Das haut nicht hin

Eine Bischöfin tritt wegen Trunkenheit zurück, Banker, die Milliarden verzockt haben, bleiben. Eine Polemik über unsere Gesellschaft, die die Moralkeule schwingt und doch alles erlaubt.


Du sollst kein Fleisch mehr essen, denn die Tierhaltung killt das Klima. Du sollst keinen Fisch mehr essen, denn die Weltmeere sind fast leer. Du sollst deinen SUV verschrotten, denn er ist ein Klimaschädling. Du sollst keine Produkte aus Kinderarbeit kaufen. Du sollst fair gehandelten Kaffee trinken. Du sollst dein Geld in ethische Fonds investieren. Du sollst Strom aus erneuerbaren Energien verwenden. Du sollst immer die weibliche Form mitsprechen. Du sollst nicht rauchen. Du sollst nicht rasen.

Das sind nicht die neuen Zehn Gebote, sondern nur zehn unter vielen. Jedes Revier hat seine Go- und No-go-Listen, und es wird gestritten über Lockerungen und Verschärfungen. So ist für die Veganer auch der Vegetarismus zu lasch, daher erlassen sie weitere Speiseverbote und konfrontieren jeden mit seinem CO2-Fußabdruck, der mitteilt, dass Selbstmord die tier- und klimafreundlichste Lösung wäre. Die Zeitschrift Test prüft nicht nur, wie gut ein Produkt seinen Zweck erfüllt, auch die Umwelteigenschaften bewertet sie, neuerdings sogar das soziale Engagement der Hersteller. In der Märzausgabe wurden Digitalkameras auch auf »Corporate Social Responsibility« (CSR) getestet. Casio und Samsung bekamen das Attest »engagiert«. Bei Sony erkannten die Tester nur »bescheidene Ansätze«. Die Brigitte verzichtet seit Beginn des Jahres auf die Dienste der Mager-Models, weil immer mehr Jugendliche unter Magersucht und Bulimie leiden. Was die Frage wachruft: Könnten gewisse Medien nicht auch auf die Dienste von Dieter Bohlen verzichten? Braucht man Michael Schumacher noch, der sinnlos im Kreis herumfährt?

Und, anderes Revier: Kann man noch Urlaub machen in der Schweiz, wo das Bankgeheimnis Dealer und Betrüger schützt? Sollte nicht auch Kärnten mit seinen Rechtsradikalen und der Haider-Huldigung weiträumig umfahren werden, und erst recht Italien mit seinen Faschisten, Mussolini-Verehrern und Herrn Berlusconi? Man fände viele No-go-Areas auf der Welt.

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Würde die Welt davon besser?

Nein, nur freudloser, sagen die Liberalen, und hauen jedem Moralisten die Keule »Gutmensch« auf den Schädel, was aber gar nicht nötig wäre, denn die Bösmenschen haben eh gewonnen. Ein Meilenstein auf ihrer Siegerstraße war vor zehn Jahren der Ausgang der Schlacht um die RTL-Sendung Big Brother. Politiker, Bischöfe, Leitartikler schrien auf, der Bundesinnenminister wertete die Show als Anschlag auf die Menschenwürde, sah sich jedoch außerstande, den Anschlag zu verhindern.


In den Talkshows sagte der Produzent der Sendung, John de Mol, dass man fälschlich geglaubt habe, die Grenzen im Fernsehen bereits erreicht zu haben. Big Brother aber beweise, »dass die Grenzen noch lange nicht erreicht sind«. Danach richtete man sich in den neuen Grenzgebieten ein, und im Container erschien eines Tages Guido Westerwelle.

Damit begann der grenzüberschreitende Anything-goes-Liberalismus.

Big Brother läuft noch immer, und inzwischen haben wir zahlreiche andere Anschläge auf Würde, Anstand und Geschmack überstanden, weil wir mittels Salamitaktik daran gewöhnt wurden und im Internet sowieso alles noch schlimmer ist. Aber wenn man uns 1984 die ganze Wurst am Stück gezeigt hätte – hätten wir das Privatfernsehen dann gewollt?

Das scheibchenweise Verschieben der Grenzen durch die Salamitaktiker macht vielen Angst, denn inzwischen geht es nicht mehr nur um die Grenzen des Erlaubten in den Medien, sondern auch um die Grenzen des Ökonomischen in der Welt, um Lohn-Untergrenzen, Gehalts-Obergrenzen, Grenzen des Wachstums, der Spekulation, der Ausbeutung von Mensch und Tier, der Gentechnik, der Medizin, des Datensammelns …

Menschen brauchen also Grenzen, aber darauf müssen sie sich erst mal einigen. Das gelang einigermaßen gut, als es noch Milieus mit gemeinsamen Überzeugungen gab. Seit sich aber pluralistische zu multiethnischen Individualisten-Gesellschaften entwickeln, wird es immer schwieriger, Mehrheiten für verbindliche Normen zu finden. Schon innerhalb privater Beziehungen differieren die Wertvorstellungen. Sie differieren erst recht, wenn es darum geht, sich auf international gültige Normen zu einigen. Viele Einigungen unterbleiben ganz, mangels Mehrheit und mangels Durchsetzbarkeit.

Die letzte schwere Sünde, auf die sich unsere Gesellschaft noch zu fast hundert Prozent einigen kann, ist der sexuelle Missbrauch von Kindern. Niemand weiß, wie lang der Konsens noch halten wird, und im großen Rest des Reichs von Gut und Böse herrscht längst das Chaos.

Das Ergebnis ist moralisches Lavieren. Ein bisschen moralisch ist fast noch jeder, vor allem dort, wo es ihn nichts kostet, und im Privatleben. Im Business agiert der Profi, da zählt der Erfolg. Moral hat dort nur dann ein Recht, wenn sie den Erfolg nicht gefährdet oder ihm dient. Fairness, beispielsweise, ist im Sport etwas für den Amateur. Für den Profi gelten andere Gesetze. Jedes »taktische Foul« im Profi-Fußball kündet davon. Und jede Ausgabe von Bild und Bunte erzählt, dass nicht Moral ihre Macher leitet, sondern Professionalität.

Professionelle aller Länder bestimmen den Lauf der Welt, und der Bürger spürt, dass nicht mehr er es ist, der über demokratische Verfahren regelt, wie er in seiner Heimat leben und arbeiten darf. Das regelt sich im globalen Industrie-Standort durch das scheinbar ungesteuerte Tun der Profis über den Kopf des Einzelnen hinweg von selbst. Nur noch eine letzte äußerste Grenze gibt es, an der sich entscheidet, was geht und was nicht, und das ist keine moralische, sondern die ökonomische. Diese steuert die Akteure – mit dem Ergebnis, dass gemacht wird, was sich rechnet. Was sich nicht rechnet, unterbleibt.

Der Protest gegen diese Weltherrschaft des analen Charakters gebiert die vielen oppositionellen Kleingruppen und NGOs, Moralisten-Bewegungen, welche mit immer neuen Ge- und Verboten der marktgesteuerten Bestie Herr zu werden versuchen. Ebenfalls wächst daraus das Verlangen des Einzelnen nach Orientierung, wofür er aber Ethik, Philosophie und Theologie studieren müsste. Leichter geht es mithilfe der People-Magazine, die genau für diesen Zweck erfunden wurden, wie wir gerade eben erfahren haben.

Die Bunte hatte Politiker bespitzeln lassen, und die  Bunte-Chefin Patricia Riekel verteidigte diese Grenzüberschreitung als Dienst an der Demokratie. Personen des öffentlichen Lebens seien »Leitfiguren unseres Wertesystems«, darum wirke sich deren privates Verhalten auf die »Moral der Gesellschaft« aus.
Sie hat recht. Wir brauchen für alles einen Papst, fürs Kochen, die Literatur, die Fitness, und fürs Leben an sich hält man sich an die Prominenten.

Von ihnen möchte das Volk wissen: Wie wohnst du, wie kleidest du dich, was machen deine Kinder? Wie hältst du’s mit der ehelichen Treue, der Steuerehrlichkeit, den Schicksalsschlägen, dem Krebs? Von der Antwort leben Bild, Bunte und der Boulevard. Aber ihr eigentliches Geschäft erblüht, wenn ihr Leitpersonal gegen die Leitplanke rauscht, ins Fettnäpfchen tritt, in die Besenkammer gerät. Dann mutiert die Leit- zur Leidfigur, wie jüngst die Päpstin der Evangelischen, Margot Käßmann, als sie betrunken bei Rot über die Ampel fuhr.

Die Prominenten dieser Welt bekommen gerade dadurch, dass dauernd über sie berichtet wird, tatsächlich Leitbildfunktion. So verändert jede Trunkenheitsfahrt, jeder Ehebruch, jeder Bordellbesuch eines Prominenten die Moral der Gesellschaft. Wenn oben nach dem Prinzip anything goes verfahren wird, wird es kurze Zeit später unten genauso gemacht. Insofern ist es nicht falsch, wenn die Bunte-Chefin Patricia Riekel den alten 68er-Spruch »das Private ist politisch« reaktiviert. Dass sich daraus kein Recht auf Total-Überwachung ihres Promi-Zoos ableiten lässt, weiß sie selbst.

Das Recht jedoch, den Widerspruch zwischen den familienpolitischen Leitsätzen der CSU und dem unehelichen Kind des CSU-Vorsitzenden zu thematisieren, hat sie. Über die Form kann man streiten, und dass man dabei meist der Anything-goes-Regel folgt, entspricht dem Geist der Zeit. Und bedauerlich ist die Fixierung der People-Magazine auf solche Geschichten wie die über den heimlichen Zeitvertreib des Bill Clinton mit seiner Praktikantin. Darüber wird dann stets vergessen, dass die frommen Herren Bush und Cheney ganz offen weit Schlimmeres angerichtet haben.

Dieses Vergessen verrückt die Maßstäbe, so wie es auch jetzt wieder geschehen ist im Fall der betrunkenen Bischöfin. Ihr Versagen erscheint groß, wie immer, wenn Prediger des Wassers beim heimlichen Weintrinken ertappt werden. Der Fall schrumpft jedoch auf Zwergen-Niveau, wenn man ihn vor dem Hintergrund jener Zocker betrachtet, die uns, unsere Kinder und Enkel in Geiselhaft genommen haben, um ihre milliardenschweren Wettschulden zu begleichen. Und niemand schreitet ein, niemand tritt zurück, es erscheint kein Staatsanwalt. Im Gegenteil. Schon wieder wird auf Steuerzahlers Kosten gezockt.

Wieder anders ist die Dimension im Fall der Klosterschul-Skandale. Wer bis vor Kurzem noch gewillt war, in der Kirche so etwas wie eine letzte moralische Instanz zu sehen, sieht jetzt nicht mehr viel davon. Die Reaktion der Kirche auf diesen dramatischen Schlag gegen ihre Rest-Glaubwürdigkeit kann daher nur dramatisch sein. Eine Null-Toleranz-Politik gegen Kinderschänder reicht nicht, denn sie ist selbstverständlich und kommt zu spät. Auch Entschädigungszahlungen an Opfer können die einstürzenden Kirchenmauern nicht wieder aufrichten.

Daher ist jetzt der vermutlich letzte Zeitpunkt für die große, längst fällige Korrektur der katholischen Kirche gekommen, eine Korrektur, für die ihr wahrscheinlich die Kraft fehlen wird: Weg mit dem Zölibat, dem Verbot weiblicher Priester, dem Pillenverbot. Alle drei sind Ausfluss einer neuro-
tischen Fixierung auf den weiblichen Schoß und stehen, wie die ganze kirchliche Dogmatik, auf tönernen Füßen. Auch mit der Anbetung der übrigen katholischen Götzen – Tradition, Rein-heit der Lehre, Verbot gemeinsamer Abendmahle zwischen Katholiken und Protestanten – könnte man aufhören.

Es wäre der Abschied von jener dogmatischen Halsstarrigkeit, die schon Jesus bei den Pharisäern bekämpfte. Es wäre ein Signal an die Welt, das mitteilen würde: Wir leben noch. Wir bewegen uns.

Danach könnte das Kirchenschiff eingenordet werden auf den ursprünglichen Pol und den Haltlosen wieder Halt bieten. Man findet diesen Pol in den Exodus- und Sinai-Geschichten des Alten Testaments, und diese zeigen Gott nicht als Dogmatiker, auch nicht als Moralapostel und Tugendwächter, sondern als Politiker. Es ging ihm um eine gerechte Welt.

Moral war nie intendiert im Volk Gottes.

Dessen Führungspersonal war zumeist das Gegenteil von tugendhaft. Jakob war ein Schwindler, Mose ein Totschläger, Petrus ein Verräter und David ein Schuft, der einen seiner Hauptleute in den Tod geschickt hat, weil er dessen Frau wollte. Aber keiner wurde in die Wüste geschickt. Alle werden sie noch heute verehrt, denn Sünder sind wir sowieso, und worauf es ankommt, ist der Glaube, ein Glaube, der sich in der Welt als gerechte Sozialordnung manifestieren muss.

Ändert euer Herz und kümmert euch umeinander, lautete das ursprüngliche Gebot. Es darf keinen Armen unter euch geben. Sklaverei auch nicht. Witwen und Waisen sollt ihr beschützen. Wer reich ist, stelle seinen Reichtum zur Verfügung. Das Ziel jeglicher Bildung in unserem Kulturkreis bis auf den heutigen Tag wurde in diesen Geschichten formuliert: eine innere Haltung zu entwickeln, die keines äußeren Korsetts mehr bedarf und darum ohne Kontrolle, Drohung, Strafe, Polizei, Richter und Militär auskommt.

Das hat damals nicht geklappt, nicht zu Jesu Zeiten, und wenn er heute wiederkäme, würde er sagen: Ihr seid keinen Schritt weiter als ich damals. Zwar habt ihr jetzt die Demokratie, aber das ist ja nur ein Verfahren, den Kampf aller gegen alle gewaltfrei und nach Regeln zu organisieren. Eines jedoch vermag auch der perfekteste Rechtsstaat nicht: Er kann nicht das menschliche Herz ändern. In seinem Innersten bleibt der Mensch unveränderlich jener alte Affe, der genau den archaischen Selbsterhaltungsinstinkten gehorcht, denen er sein Überleben verdankt, und wenn dieser Affe Mittel und Wege findet, seine Interessen ungestraft am Rechtsstaat und an der Demokratie vorbei durchzusetzen, wird er sie durchsetzen.


Diese Tendenz versuchen Demokratien durch immer neue Gesetze zu bekämpfen. Aber das Ergebnis ist nicht Gerechtigkeit, sondern Bürokratie.
Es gibt keine neuen Lösungen dieses alten Problems, es gibt nur die Möglichkeit, es mit den beiden alten Lösungen neu zu versuchen, die wir seit Jahrtausenden haben, die antik-griechische und die antik-jüdische.

Die griechische Lösung lautet: Findet das richtige Maß zwischen anything goes und moralischem Rigorismus, rechnet mit Irrtümern, und verhaltet euch daher stets so, dass Irrtümer korrigierbar bleiben. Die jüdische Lösung heißt: Exodus. Raus aus Ägypten, denn das zu Pyramiden versteinerte System ist am Ende. Keine Reform, keine Revolution wird es noch retten. Es wird an sich selbst zugrunde gehen. Darum flieht, zieht in ein »Gelobtes Land«, in dem andere Gesetze gelten als im ägyptischen Sklavenhaus.

Auf die Gegenwart übertragen heißt das: Ihr Kritiker des zu Banktürmen versteinerten Systems zieht aus. Hört auf zu moralisieren. Niemand hindert euch, einen anderen menschlichen Umgang miteinander zu pflegen, ökosoziale, regionale Wirtschaftssysteme aufzubauen und euch global zu vernetzen. Ersinnt nicht dauernd neue Ge- und Verbote, realisiert einfach eure Vorstellungen von einer besseren Welt.

Für die alte Überzeugungsgemeinschaft der Christen gilt das Diktum Gilbert Chestertons: »Sie sagen, dass das Christentum versagt hat. Ich sage, dass es noch gar nicht versucht worden ist.«

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Christian Nürnberger, 59, kann mit der aktuellen Moraldiskussion auch deshalb so wenig anfangen, weil er irgendwann im Laufe seines Lebens erkannt hat: Die Welt ist, wie sie ist, weil ich bin, wie ich bin. Seither hat er mit sich und der Welt seinen Frieden geschlossen.

Illustration: Dirk Schmidt