Draußen eigene Wege gehen

Wie entstehen Trampelpfade? Wie entdecken wir Abkürzungen? Und wie kommt es, dass wir uns im Internet ganz ähnlich verhalten? Ein Gespräch mit dem Physiker Dirk Helbing.

SZ-Magazin: Herr Helbing, wir alle benutzen Trampelpfade - aber wer sind denn eigentlich die Menschen, die solche Wege als Erste gehen: Individualisten? Anarchisten?
Dirk Helbing: Nein, das kann wohl jeder von uns - man muss es nur eilig genug haben, und schon rennt man quer durchs Gelände, anstatt auf dem vorgesehenen Weg zu bleiben. Auf diese Weise hinterlässt man eine Spur, und es entsteht ein Rückkopplungseffekt: Der Mensch verändert die Umwelt, die wiederum das Verhalten der Menschen verändert - und immer so fort.

Sie sind Physiker. Warum interessieren Sie sich überhaupt für Trampelpfade? 
An Trampelpfaden kann man sehr gut untersuchen, wie sich Systeme selbst organisieren, wie Menschen gemeinsam etwas Sinnvolles schaffen, ohne sich abzusprechen. Was, glauben Sie, geschieht, wenn zwei Wege aufeinandertreffen?

Wenn Sie so fragen, wohl etwas Außergewöhnliches.
Bevor einer der Wege auf den anderen trifft, beginnt er sich zu teilen und bildet eine Y-förmige Kreuzung. Diese menschliche Eigenart wird aber von vielen Stadtplanern nicht ernst genommen, und dann wundern sie sich, dass die Leute ihre Wege verlassen. Dabei wäre es sehr leicht, organische Lösungen zu finden, die dem natürlichen Verhalten von Fußgängern entsprechen. Man kann das am Computer simulieren. Immerhin gibt es mittlerweile Stadtplaner, die keine Wegesysteme mehr vorgeben, sondern die entsprechenden Flächen frei lassen. Sie sehen einfach zu, welche Pfade sich entwickeln, und orientieren sich daran.

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Geht es den Menschen immer darum, möglichst schnell ans Ziel zu gelangen?
Nicht unbedingt. Trampelpfade entstehen, wenn Wege gänzlich fehlen - oder Menschen das Gefühl haben, dass die vorhandenen nicht gut genug sind. Sie suchen zwar prinzipiell Abkürzungen, aber sie wählen nicht immer die kürzeste Verbindung zwischen Ausgangspunkt und Ziel. Manchmal machen sie auch Umwege.

Sie verlaufen sich also.
Nein, das hat einen viel interessanteren Grund: Trampelpfade müssen ja unterhalten werden wie normale Wege auch. Wenn man sie zu selten benutzt, verschwinden sie wieder unter Gras und Gestrüpp. Daher kann es sinnvoll sein, wenn Menschen, die am selben Ort starten, aber zu verschiedenen Zielen wollen, einen Abschnitt des Weges teilen.

Das geht doch zwangsläufig auf Kosten einer der Gruppen.
Überraschenderweise nicht. Trampelpfade haben die Tendenz, fair zu sein und allen den gleichen relativen Umweg zuzumuten. Erst wenn die Gesamtstrecke durch den Umweg 20 bis 30 Prozent länger wird, beginnen Menschen, eigene Pfade zu bahnen. Darin sind sie sehr konsequent, denn sie tun das auch bei Strecken, die bloß zehn Meter lang sind. So entstehen ganz erstaunliche Mini-Abkürzungen, wie Sie sie in Parks sehen können, wo Menschen lieber vier Schritte durch die Wiese gehen, als einen etwas längeren Weg zu nehmen.

Haben Sie eine Erklärung, warum unsere Schmerzgrenze gerade bei 30 Prozent liegt?
Das scheint eine menschliche Konstante zu sein. Sie betrifft nicht nur Abkürzungen - diesen ominösen 20 bis 30 Prozent bin ich in den unterschiedlichsten Kontexten begegnet. Ich glaube zum Beispiel, dass der ideale Fixsteuersatz maximal 30 Prozent beträgt. Alles, was darüber hinausgeht, tut den Menschen weh.

Trampelpfade im Internet

Ist das Phänomen des Trampelpfads auf weitere Bereiche übertragbar? Auf das Internet zum Beispiel?
Ja, das Netz stellt ebenfalls eine Welt dar, in der einzelne Menschen Spuren hinterlassen - Datenspuren in Form von Fotos, Kommentaren oder Ratings. Andere Menschen folgen diesen Spuren, indem sie sich an den artikulierten Interessen und Meinungen orientieren. Facebook ist zweifellos ein vielbenutztes Trampelpfadsystem im World Wide Web. Durch den »Gefällt mir«-Button und andere Funktionen können Nutzer überall ihre Spuren hinterlassen.

Lassen sich die Motive vergleichen, mit denen Menschen in der realen und virtuellen Welt Trampelpfaden folgen?
Ich glaube schon. Im einen Fall nehmen die Leute Abkürzungen, um schneller voranzukommen. Im anderen Fall, im Internet, kürzen sie Wege ab, indem sie zum Beispiel Empfehlungen von Bekannten auf Facebook folgen. Das sind sozusagen virtuelle Wegschneisen, die helfen, rascher Entscheidungen treffen zu können.

In der realen Welt können Trampelpfade nach einiger Zeit wieder von der Natur überwuchert werden. Kann so etwas mit virtuellen Pfaden auch passieren?
Ja, durch die ständig zunehmenden Datenmengen. Die bilden ein wucherndes, urwaldartiges Dickicht, das auch die leistungsfähigsten Algorithmen nur noch schwer durchdringen können - ganz zu schweigen von uns Menschen. Unsere einzige Chance könnte darin bestehen, Daten mit einem Verfallsdatum zu versehen. Haben sie es erreicht, löschen sie sich selbst. Wir sollten dem Internet das Vergessen beibringen.

Jetzt sind wir aber ziemlich vom Weg abgekommen mit unserem Gespräch.
Nicht unbedingt. Das Vergessen spielt bei Trampelpfaden eine ebenso große Rolle. Die Natur vergisst unnötig gewordene Pfade, während die bewährten Wege bleiben.  Beim Menschen entsteht Kooperation durch wiederholte Interaktion, das heißt mit Partnern, die sich bewährt haben. Auch hier zeigt sich an Trampelpfaden etwas sehr Grundsätzliches: Wir Menschen sind dazu fähig, uns anzupassen, Kompromisse zu schließen und faire Lösungen zu finden.

Das widerspricht aber einer Theorie der Wirtschaftswissenschaftler, die den Egoismus der Menschen als einzige treibende Kraft bezeichnet.
Viele Experimente haben gezeigt, dass die Mehrzahl der Menschen nicht nur auf ihren eigenen Vorteil achtet, sondern auch die Interessen der anderen berücksichtigt. Wir haben eine Neigung zu kooperieren.

Sind Trampelpfade ein Phänomen unserer heutigen hektischen Zeit? Nach dem Motto: Wie kann ich bloß wieder zehn Sekunden gewinnen?
Keinesfalls. Viele der heutigen Straßen in Europa und den USA folgen alten Handelswegen, die ursprünglich Trampelpfade waren; sie setzen sich aus regionalen Pfaden zusammen, die die Menschen gebahnt haben, indem sie sich an Berggipfeln oder Flüssen orientierten.

Und der Jakobsweg, dem Hape Kerkeling gefolgt ist …
Ich habe diesen Fall nicht untersucht, aber ich gehe davon aus, dass wir ihn dazu zählen können.

Dieser Pilgerweg hat eine Länge von rund 800 Kilometern - es muss doch jemanden gegeben haben, der den Masterplan dafür entwickelt hat.
Nein, ein Mensch hinterlässt eine Spur im Gelände, ein anderer folgt ihr, am Schluss entsteht ein hochkomplexes Wegesystem - ganz von allein.

Kollektive Intelligenz

Kann man da von kollektiver Intelligenz sprechen? Ich denke, ja. Ein anderes Beispiel sind Fußgängerströme. Auch darin können Sie eine Ordnung finden, die Menschen gemeinsam und unbewusst schaffen. Das ist uns lange Zeit nicht aufgefallen, weil es mit bloßem Auge schwer zu erkennen ist. Erst wenn man die Fußgängerströme mit einer Videokamera aufnimmt und die Aufnahme dann beschleunigt abspielt, erkennt man das System dahinter. Wenn sich etwa zwei Fußgängerströme kreuzen, dann bilden sich Streifenmuster heraus, die es denn beiden Strömen erlauben, einander zu durchdringen, ohne dass jemand anhalten müsste. In diesen Momenten kommt tatsächlich so etwas wie kollektive Intelligenz zustande.

Zugleich kann die Gruppe ein gefährlicher Ort zu sein, als Experte für Massenpaniken waren Sie nach der Loveparade ein gefragter Gesprächspartner.
Leider geschehen solche Crowd Disasters bei Großveranstaltungen immer wieder, wenn an einem Platz zu viele Menschen eine enge Stelle passieren müssen oder etwas Unvorhergesehenes passiert. Wir könnten mithilfe von Computern simulieren, wie sich Besucher einer Massenveranstaltung auf einem konkreten Gelände verhalten, wo sich Problemstellen befinden oder was geschieht, wenn es zu einem Unwetter kommt. Bei mehr als einer Million Menschen erfordert das zwar einen ziemlich großen Aufwand, aber Menschenleben müssen uns das wert sein.

Der Physiker und Mathematiker Dirk Helbing, 45, ist seit 2007 an der ETH Zürich Professor für Soziologie, mit den Schwerpunkten Modellierung und Simulation. Zuvor leitete er das Institut für Transport und Wirtschaft an der TU Dresden. Er veröffentlichte mehr als 200 wissenschaftliche Arbeiten und Artikel - über die Entstehung von Trampelpfaden ebenso wie über das Verhalten von Menschenmassen, Katastrophenmanagement bis hin zu Logistikfragen in biologischen Systemen.

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