Draußen Politik machen

Wenn Politiker ins Grüne gehen, heißt das: Achtung, wir verlassen den üblichen Rahmen. Also wird’s ernst. Oder ganz im Gegenteil? Eine Untersuchung.

Warum sollte man Politik im Freien, in der Natur machen? Politik kommt von Polis, von der Stadt. Seit es überhaupt Staaten gibt, hat sich Politik in abgezirkelten Räumen abgespielt, in Palästen und Parlamenten, hinter Mauern und verschlossenen Türen. Politik ist geradezu der Gegensatz von Natur.

Trotzdem wissen alle Zuschauer der modernen Politik, dass deren Führer bei Gelegenheit immer noch gern im Wald verschwinden. Fraktionen gehen in Klausur an idyllische Seen. Präsidenten machen mit ihren Staatsbesuchern Strandspaziergänge oder laden sie in entlegene Erholungsressorts. Als die SPD Kurt Beck abschoss, erledigte sie das fern von Berlin: Aus einem Wellness-Hotel in Brandenburg erfuhr die Öffentlichkeit von der Absetzung des als »Waldschrat« geschmähten Vorsitzenden.

Noch ominöser wird es, wenn Staatsmänner sich von ihren Stäben trennen, um Vieraugengespräche beim Gehen im Waldesdunkel zu führen. Dort ist man allein, statt der Öffentlichkeit hört nur das verschwiegene Parlament der Bäume zu, Lauscher sind fern, mit Glück gibt es sogar ein Funkloch, je dichter das Gestrüpp, umso schwerer haben es Indiskretionen.

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Der berühmteste Waldspaziergang ist der Ausflug, den der NATO-Unterhändler Paul H. Nitze und sein sowjetischer Kollege Julij Kwitzinskij am 16. Juli 1982 bei Saint-Cergue am Genfer See unternahmen. Sie standen in Verhandlungen um die NATO-Nachrüstung mit Pershing-Raketen, die den am Ende der Siebzigerjahre aufgestellten Mittelstreckenraketen SS-20 der Sowjetunion entgegengesetzt werden sollten. Es ging damals um nichts Geringeres als die Zukunft des Erdballs.

Nitze und Kwitzinskij hatten nur ein Blatt Papier dabei, darauf skizzierten sie im Verlauf ihres Spaziergangs einen Kompromiss: Beide Seiten sollten ihre Arsenale an taktischen Atomwaffen auf je 75 Stück beschränken. Es war die letzte Runde im Kalten Krieg, und wenn die Spaziergänger Erfolg gehabt hätten, dann wäre dieser vielleicht schon sieben Jahre früher beendet worden. Darum gewann dieser Waldspaziergang bald mythische Qualität bei den Bürgern der beiden Weltsysteme, die sich mit der Konfrontation nicht abfinden wollten.

Die Natur, zwei Männer, große Politik: Dieses Motiv kehrt immer wieder, es wird natürlich auch absichtsvoll als Bild eingesetzt. In seinem Hintergrund bleibt die archaische Situation der Jagd spürbar, das Kräftemessen mit der Natur, bei dem sich Männer aufeinander verlassen müssen - wenn nicht doch Verrat ins Spiel kommt. Wenn sich Parteiführer wie Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine oder, eine Generation früher, Helmut Kohl und Franz Josef Strauß zu Spaziergängen verabredeten, dann wusste man: Die Lage ist verfahren. Jetzt muss es ohne Büros und Telefone, ohne Gremien und Kompromisspapiere gehen und vor allem: ohne Zeugen. Der Betrieb ist fern, die Dinge könnten vielleicht doch übersichtlich werden.

Ort der Doppeldeutigkeiten

Allerdings hat diese Situation etwas tief Zweideutiges. Die Geheimabsprachen, die da getroffen werden, sind kaum einklagbar - sie können am Ende raffinierte Täuschung sein. Im Wald hat Hagen von Tronje den Helden Siegfried hinterrücks ermordet. Das Wort »Männerfreundschaft« trägt bis heute einen schwefligen Geruch an sich. Der Wald ist der ideale Ort für Doppeldeutigkeiten. Die Öffentlichkeit sieht nur die entspannten Gesichter, die offenen Hemden, das Schultertätscheln. Die Dinge sind lösbar, behaupten diese Gesten. Hinterher, wenn die Männerfreunde wieder in ihren Büros sitzen, bekämpfen sie sich von Neuem bis zur Vernichtung.

Aber wenn Entscheidungen drängen wie 1990 beim Zusammenbruch der DDR, dann kann der Spaziergang, bei dem nur die Anführer in Strickjacken und ohne Krawatten auf Baumstümpfen Platz nehmen, während der Tross in Anzügen eingezwängt respektvollen Abstand hält, rasche, kühne Lösungen befördern. Die Luft ist klar, der Kopf frei, wir sind im Kaukasus, Gorbatschow und Kohl verstehen sich so blendend, wie Kohl und Strauß es nie getan haben, und die deutsche Frage ist so gut wie gelöst.

Die Begegnung in der Natur: Das ist auch die Suggestion von Politik ohne die Umwege der Diplomatie. Nicht Kanzleien, Kabinette und das Geraschel der Papiere bestimmen das Geschehen, die Bedenklichkeiten der Fachleute lösen sich auf wie die Wolken am Horizont. Napoleon versuchte im Jahr 1808, seinen einzigen Rivalen, den russischen Zaren Alexander I., bei gemeinsamen Ausritten auf seine Seite zu ziehen. In einer Lichtung des Waldes von Compiègne wurde der Erste Weltkrieg beendet: Deutsche Offiziere wurden von den alliierten Generälen zu einem einsamen Eisenbahnwaggon zitiert, wo sie einen kurz gefassten, harten Waffenstillstand zu unterzeichnen hatten, das traurige Resultat eines sinnlosen vier- jährigen Völkerschlachtens. Diesen Moment hat Adolf Hitler 1940 an der gleichen Stelle mit vertauschten Rollen nachgespielt: Diesmal mussten die Franzosen unterschreiben, was man ihnen vorlegte.

Überhaupt hat sich Hitler in die Tradition von Macht und Natur eingereiht: Auf der Höhe seiner Erfolge ließ er zitternde Emissäre benachbarter Staaten auf den Obersalzberg kommen, um ihnen seine Entscheidungen im Angesicht gewaltiger Bergkulissen mitzuteilen. Als er selbst um sein Überleben kämpfen musste, zog er sich in die Wolfsschanze zurück, eine von oben getarnte Waldhöhle, umgeben von Baracken und Sperrkreisen.

Der moderne, machtvoll geordnete Staat entstand, indem die Könige aus Burgen und ummauerten Städten aufs Land zogen. Dort wurden breit hingelagerte Residenzen auf die unberührte Fläche der Natur gelegt, mit aus allen Richtungen auf sie zulaufenden Straßen, umgeben von abgezirkelten Parks mit verschwenderischen Brunnenanlagen. Den Blick in Frankreichs begrünte Weiten hat noch Charles de Gaulle in seinem lothringischen Domizil Colombey-les-deux-Églises dem städtischen Prunk der republikanischen Regierungspaläste vorgezogen. Dort ordneten sich dem General die großen Fragen ins Einfache.

Natur als Kulisse der Selbstinszenierung

De Gaulle hatte es übrigens nicht nötig, sich wie die zwergenhaften Staatsmänner des heutigen Europa mit entblößtem Körper zu zeigen. Putin als Fischersmann im Wildbach, Sarkozy auf einem Schnellboot, Berlusconi schäkernd im Badedress - das sind ordinäre Variationen auf ein großes Thema: In einer multimedialen Welt, die vor allem durch Bilder bestimmt wird, inszenieren sich Politiker als Machthaber mit urtümlichem Kontakt zur Natur und damit zum Volk - und zeigen sich doch nur als narzisstische Schausteller ihres Ego.  So verkörpern sie eben nicht mehr die gemessene Haltung von Weitsicht und Bedeutsamkeit, geben kein Bild des Staates ab, sondern nur Images schwabbeliger Lächerlich- und Geschichtslosigkeit.

Wenn Berlusconi nach dem Erdbeben in L’Aquila an den Ort des Unglücks eilt, möchte er Mitgefühl signalisieren, wenn er dann aber das Bebengebiet mit einem Zeltlager vergleicht, beweist er doch bloß Weltfremdheit. Der Politiker im Freien: Das ist dann nur noch ein hilfloser Einspruch gegen die Unübersichtlichkeit der jeweiligen Lage.

Ganz anders François Mitterrand, der kurz vor der deutschen Wiedervereinigung, die er am liebsten verhindert hätte, Bundeskanzler Kohl zu einem Spaziergang am brausenden Atlantikstrand einlud: Damit beschwor er nicht nur die Gewalt der Natur, er erinnerte diskret auch an die ungezählten Soldaten, die an dieser Küste im Kampf gegen ein zu großes Deutschland gefallen waren. Das funktionierte, weil hier zwei Personen mit eigenen historischen Erfahrungen zusammentrafen. Ins Naturbild floss zugleich ein Bild von Geschichte.

Wer die Linien von den Nibelungen in die Gegenwart zieht, kann die These wagen, dass Wald und Demokratie in einer gewissen Spannung zueinander stehen. Nur im Notfall dürfen sich demokratische Rebellen wie die Schweizer um Wilhelm Tell in Waldverstecken wider die Tyrannenmacht verschwören - sonst braucht Demokratie den Platz, die öffentliche Agora. Umso misstrauischer darf man sein, wenn heute der Wald doch wieder zur Kulisse wird.

Den Szenenwechsel vom autokratischen Stil männlicher Herrschaft, die sich gern in die Natur, in die Wälder zurückzieht, zum öffentlichen, vielstimmigen, demokratischen, städtischen Stil zeigte übrigens der 14. Juli 1789 im Raum eines einzigen Tages: In Paris wurde die Bastille von einer wütenden Menge gestürmt. Zur gleichen Zeit war der König, Ludwig XVI., auf der Jagd in den Wäldern von Versailles. »Rien« - »Nichts« vermerkte er am Abend in seinem Tagebuch. Da hatte der waldverlorene Monarch die Dinge zu einfach genommen.

dpa; Getty