»Ten-ta-kel – das Wort hat sie geliebt«

Die Pianistin Hélène Grimaud spielte als kleines Kind mit wohlklingenden Wörtern. Heute füllt sie große Konzerthäuser. Manchmal trifft sie dort ihre Mutter.

    SZ-Magazin: Verdanken Sie Ihren Erfolg einer strengen Mutter, die Sie immer zum Üben gezwungen hat?

    Jesette Grimaud: Sicher nicht! Im Gegenteil. Man musste Hélène eher sagen, jetzt hör doch mal auf! Hélène Grimaud: Stimmt. Ein typischer Satz meiner Eltern: Iss etwas. Oder: Jetzt wird es wirklich Zeit zu schlafen! Für mich war Klavierspielen nie eine Pflicht, vielmehr eine Art, meine Gefühle auszudrücken.

    Wann fiel Ihnen auf, dass Hélène musikalisch sehr begabt ist?

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    Jesette Grimaud: Als Hélène vier Jahre alt war, habe ich ihr Gespür und ihr Interesse für Klänge bemerkt.

    Woran?

    Jesette Grimaud: Sie hat oft gesagt: »Wiederhol dieses Wort bitte noch mal.« Es waren immer Worte mit einer eigenen Melodie. Nachmittage lang ist Hélène dann durch die Wohnung gelaufen – hat zum Beispiel immer wieder »Blütenstaub, Blütenstaub« vor sich hin gesagt. Oder »Tentakel«. Ich las ihr ein Buch vor, auf einer Seite war ein Oktopus abgebildet. »Ten-ta-kel« – das Wort hat sie geliebt.

    Hélène Grimaud: Meine Mutter fütterte mich mit wohlklingenden Wörtern und mein Vater meldete mich in der Musikschule an. Sie ist die intuitive und er der pragmatische von den beiden. Ich war etwa sieben Jahre alt, als mein Vater ein Klavier für mich kaufte.

    Jesette Grimaud: Als Lehrerin war ich mein Leben lang von Kindern umgeben. Hélène war immer anders. Sie hat schon als kleines Mädchen sehr viele ungewöhnliche Fragen gestellt.

    Haben Sie ein Beispiel?

    Jesette Grimaud: Als Fünfjährige wollte sie einmal von mir wissen, was Grenzen sind. Ich erklärte ihr: Die Hecke um unser Grundstück ist eine Grenze, weil du wegen ihr nicht aus dem Garten hinauskommst. Hélène antwortete: Also ist der Körper unsere Grenze.

    Hélène Grimaud: Es macht meine Freunde heute immer noch wahnsinnig, dass ich so viele Fragen stelle – und noch mal und noch mal nachfrage, in der Hoffnung, etwas Neues zu erfahren.

    Jesette Grimaud: Hélène besitzt die Offenheit, die Kinder haben: jedem und allen Dingen ohne Vorbehalt und fertige Bilder im Kopf zu begegnen.

    Sie führen eine Mutter-Tochter-Fernbeziehung, seit Hélène zwölf Jahre alt war. Ist Ihnen das manchmal schwer gefallen?

    Jesette Grimaud: Mein Motto lautet: Kinder gehören einem nicht. Eltern sind der Bogen und sie sind der Pfeil – man kann nur versuchen, in die richtige Richtung zu zielen. Dass Hélène mit zwölf aufs Konservatorium nach Paris ging, mit 17 ganz von zu Hause auszog und nur noch ab und zu an den Wochenenden nach Hause kam, das widersprach nie meiner Vorstellung von einer Mutter-Tochter-Beziehung.

    Hélène Grimaud: Andere Eltern hätten vielleicht gesagt: Mach erst die Schule fertig.

    Jesette Grimaud: Manche Leute haben tatsächlich gefragt: Dein einziges Kind geht so früh von zu Hause fort? Wir spürten aber, dass sie ein besonderes Talent hat – und nichts lieber machen möchte als Musik.

    Hélène Grimaud: Für mich war es ein großes Abenteuer, nach Paris zu gehen. Einmal, als ich mit 16 zum ersten Mal allein nach Japan geflogen bin, habe ich natürlich gedacht: Wie wird es dort sein? Werde ich es mögen? Aber Angst hatte ich nie. Das verdanke ich meiner Mutter. Sie hat mir immer vermittelt, dass alles gut geht.

    Jesette Grimaud: Ich bin ein Landkind, auf Korsika geboren – da hörte ich nie: Geh zur Schule oder lebe so oder so. Vielleicht ist das der Grund, dass ich auch nie eine feste Vorstellung hatte, was das Beste für mein Kind sein könnte. Oder für mich und mein Kind.

    Wie oft sehen Sie sich heute?

    Hélène Grimaud: Meine Mutter hatte vor ein paar Jahren Krebs, glücklicherweise behandelbar. Seitdem bemühen wir uns mehr als früher, uns zu sehen.

    Jesette Grimaud: Dazu kommt, dass mein Mann und ich im Ruhestand sind, und vor allem in den letzten Jahren, nach meiner Krankheit, fahren wir öfter zu den Konzerten. Vor zwei Wochen waren wir in Paris, zuvor in Baden-Baden.

    Frau Grimaud, hat Sie an Ihrer Tochter schon mal etwas gestört?

    Jesette Grimaud: Hélène trug als junge Frau bei ihren Konzerten immer weite, schlackernde Hosen und Jackenkragen…

    Hélène Grimaud:…die unterm Kinn aufhörten. Ja.

    Jesette Grimaud: Furchtbar. Da habe ich ihr gesagt: Kind, das kannst du auch mit fünfzig noch tragen – wenn überhaupt!

    Hélène Grimaud: Heute gefallen mir Sachen von Chloé, Gucci und Balenciaga. Ich habe mich in den Sachen damals trotzdem wohler gefühlt.

    Warum?

    Hélène Grimaud: Es ist leider immer noch so, dass man als Frau nach seinem Äußeren beurteilt wird. Bei mir hieß es gerne mal, mein Weg hätte auch damit zu tun, wie ich aussehe. Im Ernst, man muss doppelt so gut sein, wenn man gut aussieht. Davon abgesehen habe ich mich nie gern geschminkt oder viel über mein Äußeres nachgedacht. Das ist so geblieben, obwohl ich meinen Kleidungsstil verändert habe und heute auch gern schmal geschnittene Sachen trage. Ich bin älter und denke nicht mehr so viel über die anderen nach und was sie über mich denken könnten.

    Jesette Grimaud: Ich bin auf jeden Fall glücklich, dass Hélènes Kleidungsgeschmack sich positiv entwickelt hat.

    Hélène Grimaud: Schlimmer konnte es auch nicht werden. Ich sah aus wie ein sehr verschlossener Junge.

    Bei welchem Musikstück denken Sie an Ihre Mutter?

    Hélène Grimaud: Bei Beethovens 6. Symphonie. Sie strahlt – genau wie meine Mutter – eine besondere Energie aus. Sie klingt offen, fröhlich, nach Mitgefühl. Von beiden geht wirklich ein Leuchten aus.

    Was würden Sie an Ihrer Mutter gern ändern?

    Hélène Grimaud: Ach, sie ist ziemlich perfekt. Sie hat nie schwer gerungen mit einer Entscheidung, die mich betraf. Sie und ich brauchten nie räumliche Nähe, um ein enges Verhältnis zueinander zu haben. Wenn ich zum Beispiel im Studio bin und aufnehme, hinterlassen meine Eltern eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter: »Wir wollten dir nur sagen, dass wir an dich denken. Hoffentlich geht alles gut! Aber ruf nicht zurück. Melde dich, wenn du fertig bist.«

    Und würden Sie gern etwas an Ihrer Tochter ändern?

    Jesette Grimaud: Nein. Nur ihre zwanghafte Ordnungsliebe beim Kofferpacken geht mir auf die Nerven. Es dauert ewig! Alles muss genau an seinem Platz sein.

    Hélène Grimaud: Ich weiß auf jeden Fall, von wem ich das habe. Bei meinen Eltern zu Hause ist es so sauber und ordentlich, dass man vom Boden essen könnte.

    Die Pianistin Hélène Grimaud, 37, begann ihre Karriere mit zwölf Jahren am Musikkonservatorium in Paris. Später studierte sie bei den Pianisten Gyorgy Sandor und Leon Fleisher. Seit 1999 leitet sie in New York das Wolf Conservation Center und erklärt Schulklassen, wie man Wölfe schützt. Als Pianistin tritt sie unter anderem mit den Berliner Philharmonikern und dem New York Philharmonic Orchestra auf. Zurzeit lebt sie in Berlin. Ihre Mutter Jesette Grimaud, 64, war Lehrerin und lebt in Aix-en-Provence.

    Hélène Grimaud (stehend) trägt eine Seidenbluse und Jeans von Ayzit Bostan, Stiefel von A.V. Vandevorst und eine Kette von Montblanc. Jesette Grimaud in einem Stricktop mit Baumwollärmeln, von Max Mara, einem Rock von Ayzit Bostan und Ballerinas von Repetto.