Mein Feind, der Schlaf

Wir stellen Ihnen jede Woche junge, talentierte Fotografen vor. Diesmal: Uwe Martin, der monatelang Menschen begleitet hat, die an der kaum bekannten Krankheit Narkolepsie leiden. Seine Bilder dokumentieren ihren beinahe aussichtslosen Kampf gegen Müdigkeit, Schlaf und Stigmatisierung.

Name: Uwe H. Martin
Jahrgang: 1973
Ausbildung: Studium der Fotografie an der FH Hannover und an der Missouri School of Journalism (Fullbright-Stipendiat)
Website: http://www.uwehmartin.de/ SZ-Magazin: Herr Martin, auf einem Bild aus Ihrer Serie über Narkolepsie liegt eine Frau regungslos auf dem Bürgersteig, mit dem Gesicht zur Straße. Schläft sie?
Uwe Martin: Nein, sie ist wach, aber völlig bewegungsunfähig. Das Bild zeigt Lisa, eine Schweizerin um die 40, die ich monatelang begleitet habe. Lisa ist Narkoleptikerin, und eines der Symptome sind plötzlich auftretende Muskelentspannungen, genannt Kataplexien. Bei Lisa kommt das im Schnitt einmal am Tag vor.

Sie kippt plötzlich um?

Ja. Man muss sich das so vorstellen: Wenn ein gesunder Mensch schläft und träumt, entspannen sich seine Muskeln. Das führt dazu, dass wir uns im Schlaf, vor allem während des Träumens, nicht bewegen können, damit wir uns nicht verletzen. Einen Narkoleptiker trifft das im wachen Zustand. Die Kataplexien werden durch starke Emotionen ausgelöst, wie etwa Freude, Trauer, Lachen oder Erschrecken. Es kann sein, dass nur einzelne Körperteile betroffen sind – etwa ein Arm. Bei Lisa ist es der gesamte Körper. Es dauert bis zu 30 Minuten, bevor sie sich wieder bewegen kann.

Während einer Kataplexie bleibt sie bei vollem Bewusstsein?

Ja. Ich hätte sie ansonsten nicht fotografieren können. Als sie neben mir umgefallen ist, habe ich zunächst die Kamera beiseite geworfen und bin zu ihr hin. Meistens kann sie die Augen bewegen, also konnten wir kommunizieren. Ich fragte sie, ob sie sich verletzt hat. Sie hat zweimal gezwinkert, das heißt nein. Dann habe ich gefragt, ob ich sie fotografieren darf. Einmal blinzeln – das bedeutet ja. Dann habe ich das Foto gemacht.

Gibt es eine Möglichkeit, sie aus diesem Zustand heraus zu holen?
Nein, man kann nur abwarten. Ich kann darauf achten, dass sie nicht zu unbequem liegt, dass ihr Arm nicht verdreht ist. Schlimm ist es, wenn zu viele Leute um sie herumstehen und aufgeregt sind. Das merkt Lisa ja alles. Dadurch wird sie nervös, und durch starke Emotionen wird die Kataplexie nur verlängert.

Von Kataplexien abgesehen – was sind die anderen Symptome von Narkolepsie?

Die Menschen schlafen plötzlich ein. Das liegt daran, dass der Schlafrhythmus im Vergleich zu Gesunden völlig verschoben ist: Ihr Schlaf ist zerhackt. Man kann das vielleicht mit dem Schlafrhythmus eines Neugeborenen vergleichen: Ein Baby wechselt in sehr kurzen Abständen zwischen Schlaf- und Wachphasen, das schläft niemals acht Stunden am Stück. Ähnlich ist es bei Narkoleptikern. Nur können die Menschen in unserer Gesellschaft nicht einfach schlafen, wann sie wollen. Narkoleptiker leben in einem Grundzustand sehr großer Müdigkeit. Labortests haben ergeben, dass der Grad der Schläfrigkeit vergleichbar ist mit einem Menschen, der 48 bis 60 Stunden Schlafentzug hinter sich hat.

Was war Ihr Ansporn, sich über so viele Monate fotografisch mit dem Thema Narkolepsie zu beschäftigen?
Meine Mutter hat Narkolepsie. Schon deshalb interessiert mich das Thema. Und es ist eine im Grunde völlig unbekannte Krankheit. Es gibt hier in Deutschland 4000 diagnostizierte Fälle, man geht aber von einer Dunkelziffer von bis zu 40.000 aus. Viele Ärzte kennen die Krankheit nicht einmal. Fast alle Betroffenen, mit denen ich gesprochen habe, sind erst durch Medienberichte darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Krankheit überhaupt existiert, an der sie leiden. Bei meiner Mutter hat es 30 Jahre gedauert, bis sie endlich die richtige Diagnose bekommen hat. Vorher hat man ihr gesagt, sie sei schizophren, sie hätte eine Depression.

Sie wollen mit den Fotos auch über die Krankheit aufklären?

Ja, das ist einer der Gründe für dieses Projekt. Die schlimmste Phase im Leben eines Narkoleptikers ist die Zeit, bevor er eine Diagnose hat. Es muss bekannter werden, dass es die Krankheit gibt. Das kann über solche Fotografie-Projekte funktionieren.

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Es funktioniert. Manche der Bilder wirken regelrecht verstörend.
Natürlich zeige ich eher schwere Fälle. Das ist durch das Medium bedingt. Ich habe auch einen Narkoleptiker begleitet, der als Dachdecker arbeitet. Der hat zum Beispiel keine Kataplexien mehr. Er muss sich eben häufig hinlegen und kurz schlafen. Das ergibt keine so intensiven Fotos. Bildlich funktionieren leider Gottes nur die krassen Fälle.

Wie haben Sie Ihre Protagonisten gefunden?
Es gibt mittlerweile Hilfsvereine, die sich mit Narkolepsie befassen. Informationen darüber findet man etwa auf http://www.narkolepsie-deutschland.de/. Meine Mutter war im Vorstand eines dieser Vereine. Bei einem Kongress habe ich viele Betroffene kennen gelernt. Einige waren sofort bereit, bei der Serie mitzumachen. Dann kam eins zum anderen.

Wieviel Zeit haben Sie mit den Menschen verbracht, die Sie fotografieren?
Bei Lisa habe ich zum Beispiel drei Monate lang gelebt, im selben Haus. Ich bin für diese Serie Teil der Familie geworden – und zwar bei allen Abgebildeten. Man bekommt diese Szenen nicht zu sehen, wenn einen die Protagonisten nicht wirklich in ihr Leben lassen. Für mich ist es ein Prinzip, dass ich für ein Foto nichts verändere – nichts darf gestellt sein. Ich würde nicht einmal eine Getränkeflasche aus dem Weg räumen für ein Foto. Bei dieser Arbeitsweise ist es einfach nötig, dass man wochenlang immer dabei ist.

Auf einem der Bilder scheint Lisa im Stehen einzuschlafen.

Man kann sich das wie eine umgekehrte Kataplexie vorstellen. Die Symptomatik nennt man „Automatische Handlung“. Der Geist schläft ein, während der Körper wach bleibt und einfache, monotone Tätigkeiten einfach weiterführt. Lisa ist das einmal während des Fahrradfahrens passiert. Als sie wach wurde, hat sie gemerkt, dass sie 20 Kilometer von ihrem Haus entfernt ist.

Sie ist im Schlaf weitergefahren?
Ja, mit offenen Augen. Das wirklich Gefährliche dabei ist das Aufwachen. Es kann sein, dass sie sich dann so über sich selbst ärgert, dass sie sofort eine Kataplexie bekommt und vom Rad stürzt. Ein andermal hat sie dem Hund das Fell geschnitten, als die „Automatische Handlung“ begann. Der Hund war völlig kahlgeschoren, als sie aufwachte.
Sie bezeichnen Ihre Serie "sleeping through the day" als fortlaufendes Projekt. Wie führen Sie die Arbeit weiter?
Zur Zeit ergänze ich die Fotos durch Filmaufnahmen. Ob das in einer Multimediaproduktion fürs Internet mündet, oder vielleicht in einem Dokumentarfilm weiß ich noch nicht.

An welchen anderen Projekten arbeiten Sie gerade?
Im vergangenen halben Jahr habe ich hauptsächlich an der Konzeption und Entwicklung unserer neuen Internetplattform www.spillthebeans.de gearbeitet, die wir mit 12 Fotografen, Journalisten und Filmern gegründet haben. Wir wollen damit einen Raum für gesellschaftlich relevante Multimediageschichten im Internet schaffen und hoffen, solche Projekte bald selbst finanzieren zu können. Die Verlage kommen ihrer Aufgabe nicht mehr nach, solche gut recherchierten journalistischen Projekte zu finanzieren. Deshalb nehmen wir Autoren das jetzt selbst in die Hand, weil wir glauben, dass Menschen gerne gute Geschichten hören und sehen möchten.