Seien Sie anspruchsvoll

Wann werden deutsche Männer endlich verstehen, dass Kleidung nicht nur praktisch sein soll, sondern Ausdruck kultureller Identität? Eine Aufforderung zum Umdenken.

Ein Satz bringt Stilbewusstsein in Deutschland auf den Punkt: Die Schuhe sind zwar nicht schön, aber so praktisch. Nie, nie, nie würde ein Italiener so einen Satz sagen. Es ist ihm vollkommen egal, ob ein Schuh mit Klettverschlüssen schneller verschließbar ist; ein Schuh muss schön sein, am besten handgenäht, und er muss die soziale Stellung des Trägers aufpolieren. Es fängt schon damit an, dass Mode in Deutschland DOB – Damenober-bekleidung – oder HAKA – Herrenanzüge und Knabenanzüge – heißt. Und so wie diese Namen klingen, sehen die Menschen in deutschen Fußgängerzonen aus: sportlich, funktional, bodenständig. In Bequemschuhen, Windjacken und Jeans bewegt sich hier eine uniforme Masse, die vor allem eines nicht will: auffallen – oder den Eindruck erwecken, sie würde ihre äußere Erscheinung wichtig nehmen. Diese Mischung aus Unbeholfenheit und betonter Wurschtigkeit hat seltsame deutsche Modephänomene hervorgebracht: die Anzughose, die viel zu lang ist und sich wie eine Ziehharmonika auf den Schuhen schoppt. Oder das Rippunterhemd, das sich unter dem zu dünnen Oberhemd abzeichnet.

Mode ist eine Sprache, und jeder kommuniziert über seine Kleidung, ob er will oder nicht – das ist vielen Deutschen nicht bewusst. Spricht man sie darauf an, sagen sie: »Mode ist mir egal, ich habe es nicht nötig, mich danach zu richten.« Und so sehen sie dann leider auch aus. »Man kann nicht nicht kommunizieren«, sagte der Soziologe Paul Watzlawick einmal. Auch wer mit ausgebeulten Knien und Hosentaschen herumläuft, wer praktisch und aussagelos aussehen will, signalisiert damit etwas: Wie ich aussehe, ist mir gleich, ich wehre mich gegen den Kommerz.

Eine Nichtmode als Auflehnung gegen äußere Konventionen und Verschwendung; das hat in Deutschland eine sehr lange Tradition und gilt immer noch unterschwellig als Tugend. Die Literaturwissenschaftlerin und Modeexpertin Barbara Vinken erklärt es so: »Für den Adel war es immer wichtig, durch Kleidung zu repräsentieren, anders zu sein – am Hof herrschte eine auf das Erscheinungsbild konzentrierte Kultur. In Deutschland hat das Bildungsbürgertum gegen diese Hofkultur rebelliert und sich bewusst anders gekleidet.« In Frankreich, England und Italien dagegen habe das Bildungsbürgertum die Hofkultur nicht kleingekriegt, es habe sich weiterhin modisch nach dem Hof gerichtet, das Bürgertum in Deutschland dagegen emanzipierte sich und triumphierte.

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Auch darum haben die Deutschen ein gestörtes Verhältnis zur Mode. Sie sehen Kleidung als »Anziehsachen«, nicht als Teil der Kultur. »In Deutschland ist High Fashion nicht wie in anderen Ländern ein kulturelles Gut«, sagt der deutsche Modedesigner Dirk Schönberger. »Wir haben eher eine Textil- als eine Modeindustrie, hier muss ein Kleidungsstück massentauglich sein, und es wird nicht darauf geachtet, dass es auch eine gewisse Attitüde braucht.«

Hier fehlt die Lust an dieser Attitüde, man hat Angst vor dem schönen Schein. Der wichtigste Modeblogger der Welt, der Amerikaner Scott Schuman, stellte bei seinem letzten Besuch in Berlin fest, dass es hier viele attraktive Menschen gebe, die sich aber wohl absichtlich hässlich stylen würden. Außerdem habe er kaum Frauen mit hohen Schuhen gesehen. »Es gibt Länder auf der Welt, da haben die Menschen viel weniger Geld als hier, sind aber trotzdem stylish, weil sie sich Mühe geben und kreativ sind.«

(Warum man in Deutschland schief angeschaut wird, wenn man sich mal schick macht und warum das in vielen Ländern Europas ganz anders ist, lesen Sie auf der nächsten Seite.)

Der italienische, spanische oder französische Zeitungsverkäufer sieht die Straße als Bühne und kleidet sich selbstbewusst wie ein Adliger. Der Deutsche greift zu Jeans, Turnschuhen und Strickjacke – wie die Kollegen, da kann man nichts falsch machen. Als Ausgleich bindet er sich lustige Tiermotiv-Krawatten um den Hals und rasiert sich den Bart wie Kevin Kurányi. Später, wenn das Haar grau ist, schwenkt er auf Beigetöne um – die Uniform des Alters. Was für ein tristes Bild! Rentner in anderen Ländern sitzen in dunklen Hosen und hellblauen Hemden zusammen und spielen Karten.

Was läuft nur schief in Deutschland? »Mode ist der Triumph der Schönheit im Angesicht der Vergänglichkeit«, sagt Barbara Vinken, die Modeexpertin, »Mode ist nicht für die Dauer gemacht, sondern für den schönen Augenblick – das widerspricht dem deutschen Geist, der lieber längerfristig denkt.«

Wer in einer deutschen Firma arbeitet, in der es keinen Dresscode gibt, und der mal in Sakko, Hemd und Krawatte zur Arbeit geht, den fragen die Kollegen: »Was hast du denn heute noch vor?« Sich einfach nur aus Freude elegant zu kleiden, herausstechen zu wollen, macht einen schnell verdächtig, ja, man wird für arrogant gehalten. Der deutsche Neid kriecht hier hervor – in welchem anderen Land wäre Gerhard Schröder als »Brioni-Kanzler« bezeichnet worden?

»In England, Frankreich oder Italien ist das Ästhetische, der Export des Selbstbildes über die Mode, ganz normaler Teil des Lebens«, sagt Barbara Vinken. In diesen Ländern akzeptiert und genießt man Mode als Stilmittel, mit dem man für sich wirbt, sich inszeniert, abgrenzt oder auch anpasst – und dabei nimmt man sich selbst nicht so ernst. Die Deutschen inszenieren sich auch: Im Internet, in sozialen Netzwerken werden ständig Lebensläufe und Fotos poliert, um das virtuelle Ego aufzupeppen. Nur das reale Erscheinungsbild behandelt man lieblos.

Viel Geld für Kleidung geben die Deutschen trotzdem aus, um die vierzig Milliarden Euro im Jahr. Aber mit Lust an der Mode oder gar mit
Exzentrik hat das nichts zu tun: Als sich der britische Modedesigner Alexander McQueen im Februar das Leben nahm, tauschten sich Leser in Internetforen darüber aus; auf der Internetseite der New York Times, des Figaro, der Herald Tribune: Sie trauerten, schrieben mit Bewunderung und Respekt über den Briten, der mit seinen exzentrischen Entwürfen gut 15 Jahre lang die Modeszene aufmischte und erfrischte. In deutschen Internetforen lauteten die Kommentare: »Wer braucht den Scheiß? Ein Spinner weniger! Das Zeug kann doch eh keiner anziehen« – McQueen war nicht immer tragbar und selten praktisch. Nach deutschen Kriterien also überflüssig.

Schluss mit protestantischer Lustfreiheit und eintöniger Alltagstauglichkeit in unseren Fußgängerzonen! Auch wir wollen mal von Eleganz und Exzentrik überrascht werden, das macht einfach gute Laune. Vielleicht wären dann auf dem Modeblog von Scott Schuman auch mal ein paar Fotos aus Deutschland zu sehen. Auf seiner letzten Berlin-Reise im April hat er nur eine einzige Frau entdeckt, die er für seine Seite fotografieren wollte.

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Wenn Sie wissen möchten, wie die Profis über dieses Thema denken: Hier gehts zum Interview mit Designerin Gabriele Strehle.

Fotos: Christopher Thomas