Mio, meine Mio

Was ist nur aus der Million geworden? Schulden, Etats, Steuern - alles wird nur noch in Milliarden berechnet. Abschied von einer Summe, die für viel mehr steht als nur sechs Nullen.

Irgendwann war die Million einfach weg. In den Nachrichten geht es jetzt ständig um Milliarden. Mindestens. Angela Merkel fordert zwölf Milliarden für Forschung und Bildung. Die Ölpest verursacht Schäden in Höhe von 14 Milliarden Dollar. Die Kommunen machen 15 Milliarden Euro Schulden. Und dann gründet die EU auch noch einen Euro-Sicherungsfonds über 750 Milliarden.

Unter der Milliarde machen sie es nicht mehr. Und »Million«, das klingt auf einmal wie eine Größenordnung aus anderen Zeitaltern. Es ist wie in der Agentenkomödie Austin Powers: Da kommt ein Bösewicht nach 30 Jahren im Exil zurück, droht, die Welt zu vernichten, und fordert von den versammelten Staatschefs mit dramatischer Geste eine Million Dollar. Die Staatschefs lachen sich kaputt. Die Million ist passé. Dabei hatte sie mal einen ganz eigenen Glanz. Sie war so etwas wie die Summe aller Utopien, fast märchenhaft. Wenn es einen Slogan gab, der die Träume des kapitalistischen Jahrhunderts auf den Punkt brachte, dann lautete er: Vom Tellerwäscher zum Millionär. Die Million, das war die magische Grenze, nicht 100 000 Mark, nicht 500 000 Dollar, das Ziel war ganz klar die Eins mit den sechs Nullen. Im wahren Leben kam sie ja praktisch nicht vor, nur in der Welt der Politiker und Großindustriellen, hinter verschlossenen Türen. Staatsetats wurden in Millionen berechnet, Entwicklungshilfe, Schulden, Kino-Einspielergebnisse, Plattenverkäufe.

Heute kommt einem die Million fast niedlich vor. Da liest man, dass die Stadt München knapp zwei Millionen Euro für eine Kampagne zur Förderung des Fahrradfahrens ausgibt, und man denkt, na, wenigstens verballern sie nicht so viel Geld. Gefühlte Inflation. Wenn die Nachrichten nur aus Milliarden bestehen, wirkt sogar der Titel von Deutschlands beliebtester Quizsendung veraltet. Wer Millionär wird? Gegenfrage: Wen kümmert’s? Ist es nicht sowieso ein Witz, dass die Antwort jedes Mal selbst im Studio sitzt – auf dem rechten Stuhl?

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Und die sogenannten Fachleute haben längst den Überblick verloren. Gerade erst gab es an der Wall Street ein riesiges Chaos, der Grund: Ein Broker sollte beim Eingeben eines Verkaufsauftrags die Taste für Millionen drücken, drückte aber die Taste für Milliarden. Offiziell hieß es, ein Versehen, aber wahrscheinlicher ist, dass der Mann dachte, eine Million, kann nicht sein, in so lächerlichen Dimensionen rechnen wir doch schon lang nicht mehr.

Kein Wunder, dass die Verwirrung wächst. Der Gießener Mathematiker Albrecht Beutelspacher sagt: »Wir Menschen sind einfach nicht dafür gemacht, uns so große Zahlen vorzustellen.« Und je höher die Summen in den Nachrichten werden, umso mehr verlieren wir den Bezug dazu. »Wenn wir erst über Billionen reden und dann über Millionen«, sagt Beutelspacher, »dann ist das wirklich extremes Kleingeld.« Also: Die deutsche Staatsverschuldung beträgt im Augenblick mehr als 1,5 Billionen Euro, das ist eine Million mal eine Million plus 500000-mal eine Million. So absurd viel, dass es einen auch nicht mehr wundert, wenn die Kanzlerin mit leichter Hand die Milliarden lockermacht. Wahrscheinlich kann sie sich das eben alles auch nicht mehr richtig vorstellen. Monopoly-Geld. Lire.

Der amerikanische Öl-Tycoon John Paul Getty hat gesagt: »Reich ist man erst dann, wenn man sich bei der Bilanz um einige Millionen Dollar irren kann, ohne dass es auffällt.« So schön großspurig klang das 20. Jahrhundert. Aber jetzt sieht es so aus, als würde sich der kapitalistische Traum dramatisch verändern, und was dabei herauskommt, kann noch keiner sagen. An den Börsen drehen sie durch, Josef Ackermann sieht schwarz, Deutschland schiebt bald Dagobert’sche Fantastilliarden hin und her. Verständlich, dass jetzt immer häufiger gefordert wird, man müsse endlich zu den wahren Werten zurückfinden – wie wär’s für den Anfang mit dem Wert »1 000 000«?