoll, aber man weiß nie genau, wie gut er sich tatsächlich auskennt.")

Was ist mit Berühmtheiten wie Bono? Der Sänger der Band U2 nutzt seine Popularität, um alle möglichen wohltätigen Ideen voranzutreiben, von der Hilfe für die Dritte Welt bis zum Energiesparen. Ist der nicht ein Idealbeispiel für das, was Sie Anwalt nennen?
Nun ja, er tut, was er kann. Aber vor 25 Jahren hätte ein Star in dieser Position wohl sehr viel mehr Aufmerksamkeit erzeugt. Denken Sie daran, was in den USA los war, als sich Muhammad Ali kritisch über den Vietnamkrieg äußerte! Heute ist der Status von Prominenten viel schwächer, jeder ist ein bisschen berühmt für dies und jenes … Es gibt nicht den einen Star, der allein die Größe hätte, um ein Thema wie das Energiesparen voranzubringen.

Barack Obama ist zugleich politischer Entscheider und weltweit immens populär. Der könnte doch …
Nein! Der ist vollauf beschäftigt mit dem Thema Krankenver-
sicherung in den USA. Da hat er so viel Überzeugungsarbeit zu leisten, dass er nicht auch noch die Welt über andere Themen aufklären kann. Wie schwierig es ist, ein störrisches Land davon zu überzeugen, dass eine staatliche Krankenversicherung etwas Gutes ist, das können Sie sich in Deutschland vielleicht gar nicht vorstellen.

Was für Eigenschaften braucht der Anwalt einer Idee?
Er braucht ein großes soziales Netzwerk. Er muss seine Idee gut verkaufen können. Das Wichtigste aber ist: Er muss ein Kenner der Materie sein. Das ist vielleicht das Problem bei einer Figur wie Bono: Seine Absichten sind ehrenvoll, aber man weiß nie so genau, wie gut er sich tatsächlich in den Fragen auskennt, über die er spricht. In einer Welt, die immer komplexer wird, brauchen wir Experten, die sich in ihren Gebieten zu hundert Prozent auskennen.

Würden Sie Bono eher vertrauen, wenn er ein studierter Fachmann oder ein offizieller UNO-Beauftragter wäre?
Nein, die Experten müssen keine offiziellen Titel haben. Sehen Sie, vor hundert Jahren waren der Dorfarzt oder der Anwalt nebenan die Spezialisten. Sie waren gesellschaftlich anerkannt, ihr Titel belegte das. Heute ist das anders, heute kann der Spezialist vielleicht auch nur für eine ganz kleine Gruppe von Menschen bedeutend sein. Mein Spezialist zum Beispiel, wenn es um Computerfragen geht, ist mein Bruder. Ich – und eine ganze Reihe von Freunden – vertraue ihm, ich folge seinem Rat, aber er ist kein bekannter Mann mit einer offiziellen Position.

Kritiker werfen Ihnen vor, Sie selbst würden sich als Spezialist inszenieren, obwohl Sie auf Gebieten wie Soziologie oder Wirtschaft kein echter Experte sind.
Diese Kritik kommt aus der wissenschaftlichen Ecke und beruht meistens auf einem Missverständnis. Ich will ja gar nicht so tun, als sei ich ein Experte für irgendwas. Ich verstehe mich und meine Arbeit als eine Brücke zwischen der akademischen und der populären Welt. Ich versuche den Menschen bestimmte Ideen oder Theorien vorzustellen, auf die sie vielleicht von selbst nicht stoßen würden, die sie dann aber bitte gern auf eigene Faust weiter erkunden sollen. Ich habe nie behauptet, dass meine Arbeit wissenschaftlichen Anspruch hätte. Ich bin Journalist.

Es gibt auch Ideen, die ganz ohne Anwalt zum Erfolg werden, einfach, weil sie offensichtlich überzeugend sind.
Zum Beispiel?

Google. Warum wurde die Suchmaschine so viel erfolgreicher als alle anderen? Und das, obwohl es nie einen bekannten Menschen gab, der als Vermittler aufgetreten wäre?
Hm. Stimmt. Vielleicht könnte man sagen, das Dreipunktesystem, das ich vorhin beschrieben habe, funktioniert in Ausnahmefällen auch, wenn einer der drei Punkte wegfällt. Bei Google kamen die richtige Idee und das richtige Publikum zusammen: eine faszinierend einfache Suchmaschine – und Millionen von Menschen, die im Internet den Überblick verloren hatten, also nichts mehr herbeisehnten als ein Werkzeug, das die Komplexität des Ganzen reduziert. Wissen Sie, manchmal funktioniert eine gute Idee einfach wie ein Popsong.

Wie muss man sich das vorstellen?
Ein Popsong braucht keine gesellschaftliche Relevanz, er braucht keine idealen Umstände – er braucht nur eine gute Melodie, auch die könnte man einen hohen Verankerungsfaktor nennen. Der Song braucht keine Erklärung. Und so ist es manchmal auch mit hervorragenden Ideen. Google ist so einfach und so klar für jedermann, niemand musste sich mit dem Benutzer zusammen vor den Computer setzen und irgendwas erklären. In diesem Fall war das Geniale die totale Reduktion.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Was lief beim Klimagipfel falsch?)

Manchmal ist alles absolut klar, und trotzdem passiert nichts. Zum Beispiel beim Weltklimagipfel in Kopenhagen: Alle Entscheider waren da. Das wäre die Chance für die eine große Idee gewesen. Es kam nicht mal zu einer gemeinsamen Resolution. Was lief da falsch?
Ich glaube, es wäre zu viel verlangt gewesen, da große Entscheidungen zu erwarten. Das war erst mal ein Treffen, eine Gelegenheit, die gemeinsamen Absichten zu besprechen. Die Tatsache, dass all die Staatsoberhäupter an einem Ort zusammenkommen und die Fragen des Klimawandels überhaupt erörtern, muss man als Erfolg verbuchen.

Na ja, ein bisschen mehr hatte man sich da schon erwartet.
Noch mehr? Vor zwei Jahren wäre nicht mal dieses Treffen möglich gewesen! Wäre George W. Bush überhaupt hingefahren? Glaube ich nicht. Ich sage: Kopenhagen war ein Schritt vorwärts. Es gibt ein gemeinsames Ziel – jetzt kann nach konkreten Wegen gesucht werden, diesem Ziel näher zu kommen. Die entscheidenden Ideen entstehen sowieso in anderen Runden, in Fachgremien, in den Labors, an den Universitäten.

Könnte es nicht auch sein, dass die Bedrohung noch zu abstrakt wirkt, zu weit weg zu sein scheint? Der Mensch wartet eben immer bis zum Äußersten, bevor er sich entschließt, eine Idee umzusetzen.
Das ist ein entscheidendes Problem. Wir verlassen uns immer darauf, dass wir schon rechtzeitig handeln werden, wenn die Krise da ist. Wir müssten aber herausfinden, was wir tun können, bevor die Krise da ist. Bevor es zu spät ist für die grundlegenden Schritte. Das sehen wir ja an der Finanzkrise: Alles, was jetzt passiert, ist Kosmetik. Das System hätte schon lang vorher gründlich korrigiert werden müssen.

Aber wie soll das gehen? Es gibt, auch das hat die Finanzkrise gezeigt, keine verlässlichen Frühwarnsysteme für alles.
Genau dann sind eben die Anwälte gefragt, die rechtzeitig die richtige Perspektive durchsetzen. Ich komme noch einmal auf ein Beispiel aus Tipping Point zu sprechen: Der Silberschmied Paul Revere ritt in einer Nacht des Jahres 1775, kurz vor Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges, von Boston nach Lexington und verbreitete in jedem Ort die Nachricht, dass die Briten kommen. Alle hörten auf ihn, gaben die Nachricht weiter – und als die Briten am nächsten Tag kamen, stießen sie auf lauter Menschen, die ihre Waffen parat hatten und auf alles vorbereitet waren. Aber in derselben Nacht ritt auch ein anderer, kaum bekannter Mann los, um die Menschen zu warnen – aber niemand hörte auf ihn. Die Menschen nahmen ihn nicht ernst. Der Unterschied? Ich würde sagen, es lag an der Persönlichkeit der beiden Männer. Revere war einfach der bessere Verkäufer. Er war überzeugend. Der andere war es nicht.

Schöne Geschichte. Aber damit wissen wir jetzt immer noch nicht, was genau seinen Erfolg ausgemacht hat.
Nein, dazu hätten wir ihn wohl live erleben müssen. Aber mir ging es ja jetzt auch um das Beispiel im größeren Sinne.

Gibt es einen Unterschied zwischen den USA und den Ländern der EU, was den Umgang mit neuen Ideen angeht?
Oh ja. In den USA werden viele Entscheidungen nur von einzelnen Staaten vorangetrieben, das kann also bedeuten, dass Kalifornien beim Umweltschutz viel weiter ist als Oregon, dafür ist aber Kentucky viel weiter zurück in der Altenversorgung als Texas und so weiter. Das ist ein echter Nachteil – es gibt schließlich viele Ideen, die davon profitieren würden, dass eine einzelne politische Instanz sie durchsetzt. Glauben Sie mir, Zentralismus ist nicht das Schlechteste, wenn es um die Durchsetzung von guten Ideen geht.
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Der kanadische Journalist und Autor Malcolm Gladwell, 46, lebt in New York, seit 1996 schreibt er vor allem für das Magazin New Yorker. Zu seinen Bestsellern gehört Tipping Point, ein Buch, in dem sich Gladwell mit der Frage auseinandersetzt, wie aus einfachen Ideen "soziale Epidemien" entstehen; ein großer Erfolg war auch Überflieger, in dem er die Gründe für den Erfolg einzelner Stars und Wissenschaftler nachzeichnet. Mit seiner Mischung aus Fachwissen und unterhaltsamen Beispielen wurde Gladwell zu einem der höchstbezahlten Gastredner auf internationalen Wirtschaftskonferenzen.

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Manche Ideen, sagt Gladwell, funktionieren wie Popsongs. Umgekehrt orientieren sich manche Pop-Bands an Gladwell. Max Fellmann hat bei der Vorbereitung dieses Interviews öfter ein älteres Album der Hip-Hopper The Roots angehört: Es ist aus dem Jahr 2004 und heißt The Tipping Point – benannt nach Gladwells Bestseller.