Ich habe ihn nie tanzen sehen

Thomas Bärnthaler war ein Scheidungskind. Jetzt ist er mit seinem Vater in dessen Heimatdorf nach Österreich gefahren. Und hat dort eine ganz neue Seite an ihm entdeckt.

Es sind nur 450 Kilometer von München, knapp über vier Stunden, und doch führt die Reise, die mein Vater und ich unternehmen, viel weiter. Wir fahren nach Mureck, ein österreichisches Dorf an der slowenischen Grenze, das Dorf, in dem mein Vater groß wurde. Als wir dort das letzte Mal gemeinsam waren, hatte mein Vater einen roten Ford Taunus und der Bundeskanzler hieß Helmut Schmidt. Vor allem waren wir noch eine Familie. Mehr als dreißig Jahre ist das her.

Es ist nicht so, dass es seitdem keine Gelegenheit gegeben hätte. Mein Vater wollte oft mit mir Skifahren gehen, später, als ich kein Kind mehr war und bei meiner Mutter lebte. Wir haben es nie geschafft. Vielleicht war mir diese plötzliche Nähe suspekt, vielleicht war ich auch einfach nur jung und mit meinem eigenen Leben beschäftigt. Nun ist mein Vater 71. Und auch wenn ihn die meisten auf Ende fünfzig schätzen, bleibt uns nicht mehr ewig Zeit. Ich musste ihn keine Sekunde überreden.

Kurz vor Graz wird das Land weit. Zur slowenischen Grenze ist es noch ein Stück, doch der Balkan hat schon begonnen. Die südöstliche Steiermark ist eine Welt, die von der Zeit zurückgelassen wurde. Es gibt hier viele Schilder an den Fassaden, in den Fenstern, auf denen steht: »Zu verkaufen«. Der Mais steht hoch, die Häuser leuchten in Pastellrot und Gelb. Es ist eine Heimatfilmkulisse, doch in den herausgeputzten Dörfern sind kaum Menschen zu sehen. Eines dieser Dörfer ist Mureck. Ein Ort, der klingt wie ein Roman von Thomas Bernhard.

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Mein Vater wurde hineingeboren in eine Zeit, als der Staub des Krieges sich langsam legte und die Welt noch mal von vorn anfing. In Mureck führte er sein erstes Leben, bevor er sein zweites in München anfing. Auch ich war später als Kind oft dort, in den großen Ferien mit meinem Bruder, bei Tante Helli, der Schwester meines Vaters, die immer schon um zehn Uhr morgens anfing, Schnitzel zu panieren. Für mich war Mureck ein Ort, an dem nichts drohte. Die Erinnerung ist vage, aber noch wach: die endlosen von der Augustsonne gegerbten Maisfelder, die selbst gebauten Steinschleudern, mit denen wir die Vögel von den Bäumen holten, und die ersten Zigaretten, die wir im Schutz der Auwälder rauchten. Die Tage flossen dahin.

Noch bevor wir richtig angekommen sind, hat die Vergangenheit meinen Vater eingeholt. Ein Einheimischer sitzt in der Gaststube unserer Pension und grüßt. Der Mann sieht aus wie der späte John Wayne, nur feister: »Wir kennen uns von früher, du bist der Rudi, stimmt’s?« Mein Vater lacht unsicher und grüßt zurück. Oben im Zimmer sagt er: »Das war der Hansi. Der war bei der Fremdenlegion und hat in Indochina gekämpft.«

Wer hier lebt, ist entweder zurückgekommen oder nie weggegangen. So wie die Helli. Während ihre drei Geschwister ihr Glück weitab von Mureck fanden, darunter mein Vater, hat sie früh geheiratet und ein Haus gebaut. Wir sitzen in ihrer Küche und essen Schmalzbrote. Später gehen wir zum Dorffriedhof. Dort ist Irmgard begraben, die andere Schwester meines Vaters, die vor Kurzem gestorben ist. »Woran denkst du, wenn du an Heimat denkst?«, frage ich. Er sagt: »Es ist schön, hier zu sein, doch ich bin auch immer froh, wenn ich wieder weg bin.« Eines Tages aber wird er für immer heimkehren. Im Familiengrab ist ein Platz für ihn reserviert.

Ich habe meinen Vater nur einmal weinen sehen. Das war, als er seine zweite Frau zu Grabe trug, die mit 48 an Krebs gestorben war. Er ist ein Mensch, der nur ungern tief blicken lässt. Darin sind wir uns sehr ähnlich. Er ist eher ein pragmatischer Typ. Als ich ihm einmal erzählte, meine Freundin habe mich für einen anderen verlassen, sagte er nur: »Reisende soll man nicht aufhalten.« Damals fand ich diesen Satz zu läppisch für meinen Schmerz, heute weiß ich, dass er recht hatte.

Wir gehen den halben Kilometer durchs Dorf zur Brücke, sie ist immer noch da. Eine Eisenkonstruktion, vielleicht hundert Meter lang. Sie verbindet Österreich mit Slowenien. Darunter, entlang der Grenze, rauscht die Mur. Als Kind stand ich oft hier mit meinen Cousins und schaute rüber nach Jugoslawien, das damals noch sozialistisch war. Heute ist der Grenzposten verlassen und nichts zeugt davon, dass hier einmal ein wichtiger Brückenkopf des Deutschen Reichs war. Außer der sanft geschwungene Graben, der sich durch die angrenzenden Maisfelder zieht. »Das war der Panzergraben«, sagt mein Vater, »aber der konnte die Russen auch nicht aufhalten.« Wir sind hier, weil es ohne diese Brücke wohl weder meinen Vater noch mich heute geben würde.

Ein Tag im April 1945

Es war ein Tag im April 1945. Die Russen saßen bereits in Mureck. Mein Vater war fünf. Er lebte mit seiner Mutter und zwei kleinen Schwestern auf der anderen Seite der Mur, in Sichtweite der Brücke, die jetzt, nachdem die letzte deutsche Nachhut das Weite gesucht hatte und die Tito-Partisanen zu Rachefeldzügen anrückten, die falsche Seite war. Sie mussten hinüber, doch die Deutschen hatten die Brücke gesprengt. Nur ein paar verkeilte Eisenstreben führten noch übers Wasser. Mein Vater ging vor, danach seine Mutter, eine Tochter an der Hand, die andere mit einem Tuch an den Körper gebunden.

So hangelten sie sich hinüber, vorbei an den angeschwemmten Leichen, über den reißenden Fluss. Mein Vater hat mir zuvor nie davon erzählt, nur von den jungen Burschen, angebliche Deserteure, die am Hauptplatz in Mureck am Galgen hingen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es ist, inmitten von Schutt und Leid und Tod ein Kind zu sein. Doch mein Vater sagt nur: »Wir haben in den Ruinen gespielt. Wir haben Patronen gesammelt, die überall herumlagen, und daraus Böller gebastelt. Wir hatten unseren Spaß.«

Später fahren wir ins benachbarte Radkersburg, das heute ein Kurstädtchen ist, wo die Gasthöfe noch »Türkenloch« heißen. Wir stehen auf einer Wiese vor einem mittelalterlichen Festungsturm. Hier war die Mutter meines Vaters mit den Kindern nach dem Krieg untergekommen. Und mein Vater fängt an zu erzählen: von den Ritterrüstungen, die im Keller lagen, von den Sommern, die sie arbeitend auf den umliegenden Bauernhöfen verbrachten, gegen Kost und Logis. Und von seinem Vater, den er kaum je zu Gesicht bekommen hatte, der im Krieg als vermisst galt, aber wiederkam und trotzdem nicht blieb.

Nach kurzer Gefangenschaft fand er Arbeit in Salzburg und lernte eine andere kennen. Die Mutter hoffte noch lange. »Sie erwartete das dritte Kind von ihm.« Doch irgendwann warf sie den Ehering einfach aus dem Fenster. »Er muss hier noch irgendwo liegen«, sagt mein Vater ganz ohne Ironie.

Wenn mein Vater von seinem Vater spricht, ist da keine Zärtlichkeit, nur das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein. Er wollte es besser machen, doch auch die besten Vorsätze können eine kaputte Ehe nicht retten: Als ich sieben war, ließen sich meine Eltern scheiden. »Es ist mir nicht leicht gefallen zu gehen«, sagt er, »das kannst du mir glauben.« Heute weiß ich, es war besser so. Er heiratete wieder, bekam noch eine Tochter. Unsere Wege trennten sich, doch er stahl sich nicht aus meinem Leben davon.

Ich habe meinen Vater nie tanzen sehen, aber er muss ein guter Tänzer sein. Es gibt Fotos von ihm als junger Mann, wie er mit hübschen Mädchen im Arm über den Tanzboden fliegt. Auch heute geht er jede Woche tanzen: Paso Doble, Rumba, Samba, Mambo. Er fing damit wieder an, nach dem Tod seiner zweiten Frau. Es war seine Art, die große Leere danach wieder mit Leben zu füllen.

Anfangs brachte ich das Bild meines tanzenden Vaters nicht mit dem zusammen, das ich von ihm hatte: ein Mann, der immer eingespannt war, der viel arbeitete und nie über die Stränge schlägt. Doch dann kam der Ruhestand, seine Tochter wurde erwachsen und plötzlich gab es nichts mehr, das ihn davon abhielt, wieder der zu sein, der er mal war, bevor er Mureck verließ.

Wir klingeln bei Karl Petz, der früher nur der Karli war. Er empfängt uns in Unterhemd und Pantoffeln – ein alter Mann verglichen mit meinem Vater, obwohl sie fast gleich alt sind. Karlis Tanzdiele war die Attraktion in Mureck. Damals, als der Rock ’n’ Roll den Foxtrott ablöste und von einer neuen Zeit kündete. Heute ist die Tanzdiele Petz ein großes Wohnzimmer mit Einbauküche. Der Karli hat sie bald dichtgemacht, als alle seine Freunde weggingen, um ihr Glück woanders zu finden.

Er ist geblieben. Ja, ja der Rudi hat immer die neuesten Platten mitgebracht aus Graz. Den Elvis und den Calypso. Es war die Musik, die später auch bei uns zu Hause lief, als mein Vater nicht mehr tanzen gehen konnte, weil er Frau und zwei Kinder zu versorgen hatte. Der Banana Boat Song von Harry Belafonte gehört zu meinen ersten musikalischen Erinnerungen. Gut möglich, dass ich als Dreijähriger dazu getanzt habe.

Es waren drei gute Tage in Mureck. Ich weiß nicht, was besser war: zu sehen, mit welchem Stolz mich mein Vater zu den Stationen seiner Kindheit führte. Oder die Abende, in denen wir einfach auf unserem Hotelbett Fußball schauten, bis einer einschlief. Auf der Fahrt zurück halten wir noch mal in Graz. Mein Vater will sehen, ob der Druckereibetrieb noch steht, in dem er als junger Mann Anfang der Sechzigerjahre seine Ausbildung gemacht hat. Graz ist eine große Stadt im Vergleich zu Mureck. Warum ist er nicht hier geblieben? »Eines Tages kaufte ich mir eine Süddeutsche am Grazer Hauptbahnhof. Darin war eine Stellenanzeige in München. Ich schrieb hin. Die haben mich sofort eingeladen, haben Zug und Hotel gezahlt.« Er bekam die Stelle. Er fand ein Zimmer, draußen vor der Stadt. Er verliebte sich in die Tochter seiner Vermieterin: meine Mutter.

Bild: Klaus Fürmaier