Kurze Prozesse (V)

Ein Soldat der Bundeswehr steht vor Gericht. Nicht wegen Afghanistan, auch nicht wegen rechtsradikaler Umtriebe. Horst-Otto S. ist wegen einer Thrombose angeklagt. Und doch wird wieder einmal über die Armee an sich gerichtet.

Vor Gericht steht ein älterer Bundeswehrarzt, wegen fahrlässiger Tötung, und das Aufeinandertreffen zweier Institutionen der Disziplin – der Justiz und des Militärs – führt im Verhandlungssaal zu einer ungewöhnlichen Konstellation. Es befinden sich nur Würdenträger im Raum, als der Richter die Sitzung eröffnet. Was fehlt, ist das blasse Zentrum inmitten der glänzenden Roben, der in Zivil gekleidete Angeklagte, dessen mutloses Erscheinungsbild gewöhnlich die Machtverhältnisse von Anfang an sichtbar macht. Horst-Otto S. dagegen, Arzt in einer Berliner Kaserne, steht in hellblauem, uniformartigem Jackett neben dem Verteidiger, das Kreuz trotz seiner 78 Jahre durchgedrückt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Das weißgraue Haar wächst nur noch um den Hinterkopf herum, doch die Augenbrauen sind buschig und dunkel, was dem Gesicht sofort respekteinflößende Autorität verleiht. In seinen Blicken, die immer wieder zu dem hochdekorierten Bundeswehroffizier im Publikum hinüberwandern, streiten zwei konkurrierende Empfindungen: die jahrzehntelang erlernte Fähigkeit, Haltung zu bewahren, und die schiere Nervosität vor dem Kommenden.

Horst-Otto S. hat die Thrombose-Erkrankung eines Soldaten übersehen, die zu einer Lungenembolie führte. Der Unteroffizier Paul Jannek starb im Alter von 22 Jahren, nur einen Tag nach der letzten Untersuchung in der Kaserne. In den Zeugenaussagen der Kameraden und Freunde wird deutlich, dass der junge Soldat schon drei Monate vor seinem Tod anhaltende Schmerzen in den Beinen gehabt haben muss. S. verschrieb ihm damals Einlagen. Den Husten und die Atemnot in den letzten Wochen diagnostizierte er wiederholt als »Bronchitis«.

Wenn man die Erzählungen der Zeugen mit anhört, ist es fast unmöglich, den fehlerhaften Befund des Militärarztes nachzuvollziehen. Allerdings scheint es, wie die medizinischen Gutachter betonen, gerade zur Heimtücke dieser Krankheit zu gehören, dass die Patienten auch im lebensbedrohlichen Stadium phasenweise symptomfrei sein können. Den Angeklagten entlastet aber noch etwas anderes, und zwar die militärische Vorstellung von Tapferkeit. Im Zeugenstand sagt ein uniformierter Vorgesetzter des Toten: »Ein Unteroffizier geht erst dann zum Arzt, wenn er den Kopf unterm Arm trägt.« Er meint das flapsig, übertrieben, dem derben Humor des Offizierskasinos verpflichtet. Und doch bekommt der Satz in diesem Fall existenzielle Bedeutung: Denn er bestätigt die Aussage des Angeklagten, dass der Patient ihm gegenüber kaum von seinen Beschwerden gesprochen habe.

Meistgelesen diese Woche:

Überhaupt, so ein anderer Zeuge, wäre Paul Jannek gar nicht zum Arzt gegangen, wenn ihn nicht die Kameraden im Kasino darauf hingewiesen hätten, dass sein ständiges Husten am Esstisch unhygienisch sei. Was also wird hier eigentlich vor Gericht verhandelt? Die routinierte Gleichgültigkeit eines Arztes? Oder vielmehr die Mentalität der Bundeswehr, die ihre Untergebenen aus Angst vor Wehleidigkeit dazu bewegt, körperliche Beschwerden herunterzuspielen. Wenn jemand »fahrlässig« gehandelt hat, dann nicht allein der Arzt, sondern die Institution selbst und vielleicht sogar das Opfer, geprägt von einem zweifelhaften Ehrenkodex. Der Staatsanwalt fordert eine Freiheitsstrafe von einem Jahr, der Verteidiger Freispruch.

Nach den Schlussplädoyers wendet sich der Militärarzt an Paul Janneks Vater, der als Nebenkläger auftritt. »Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen«, sagt er, »obwohl ich mir keiner Schuld bewusst bin. Dass bei einem 22-jährigen Mann eine solche Krankheit vorhanden war, konnte man nicht erahnen.« Er spricht in derart schneidendem, offiziellem Ton, dass diese Sätze weniger den Charakter einer Entschuldigung haben als den einer Pflichterfüllung. Als der Richter das Urteil verkündet und Horst-Otto S. freispricht, sinkt der Kopf des Vaters auf den Tisch. Man glaubt zu spüren, wie sehr ihm die Vorstellung geholfen hätte, dass der Verlust seines einzigen Kindes auf eine klar bestimmbare Ursache zurückzuführen sei, auf einen zur Rechenschaft gezogenen Schuldigen. Nun bleibt das Unfassbare dieses Todes ohne Sühne, ohne Grund.

Illustration: Christoph Nieman