Kein schøner Land

Norwegen ist besser, moderner, lebenswerter als jeder andere Staat der Welt, sagen die Statistiken. Also das Paradies?

Kann man über Norwegen schreiben, ohne auf die Wikinger einzugehen? Also bringen wir es gleich hinter uns: Da wäre zum Beispiel Walhall, die himmlische Wohnstätte des Gottes Odin in der nordischen Mythologie. Dorthin gelangt nur, wer in ehrenhaftem Kampf gefallen ist. In Walhall wird immerfort gekämpft, den ganzen Tag. Am Abend wartet das Festmahl: ein Eber. Er heißt »Sährimnir«, und das Gute an Sährimnir ist, dass er am Morgen nach dem Festmahl wieder aufersteht. Jeden Tag aufs Neue. Ein Jahrtausend nach der Christianisierung Norwegens ist dieser Mythos zur Wirklichkeit geworden. Gemäß dem »Sährimnir-Prinzip« fließen heute vier Prozent des staatlichen Ölfonds in den Haushalt von Norwegen und stärken vor allem den Sozialstaat. Der Fonds gründet auf den Einnahmen, die der norwegische Staat seit den Sechzigerjahren aus der Öl- und Gasgewinnung bezieht. Im März dieses Jahres enthielt er rund 360 Milliarden Euro, das entspricht 74 600 Euro pro Einwohner. Das Geld wird weltweit angelegt, um ein Polster zu schaffen für die Zeit, in der Öl keine Rolle mehr spielen wird. Es ist eine Ewigkeitsmaschine, wie der Eber Sährimnir, der immer wieder aufersteht – jedenfalls solange die Weltwirtschaft nicht ärger gegen die Wand fährt als 2008. Damals büßte der Fonds 81 Milliarden Euro ein – zu viel Geld war im Ausland verspekuliert worden, etwa bei der US-Investmentbank Lehman Brothers.

Trotz dieser kleinen Delle belegt Norwegen auch im aktuellen Human Development Index der Vereinten Nationen wieder Platz eins, bereits zum fünften Mal hintereinander. In keinem Land der Welt ist das Gesamtpaket aus hoher Lebenserwartung, Bildungsniveau und Kaufkraft so bestechend. Ganz zu schweigen von der majestätischen Schönheit der Fjorde. Was macht dieses Land aus, das reich ist, ohne zu protzen, das dünn besiedelt ist, aber fortschrittlicher als der Rest der Welt, in dem sich niemand ernsthaft um seine Zukunft sorgen muss? Und dessen Vertreter beim letzten Eurovision Song Contest, Alexander Rybak, seine Konkurrenz düpierte und mit größerem Abstand den Grand Prix gewann als jeder Sieger vor ihm? Ist es wirklich nur das Öl?

Meistgelesen diese Woche:

Maria Reinertsen, Wirtschaftsjournalistin bei der Wochenzeitschrift Morgenbladet, hat vor Kurzem das Buch Die Glücksformel veröffentlicht. »Das Öl hilft«, sagt sie. »Es macht aus einem der besten Länder der Welt das beste überhaupt. Wir brauchen keine unangenehmen Entscheidungen zu treffen, wie zum Beispiel Schweden oder Dänemark, wo Sparmaßnahmen zu schmerzhaften Einschnitten im sozialen Netz geführt haben.«

Darüber hinaus sieht Reinertsen die Ursache für das norwegische Erfolgsmodell in einer Art Allianz von Arm und Reich gegen die Mittelschicht, einer stillschweigenden Übereinkunft, die Mittelschicht am stärksten zu belasten, um die Abgaben für Unter- und Oberschicht gering zu halten. »Das führt im Ergebnis zu höheren Löhnen für die Unterschicht, was gut ist für den sozialen Frieden, und zu mehr Investitionsbereitschaft aufseiten der Reichen, was langfristig dem Wirtschaftswachstum dient. Der Schlüssel jedoch ist, dass der Staat in die Bereiche investiert, die bei internationalen Rankings eine hohe Punktzahl erbringen: Gesundheit, Ausbildung, Arbeitsmarkt. Dafür können wir nicht mit Palästen, Kriegszügen oder Universitäten von Weltrang prunken.«

Als Expansionsmacht kann Norwegen aber durchaus brillieren. Das Land ist heute dreimal so groß wie vor vierzig Jahren, und dafür war kein Krieg nötig. Bereits 1976 setzte Norwegen am grünen Tisch eine Erweiterung seines Wirtschaftsraums auf 200 Seemeilen jenseits der Küste durch – das Gebiet, das für seinen enormen Reichtum an Öl, Gas und Fischen bekannt ist. Im April dieses Jahres fanden die Verhandlungen mit Russland über die neue Grenze in der Barentssee ein Ende – sehr zur Zufriedenheit der norwegischen Delegation.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite, in welchen Bereichen die Norweger die Nase vorn haben und warum die Einwohner dennoch so gern nörgeln.)

Neben den nackten Fakten, die Norwegen immer wieder auf die ersten Plätze internationaler Rankings katapultieren, sieht der Philosoph Lars Fr. H. Svendsen noch andere Gründe für Norwegens hohe Lebensqualität: »Wir erreichen ein himmelhohes Niveau an sozialem Vertrauen, derzeit sogar das weltweit höchste. Das heißt, dass wir unsere Mitmenschen von Grund auf für vertrauenswürdig halten, und das macht das Dasein natürlich leichter.« Dazu gehört ein Maß an Offenheit und Transparenz, das in anderen Ländern sofort zu sozialen Unruhen führen würde: Jedes Jahr veröffentlichen alle norwegischen Bürger ihre Einkünfte und Vermögenswerte, ohne groß zu murren, in der skattelister, der Steuerliste im Internet.

Eine zentrale Rolle in der norwegischen Politik spielt die Gleichheit der Geschlechter. Auf der Rangliste des Weltwirtschaftsforums liegt Norwegen auf Platz zwei nach Schweden. Anniken Huitfeldt, die norwegische Kulturministerin, weiß auch, warum: »Es ist uns gelungen, Frauen in die Berufe zu bringen und gleichzeitig, dank großzügiger Möglichkeiten des Mutterschaftsurlaubs, die Geburtenzahlen hoch zu halten. Jetzt liegen wir in Europa ganz oben. Selbst aus Japan kommen Delegationen, die wissen wollen, wie uns dieses Kunststück gelingt – obwohl doch so viele Frauen hierzulande arbeiten.« Hinter dem Erfolg steht eine Frauenpolitik, die etwa in Deutschland kaum durchzusetzen wäre: eine verbindliche Frauenquote von vierzig Prozent in der Wirtschaft, langer Erziehungsurlaub auch für Väter und Hilfe beim Wiedereinstieg im Beruf nach der Elternzeit.

Noch ein Rekord gefällig? Kein Volk der Welt fliegt so viel wie die Norweger. Eine Zeit lang gab es zwischen den norwegischen Städten Oslo und Trondheim (potenzielle Fluggäste: 740 000) mehr Flüge als zwischen London und Paris. Glück ist offenbar auch, sich anderswo zu befinden als zu Hause. Manche unter den Vielfliegern fliehen vor dem Klima – dunkle, lange Winter, feuchte, mückenverseuchte Sommer –, andere vor der staatlichen Alkoholpolitik, die in ihrer Strenge durchaus einem Totalverbot gleichkommt.

Dem schlechten Wetter und den Gesetzen ihres Landes können die Norweger vielleicht entfliehen, nicht jedoch ihrem eigenen Gemüt – und das ist vielleicht die größte Hürde auf dem Weg zur uneingeschränkten Glückseligkeit: Denn trotz Ölsegens und nahezu Vollbeschäftigung (die Arbeitslosenquote liegt derzeit bei 2,6 Prozent), trotz einer Kultur der Transparenz und geringer Einkommensunterschiede, trotz Frauenquote und einem historischen Grand-Prix-Gewinner – trotz alledem können die Norweger die neidischen Blicke der Welt auf ihr Land nicht wirklich nachvollziehen. Der Norweger jammert gern, etwa über Steuern und Abgaben, die kaum gesunken sind, seit das Land zu Reichtum gelangte. Die immer sprudelnden Öl-Milliarden wecken eben auch Begehrlichkeiten.

Gerade spaltet die Beschränkung, Jahr für Jahr nur vier Prozent aus dem Ölfonds abzuschöpfen, das ganze Land. Zu verlockend ist die Aussicht, einfach mehr Geld zu entnehmen, um dringende Probleme zu lösen: Zum Beispiel fragen sich viele Norweger, warum ihre Straßen mit Schlaglöchern übersät sind, warum es lange Wartezeiten für jegliche Art ärztlicher Behandlung gibt, warum viele junge Familien einfach keinen Kindergartenplatz finden und warum die Schulen so schlecht ausgestattet sind. Doch so groß scheint der Leidensdruck der glücklichen Norweger nicht zu sein, denn die norwegische Fortschrittspartei, die genau diesen Fragen eine Stimme gab, wurde nicht erhört. Bei den Wahlen im vergangenen Herbst siegte wie schon zuvor Rot-Rot-Grün.

(Dass auch Norwegens artigster Minister nicht unfehlbar ist und warum der Schrifsteller im fabelhaften Norwegen der eigentlich Benachteiligte ist, lesen Sie auf der nächsten Seite.)

Auf der Grafik sehen Sie die Ölförderung in Barrel pro Tag: Norwegen: 2 466 000 (schwarz), Deutschland: 150 8000 (rosa) und Griechenland: 4891 (weiß).

Die Begehrlichkeiten enden übrigens nicht an den Grenzen des Landes, wie der Fall von Joshua French und Tjostolv Moland zeigt, der im vorigen Sommer die Medien bewegte. Die zwei jungen Norweger waren im Kongo verhaftet und vor Gericht gestellt worden. Die Anklage lautete auf vorsätzlichen Mord. Den beiden, die im vielleicht gefährlichsten Land der Welt Söldner und Sicherheitsexperten gespielt hatten, wurde zur Last gelegt, sie hätten ihren einheimischen Chauffeur ermordet. Der Prozess endete mit dem Todesurteil für beide. Das Urteil wurde inzwischen aufgehoben, die zwei sitzen aber noch immer in Kisangani im Gefängnis und warten auf den neuen Prozess.

Anfang des Jahres kam nun heraus, dass ein norwegischer Diplomat kongolesische Beamte bestochen hatte, um Zugang zu den Prozessunterlagen zu erlangen. Davon wiederum zeigten sich die Behörden im Kongo wenig erfreut: Fortan galten French und Moland als norwegische Spione, die Rechnung folgte prompt: Als Wiedergutmachung sollte Norwegen dem Kongo 350 Milliarden Euro bezahlen – das ist fast so viel Geld, wie der Ölfonds enthält.

Auch die viel gerühmte norwegische Gleichheitsideologie treibt mitunter seltsame Blüten. Nehmen wir den tüchtigen Außenminister der Sozialdemokraten, Jonas Gahr Støre. Sein Problem besteht darin, dass er nicht nur vermögend ist, sondern auch noch an der französischen Eliteuniversität Institut d’ètudes politiques de Paris studiert hat und fließend Französisch spricht. Seine Landsleute empfinden ihn deshalb als snobistisch; in Norwegen wird von Volksvertretern Volkstümlichkeit verlangt.

Im vergangenen Sommer waren der Verfasser dieser Zeilen und Støre zu Gast in einer typischen lockeren »Sommershow«, die unter freiem Himmel aufgenommen wurde. Gegen Ende der Sendung wurden uns frisch gegrillte Seekrebse in Knoblauchbutter serviert, und natürlich wandte das Gespräch sich französischer Küche und französischem Wein zu, mit denen Støre sich bestens auskennt.

Und da ließ ich die Bombe hochgehen. Meine Liebste, erzählte ich dem Fernsehpublikum, hatte Støre in einem Supermarkt beobachtet, mit einer Pizza Grandiosa unter dem Arm (das ist ein grausiges Fertigprodukt, belegt mit Schlachtabfällen und Käseimitat, das es auf unerfindliche Weise zu Norwegens neuem Nationalgericht gebracht hat). Sofort schob der Minister die Schuld den Kindern zu, aber dann strahlte aus seinen Augen plötzlich das Licht der Erkenntnis. »Es schmeckt so gut!«, sagte er. Voilà! So bekam der Snob die Möglichkeit geschenkt, zu demonstrieren, dass er Müll verzehrt wie alle anderen. Dieses Kunststück hat er seither bei anderen Gelegenheiten wiederholt. Im Herbst 2009 wurde gewählt und Støre landete als Vertreter der Sozialdemokraten in der Regierung. Aber das hat er natürlich nicht nur mir zu verdanken.

Man könnte also meinen, dass im Land des Glücks nur einer leidet: der Schriftsteller. Womit soll er seine Seiten füllen, wenn doch alles so großartig ist? Aber auch dieses Problem löst sich in der Praxis wie von selbst: Kurioserweise schaffen es gerade die norwegischen Kriminalromane regelmäßig auf die internationalen Bestsellerlisten, obwohl in den Büchern viel mehr Menschen umgebracht werden als in Wirklichkeit (wir haben pro 1000 Einwohner 0.0106684 Morde, also etwa 50 pro Jahr).

Noch kurioser: Norwegens große literarische Sensation des vergangenen Jahres ist ein autobiografischer Roman in sechs Bänden, insgesamt 2500 Seiten lang, verfasst von einem 41-Jährigen, der noch nicht einmal seine zweite Scheidung hinter sich gebracht hat. Unter dem unappetitlichen Titel Mein Kampf schildert Karl Ove Knausgård seine unsäglichen Leiden als heranwachsender Künstler im besten Land der Welt. Ja, wir Norweger sind schon glückliche Menschen, vor allem dann, wenn wir jammern dürfen.

Fotos: Damian Heinisch, Corey Arnold, Gary John Norman