Es kam mir vor, als würdest du nach etwas suchen

Ein Nachmittag in Thessaloniki: Alexandros Stefanidis begibt sich mit seinem Vater auf die Spuren von dessen Jugend - und erfährt, welches Gefühl ihn sein Leben lang bewegt hat.

Ich gehe ein paar Schritte zurück in die enge Seitenstraße, aus der ich gerade auf den Platz gebogen bin, und verstecke mich. Einem plötzlichen, diffusen Impuls folgend, habe ich beschlossen, ihn noch ein paar Augenblicke aus der Ferne zu beobachten. Wir sind verabredet für vormittags um elf an der Hafenpromenade auf dem Aristotelous-Platz in Thessaloniki.

Es ist Ende August, die Sonne strahlt, 34 Grad Celsius. Einige Leute tragen Einkaufstaschen spazieren, ein junges Pärchen knutscht auf einer Sitzbank, gut ein Dutzend Menschen wartet an der Haltestelle auf den Bus, manche blasen die Backen auf, andere fächeln sich Luft zu. Mein Blick fokussiert sich auf den Mann hinter den bunten Luftballons eines mobilen Plastikspielzeugverkäufers: Dort, in der Mitte des Platzes, steht mein Vater, regungslos wie eine Statue, und blickt hinaus aufs Meer. Am Telefon hat er gesagt, dass wir gemeinsam auf eine Reise gehen werden. »Eine Zeitreise«, hat er lächelnd hinzugefügt.

Mein Vater wurde 1939 in einem kleinen Dorf namens Megalokampos in Nordgriechenland geboren. Als er zwei war, wurde sein Vater von Soldaten der Waffen-SS vor den Augen der Familie erschossen, seine Mutter verstummte daraufhin für immer. Meine Eltern lernten sich 1956 in Thessaloniki kennen, 1963 sind sie nach Deutschland ausgewandert. Sie fanden beide einen Job bei Bosch in Stuttgart, 1970 eröffneten sie ein griechisches Restaurant namens »Der Grieche« in Karlsruhe. Vierzig Jahre arbeitete meine Mutter in der Küche, mein Vater am Tresen. Meine zwei älteren Brüder, meine jüngere Schwester und ich sind im »Griechen« aufgewachsen. »Der Grieche« war unser Wohnzimmer. Vergangenes Jahr haben meine Eltern ihr Restaurant verkauft. »Der Grieche« ist jetzt ein Döner-Imbiss.

Meistgelesen diese Woche:

Plötzlich dreht sich mein Vater in meine Richtung und in einer hektischen, für zufällige Beobachter sicher lächerlichen Bewegung lehne ich mich schnell mit dem Rücken gegen die Hausmauer, um nicht von ihm entdeckt zu werden. Ein paar Sekunden später riskiere ich wieder einen Blick. Er schaut wieder aufs Meer, als würde er weitab vom Trubel nach etwas suchen. Fast fünfzig Jahre seines Lebens hat er in Deutschland verbracht, denke ich. Das ist der erste Sommer, in dem er mehr als ein oder zwei Urlaubswochen in Griechenland verbringt.

Kommt ihm seine einstige Heimat mittlerweile vielleicht ein bisschen fremd vor? Sieht er sich noch als Grieche? Oder vielleicht doch eher als Deutscher? Wenige Stunden später wird er mir auf diese Frage eine Antwort geben.
Nach dem Krieg kam mein Vater in das berühmteste Waisenhaus Griechenlands: das »Papafi«. Um die Jahrhundertwende von Ioannis Papafis gegründet, einem zu Reichtum gekommenen Unternehmer, der all sein Vermögen in diese Schule gesteckt hatte. Papafi war einst selbst ein Waisenkind gewesen.

Das klassizistische Gebäude in U-Form steht noch heute im Zentrum Thessalonikis, nicht weit weg vom Aristotelous-Platz: Ein Park mit hochgewachsenen Zypressen gehört zum Anwesen, eine kleine orthodoxe Kirche, ein Basketball- und ein Fußballfeld. Früher muss es hier wunderschön gewesen sein. Mein Vater und ich werden das Papafi am Nachmittag dieses heißen Augusttages besuchen, wir dürfen eigentlich nicht hinein. »Ist verboten«, sagt uns der Mann an der Pforte. Aber wir schleichen uns dennoch hinein, steigen durch ein Loch im Zaun.

Da liegen Scherben auf dem Basketballfeld, zerbrochene Fenster im Erdgeschoss, ein Abfallcontainer voll ausgenommener Wasch- und Nähmaschinen von Miele oder Pfaff aus den Sechzigerjahren. Ein Bild des Jammers. Im Blick meines Vaters aber strahlt noch die Erinnerung an eine Zeit, in der es hier für einen kleinen Jungen nach dem Paradies aussah. Er zeigt auf verschiedene Fenster im ersten und zweiten Stock, »dort war unser Schlafraum, da war die Küche, wo ich Kartoffeln schälen musste, da war die Bibliothek, ein wunderschönes Zimmer: in der Mitte schwere Holztische mit gebogenen Tischbeinen, verschnörkelt, mit Verzierungen, und in den dunklen Regalen Tausende Bücher. Von Comics bis zu den Schriften des Aristoteles. Mein Lieblingsraum. Lass uns mal reingehen und sehen, wie es innen aussieht.«
»Aber Papa, wir dürfen da nicht rein«, sage ich.
»Wir dürften auch nicht hier stehen und trotzdem stehen wir hier, oder? Sei nicht immer so ängstlich und korrekt, das ist ja grauenhaft! Wir gehen jetzt da rein!«

Ein Wiedersehen

Eine Tür steht offen. Mein Vater geht auf sie zu und verschwindet im Dunkeln. Ich stehe da wie angewurzelt und frage mich gerade, ob ich wirklich so ein ängstlicher Pedant bin, als mein Vater wieder im Türrahmen auftaucht: »Was ist? Kommst du jetzt, oder was?«

Wir gehen durch einen Raum, der aussieht wie eine alte Werkstatt, in der seit Jahren nicht mehr gearbeitet wurde. Auf einer Sägemaschine liegt millimeterdicker Staub, auf einem Tisch sehe ich das Muster eines Hammers, der erst vor Kurzem entwendet wurde. »Das ist die Werkstatt, in der ich meinen Beruf erlernt habe«, sagt mein Vater. »Deinen Beruf?«, frage ich verwundert. Ich sehe nirgends eine Theke. Aber bevor ich meine Frage aussprechen kann, sagt er im Vorbeigehen: »Ich bin Zimmermann. Hast du das vergessen?« In der Tat. Ich habe meinen Vater mein Leben lang hinter der Theke oder beim Servieren im »Griechen« gesehen. Dass er früher Kinosessel baute, habe ich völlig vergessen.

Wir gelangen auf den Flur. Von den Wänden blättert der gelbliche Putz, alle sechs, sieben Meter hängen vergoldete Holzrahmen mit Porträts von griechischen Philosophen, Heerführern, Architekten und Politikern. Ich stelle mir gerade vor, wie erhaben diese Bilder früher auf meinen Vater gewirkt haben müssen, als wir auf einmal eine laute und feste Frauenstimme hören, die uns in strengem Ton fragt, was wir hier suchen würden. Mein Vater dreht sich zu der Frau, die ihr graues Haar straff nach hinten gebürstet hat, wo es in einem Knoten gebündelt ist, ähnlich dem Knoten in meinem Magen, der sich noch dicker anfühlt, als hinter ihr ein breitschultriger Mann in einer Uniform auftaucht, der Sicherheitsdienst. Toll, denke ich, jetzt kriegen wir Ärger.

Aber mein Vater geht strahlend auf die Frau zu, sagt seinen Namen und eine Nummer: »Christoforos Stefanidis, 28101940.« Die alte Frau erschrickt. Jede Schülerakte hatte früher eine Nummer, und wenn der Direktor einen ermahnte, zum Beispiel, weil sich die Jungs auf dem Hof geprügelt hatten, mussten sie sich mit vollem Namen und Nummer bei ihm melden. »Ach du lieber Himmel!«, ruft sie, und der Hall im Flur ist noch lauter. Ihre ernsten Gesichtszüge werden weicher, die zuvor zugespitzten schmalen Lippen weichen einem unscheinbaren Lächeln, wie das von Großmüttern, wenn sie ihren Enkeln beim Spielen zusehen, den Kopf zur Seite geneigt. »Christo?«, fragt sie mit zitternder Stimme.

Und in diesem Moment, ich blicke gerade in seine Richtung, entfährt dem Gesicht meines Vaters alle Muskelkraft, als hätte er einen Geist gesehen, wird sein Gesicht fahl und blass. Er fasst sich mit der rechten Hand an den Mund, putzt sich den Schreck weg, und fragt zurück: »Kyria Mandraki?« Sie breitet ihre Arme aus, läuft auf ihn zu und drückt meinen Vater wie einen kleinen Jungen an ihre Brust. Tränen stehen ihr in den Augen, die meines Vaters kann ich nicht sehen. 1956 verließ mein Vater als 16-Jähriger das Papafi, es war Mandrakis erstes Jahr als Erzieherin, 53 Jahre liegen zwischen dieser und der letzten Umarmung.

Die beiden verbringen den ganzen Nachmittag zusammen. Ich mache in der Zwischenzeit ein paar Fotos vom Haus. Mit offizieller Genehmigung, denn Kyria Mandraki ist nun die Direktorin. Als ich wieder zurückkomme, sitzen die beiden in der Bibliothek, zumindest scheint das der Raum zu sein, von dem mir mein Vater zuvor erzählt hat: dunkle Regale aus Massivholz, hohe Fenster, der Tisch mit den verschnörkelten Tischbeinen. Nur: Die Regale stehen nicht voller Bücher, es ist eher so, als ob sich hier und da ein Buch dorthin verirrt hätte. Zerfleddert. Oder mit abgerissenem Buchrücken, bekritzelt mit Filzstiften liegen viele angeschlagen und einsam zwischen dem Holz.

Auch in Kyria Mandrakis Erzählungen spiegelt sich der Niedergang des Hauses wieder. Immer weniger Gelder, immer weniger Personal, immer weniger Schüler. »Nachts steigen die Obdachlosen durch die Fenster im Erdgeschoss, weil sie einen Schlafplatz suchen«, sagt sie. »Ich habe keine Mittel, um einen Sicher-heitsdienst zu engagieren. Deshalb hilft mir mein Neffe Pavlos.« Sie zeigt auf den breitschultrigen Mann in Uniform.

Wie viele andere Sozialprojekte auch suchte das Papafi lange nach neuen Geldgebern, stieß aber nicht auf die erhoffte Quelle. Sinnbildlich steht in der Bibliothek ein Commodore 128D mit Floppy-Laufwerk. So einen hatte ich Ende der Achtzigerjahre nach langem Betteln von meinen Eltern geschenkt bekommen, heute ist das ein Museumsstück, die Firma Commodore existiert seit fast zwanzig Jahren nicht mehr. Floppy-Disketten auch nicht. Aber das Treffen zwischen meinem Vater und Kyria Mandraki katapultiert die beiden in Sekundenbruchteilen in eine andere Zeit, und als sie sich wieder auf dem Rückweg ins Jetzt befinden, wird ihnen die grausame Museumsgegenwart so sehr bewusst, dass sie sich zum Abschied nur noch die Hand geben. Zwar herzlich und mit einem dankbaren Blick für die schönen Erinnerungen, aber eben auch mit den üblichen Floskeln: »Bis bald«, sagt Kyria Mandraki. »Bis bald«, sagt mein Vater. Aber beiden ist klar, dass ein »Lebewohl« angemessener wäre.

Acht Stunden zuvor. Es ist Vormittag, der Besuch im Papafi liegt noch vor uns. Plötzlich tippt mir jemand auf die Brust. Mein Vater steht neben mir auf dem Aristotelous-Platz. Ich muss mehrere Augenblicke wie in einem Tagtraum an der Häuserecke gestanden haben. »Sag mal, träumst du, Junge?«, höre ich ihn fragen. »Was machst du hier?« Ich zucke mit den Schultern. Er mustert mich für einen Moment. »Siehst aus, als bräuchtest du einen Frappé«, sagt er. Ich nicke.
»Ich habe dich vorhin von der Ecke aus beobachtet«, erkläre ich leise, nachdem uns die Kellnerin zwei Frappé auf den Tisch gestellt hat. »Keine Ahnung, warum, aber es kam mir so vor, als würdest du nach etwas suchen. Ich habe mich gefragt, ob du dir hier nach all den Jahren in Deutschland vielleicht fremd vorkommst.« Überrascht sieht mich mein Vater an. »Erinnerst du dich an den letzten Tag des ›Griechen‹«?, fragt er.

Am 20. Mai 2009, einem Mittwoch vor gut einem Jahr, war der letzte Tag des »Griechen«. Ich erinnere mich: Viele Stammgäste, die sich von früher kannten, trafen sich wieder, sprachen über die gute, alte Zeit, die Siebziger, die Achtziger. Reinfried und Brigitte, Freunde meiner Eltern, schenkten ihnen einen verwackelten Videofilm, den sie in den Siebzigern bei sich im Garten gedreht hatten: Er zeigt meinen Vater, jung und mit dunklem Schnurrbart, meine Mutter mit aufgestecktem Haar, uns Kinder, die Ball spielen und jede Menge lachende Gesichter beim Grillen. Wehmut kam auf. Reinfried und Brigitte verlangten lautstark eine Rede. Andere Gäste stimmten mit ein: »Rede! Rede!« Am Ende war es ein ganzer Chor. Mein Vater stand hinter der Theke und strich sich über den Mund.

»Liebe Freunde«, sagte er lächelnd, »was soll ich noch große Reden halten? Ihr wisst doch schon alles über mich.« Es schien, als würde er kurz überlegen. »Einige von euch haben mich gefragt, ob ich nach all der Zeit in Deutschland überhaupt noch Grieche bin.« Er machte eine lange Pause. »Wisst ihr, ich habe mich nie als Xenos, also als Fremder, in Deutschland gefühlt. Warum? Weil ich schon als Kind überall der Xenos, der Fremde, war.« Mein Vater schaute auf meine Mutter, die neben ihm stand. Sie nickte. »Im Waisenhaus war ich fremd, in Thessaloniki war ich fremd, in Deutschland war ich auch fremd. Das Fremdsein steckte schon immer in mir drin, ich habe das nie anders gekannt. Aber trotz all der Widrigkeiten, die mir in Deutschland begegnet sind: rassistische Vermieter, unfreundliche Sachbearbeiter auf den Behörden, trotz der Tatsache, dass deutsche Truppen meinen Vater töteten: Muss ich heute all das nicht hintanstellen, zum Ende meines Lebens einen Strich, wie man so schön sagt, mal Bilanz ziehen?« – er machte wieder eine Pause und schaute in die Runde.
Als ob er in den Gesichtern seiner Gäste, seiner Freunde und seiner Familie nach der Antwort suchte.

»47 Jahre meines Lebens habe ich in diesem Land verbracht, vier Kinder in die Welt gesetzt, die in Deutschland aufgewachsen sind, hier leben.« Meine Geschwister und ich standen da wie aufgereiht, als er auf uns zeigte. Wir schauten uns gegenseitig an und mussten grinsen. »Deutschland ist unsere Heimat. Ich verdanke diesem Land mein Leben.« Applaus brandete auf.
Als mein Vater am Nachmittag wieder aus dem Papafi heraustritt und die Sonne auf sein Gesicht fällt, sieht er um Jahre gealtert aus. Es hat den Anschein, als hätte eine Zeitmaschine den 16-jährigen Christoforos geschluckt und den fast 71-jährigen wieder ausgespuckt. Er zieht eine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche, steckt sich eine Zigarette in den Mund. Er wirkt traurig. Ich gebe ihm Feuer. Er zieht den Rauch tief in die Lungen, stößt ihn aus der Nase – und sagt für Sekunden, die wie Minuten wirken, kein Wort.

Ich möchte ihn in den Arm nehmen, aber er kommt mir zuvor, legt seinen Arm um meine Schultern, als wäre ich ein alter Schulfreund, und fragt mich mit einem Lächeln: »Und, Kleiner, wie hat dir unsere Zeitreise gefallen?«

Und das ist so verdammt typisch für ihn! Da hat man in einem Moment Angst, er fällt gleich auseinander, und im nächsten Augenblick spült er mit einem Lächeln all die Gedanken um zerbrochene Fenster, leere Bücherregale, Kyria Mandraki, Museumscomputer und fünfzig Jahre Deutschland einfach weg – als wäre das ganze Leben nur ein Spiel, bei dem man gar nicht verlieren kann.

Wenn etwas typisch griechisch an meinem Vater ist, dann ist es nicht sein Aussehen, nicht die dunklen Augen, nicht die vielen Muttermale in seinem Gesicht. Es ist diese Eigenschaft, auch den traurigsten Momenten etwas Gutes abzugewinnen.

»Weißt du«, hat er mir mal erzählt, als wir vor Jahren am Grab seiner Eltern standen, »die meisten Menschen sterben nicht am Tag ihres Todes. Die meisten Menschen sterben am Tag, an dem sie ihre Hoffnungen und Träume aufgeben. Ich war immer voller Hoffnung, immer voller Träume.«

Bild: Klaus Fürmaier