Das Beste aus meinem Leben

Falls das Leben und sein Verlauf Sie einmal langweilen, empfehle ich, einen Aktenordner offen auf dem Bürofußboden herumliegen zu lassen und barfuß oder doch wenigstens in Strümpfen (jedenfalls auf keinen Fall mit Straßenschuhen) der Arbeit nachzugehen, um dann plötzlich und aus nichtigem Anlass aufzuspringen und mit einem Fuß senkrecht von oben herab in die offene Spitze der Metallhalterung des Aktenordners zu steigen, welche sich daraufhin in Ihre Fußsohle bohren wird. Das tut weh. Aber Sie haben auf Jahre hinaus Gesprächsstoff. Ich weiß das. Mir ist das nämlich passiert.

Der Aktenordner, der offen auf dem Bürofußboden lag, war meiner. Ich hatte vor, einige meiner Texte darin abzuheften, gerade lochte ich sie auf dem Schreibtisch, und die Metallhalterung war deswegen bereits geöffnet. Da klingelte das Telefon. Es lag am anderen Ende des Raumes. Es klingelt immer nur viermal, dann schaltet sich der Anrufbeantworter ein; also sprang ich auf, wollte zum Apparat hechten. Da drang die Metallspitze in meinen Fuß.

Gott sei Dank war der Aktenordner mit meinen Kolumnen bereits gut gefüllt; aus diesem Grunde konnte das Metall nur einen Zentimeter tief in mein Fußfleisch vordringen. Hätte ich weniger geschrieben, wäre ich schwerer verletzt worden, ja, vielleicht hätte die Aktenordnerspitze meinen Fuß durchbohrt, und man hätte sie nicht wieder entfernen können, für den Rest meines Lebens hätte ich mit einem sperrigen Ordner und meinen viel zu wenigen Kolumnen am Fuß durch die Welt gehen müssen. Das predige ich den Kindern Tag für Tag: Fleiß lohnt sich immer im Leben.

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Ich ging dann zu einem Arzt. Er versorgte die Wunde und gab mir eine Salbe. Zwei Tage später ging ich zu einem Chirurgen. Er schnitt die Wunde auf, entfernte dieses und jenes und verband meinen Fuß. Einige Tage lang ging ich an Krücken.
Jeder, der mich an Krücken gehen sah, fragte: warum? Wenn er meine Geschichte gehört hatte, erzählte er eine eigene: Bruno ist einmal in einen rostigen Nagel getreten, der auf der anderen Seite wieder aus dem Fuß heraustrat – wochenlang laborierte er daran herum. M., meine alte Freundin, arbeitete früher in einer Buchhandlung, in der die Kassenzettel auf eine Art senkrechten Kontor-Spieß gesteckt und so gesammelt wurden; Jahrelang warteten die Kollegen darauf, dass der Chef bei seinen Wutanfällen, wenn er auf dem Ladentisch herumtrommelte, einmal in diesen Spieß… Nichts geschah. Pauls alte Tante hat sich einmal beim Nähen mit der Maschine selbst an einem Kleid festgenäht. Und so weiter. Lauter Geschichten von Durchbohrungen, ja, Pfählungen. Am selben Tag, an dem mir meine Geschichte passiert, wurde bei einem Leichtathletikfest in Rom der Weitspringer Salim Sdiri von einem Speer in den Rücken getroffen, das war doch kein Zufall, bitte.

Der Arzt, der meine Wunde behandelte, verschrieb mir eine Salbe, 25 Gramm in der Tube. Paola sagte, diese Salbe sei nicht gut, ich solle sie nicht benutzen, also legte ich sie beiseite. Einige Wochen zuvor war ich wegen einer lästigen Entzündung in der Nase beim Arzt gewesen, er hatte mir eine Salbe verschrieben, 25 Gramm, die hatte nicht geholfen. Ein anderer Arzt hatte mir zwei Salben, jeweils 25 Gramm, gegeben, die halfen auch nicht. Der nächste Arzt gab mir ein Töpfchen mit Salbe, die half. Aber von den 25 Gramm im Töpfchen habe ich höchstens fünf Gramm benötigt, der Rest steht nun im Medizinschrank neben den anderen Salben.

Ist eigentlich schon mal jemand aufgefallen, dass man die meisten Medikamente in zu großen Einheiten bekommt? Man braucht fünf Gramm Salbe, bekommt aber eine Tube zu 25. In wenigen Wochen habe ich allein etwa 120 Gramm Salbe erhalten, die ich nicht benutzt habe. Rechnen wir der Einfachheit halber, dass im Durchschnitt jeder Deutsche pro Jahr 100 Gramm Salbe mehr bekommt, als er tatsächlich verwendet, dann sind das bei 82 Millionen Deutschen 8200 Tonnen Salbe, die irgendwo lagern und dann weggeworfen werden, nutzlose Salbenmasse.
Ich habe gelesen, dass beim Abbau des Blocks A des Kernkraftwerkes Gundremmingen insgesamt 8200 Tonnen Materialmasse entsorgt werden mussten.

Das muss man sich mal vorstellen: Wir produzieren Jahr für Jahr nicht benötigte, nie verwendete Salbe vom Gesamtgewicht eines ganzen Kernkraftwerksblocks. Ein Skandal!, den ich hiermit enthülle und den ich vielleicht nie hätte enthüllen können, hätte ich mich nicht am Fuß verletzt, unglaublich, aber wahr, es war mir die Schmerzen wert, im Dienst der Sache.

Illustration: Dirk Schmidt