Die Könige des Bosporus

Istanbul, die Hunde, die Katzen – es ist ein merkwürdiges Verhältnis. Zu Millionen leben die Tiere auf den Straßen, halb gejagt, halb geliebt, manche von ihnen fast schon Prominente. Und so viel ist sicher: Ohne sie wäre die Geschichte der Stadt eine ganz andere.


Die Liebe zu Istanbul fängt man sich ein. Wie die zu einem seiner Straßenköter. Ein Blick genügt. Die Leute sagen, in Istanbul lebten 15, 16, 17 Millionen Menschen. Istanbul sei die größte Stadt Europas, das größte Dorf Europas. Die Leute schauen nicht genau hin. Es gibt noch ein Istanbul. Eine große, freie Vagabundenrepublik. Ein Reich derer ohne Namen, ohne Heim und ohne Gesetz. Derer ohne Halsband. Der Italiener Edmondo de Amicis wusste das. »Istanbul ist ein riesiger Zwinger«, schrieb er vor 150 Jahren. Ein großer Zoo. Der Mensch teilt sich diese Stadt mit unzähligen Kreaturen nicht weniger wunderlich als er selbst. Vor Kurzem versperrte mir unterhalb des Galataturms eine kämpferisch die Flügel spreizende Ente den Weg, bevor sie sich wieder ihrem Fressnapf zuwandte. Im Scherbenviertel Tarlabasi, nur ein paar Hundert Meter von der schicken Fußgängerzone entfernt, sieht man auch schon mal Schafe auf dem Asphalt grasen: Immigranten aus den Dörfern des türkischen Südostens.

Die Hunde, erzählen sie hier, seien im Gefolge von Sultan Mehmet, dem Eroberer, in Konstantinopel eingezogen. Die Katzen waren schon immer da. Die eine, die sie rund um den Galataturm »Sari« nennen, »die Blonde«, sowieso. Lange bevor die Künstler, die Boutiquen, die Spekulanten in dieses Viertel einfielen. Neun Leben soll eine Katze haben? »Die Blonde hat 99«, sagt Arif Asci, der Fotograf. »Mindestens.« Arif Asci sah die Blonde zum ersten Mal auf dem Heimweg, im Schaufenster eines Modegeschäftes. Sie saß dort wie eine ägyptische Statue. Die Istanbuler Katzen sitzen gern in Schaufenstern, sie wärmen sich am Licht der Scheinwerfer. Die Blonde ist eine Schönheit, ihr Fell mehr Bernstein als blond, der Schwanz buschig. »Nein«, sagte die Verkäuferin, »die Katze gehört nicht uns, die gehört der Straße.« Vielleicht gehört die Straße aber auch ihr.Er war schon vielen Heimat, dieser Ort, unterwarf sich schon vielen Herren. Die Griechen, die Römer, die Türken: Sie prahlten mit der Gründung, mit der Eroberung, mit dem Besitz dieser Stadt.

Meistgelesen diese Woche:

Derweil die Istanbuler Katzen: Sie lassen sich nichts anmerken, hüten aber ein Geheimnis. Istanbul ist ihre Stadt und der Mensch ihnen untertan. Tag für Tag wiederholt sich in Gassen, Parks und Hinterhöfen morgens und abends das gleiche Ritual, kommen beflissene Istanbuler aus ihren Wohnungen gelaufen, in der Hand den Napf mit Milch, mit Trockenfutter, mit Leber, Fisch und Fleisch, und rufen mit wispernden Tönen ihre Herrchen und Frauchen herbei. Einer dieser Katzenadjutanten wohnt bei uns im Haus, ein freundlicher älterer Herr, der einmal die türkische Marine befehligte, nun springen er und die für ihn im Ruhestand abgestellten Leibwächter für die Katzen in unserer Straße: Er füttert und er streichelt sie, er bringt sie regelmäßig zum Tierarzt, er bezahlt für ihre Sterilisierung. Nein, die Katzen leben nicht mit ihm in der Wohnung, sie leben auf der Straße. Wie fast alle Istanbuler Katzen.

Straßenkatzen. Das Wort ruft Bilder abgemagerter, schorfiger, scheuer Tiere hervor, die sich mit Kanalratten duellieren und in Müllhalden Essensreste und Krankheiten holen. Die Bilder treffen hier nicht ganz: weil viele Istanbuler zwar keine Tiere in die Wohnung lassen, aber dennoch verrückt sind nach ihnen. Und so hat jedes Haus, jede Gasse, aber auch jeder Palast und jede Moschee die eigenen Katzen, um die man sich mit Hingabe kümmert. Am Fischmarkt neben der Galatabrücke sonnen sie sich auf der Markise über den Ständen, und wenn sie Hunger haben, dann beugen sie sich vor und tippen dem Verkäufer mit der Pfote sanft auf den Kopf, woraufhin dieser gehorsamst eine Makrele hochreicht. Der Mufti von Üsküdar hielt kürzlich eine Predigt, in der er all jene pries, die ihr Leben den Katzen von Istanbul widmeten.

Arif Asci suchte eigentlich keine Katze, bevor er die Blonde sah. Er erfuhr, dass sie manche Nacht bei seiner Nachbarin Özlem im Stockwerk unten verbrachte und andere Nächte beim Nachbarn Engin über ihm. Eines Tages kratzte es an Arif Ascis Tür. Asci war gerade beim Kochen, Fisch und Raki für eine Runde Freunde. Die Blonde stand vor der Tür. Sie spazierte herein und sah ihm beim Kochen zu, aß ein wenig vom Seebarsch, und eine Weile später ging sie wieder. Aber nun kam sie öfter. Und einmal blieb sie über Nacht. »Nicht ich habe mir die Blonde ausgesucht«, sagt Arif Asci: »Die Blonde hatte sich mich ausgesucht.« Nie würde er sagen, die Blonde sei seine Katze: »Sie gehört Galata. Ich weiß von mindestens sechs Nachbarn, die sie besucht.

«Präsident Barack Obama machte den Istanbuler Katzen seine Aufwartung, als er auf seiner Istanbul-Reise die Hagia Sophia besuchte. Dort wurde er nicht nur vom türkischen Regierungschef empfangen, sondern vor allem – und zwar vor laufender Kamera – von der dreijährigen Gli, schon seit ihrer Geburt eine der sieben Hauskatzen der Hagia Sophia, die, zusammengerollt, vom Sockel einer Säule aus den Präsidenten beobachtete und dann ungerührt seine Huldigung entgegennahm. Auf dem Gelände des Topkapi-Palastes, erfuhr man bei dieser Gelegenheit, logieren dreißig Katzen. Für die Besucher vieler Etablissements im Ausgehviertel Beyoglu sind sie ohnehin alte Bekannte. Die Katzen von »Simurg«, dem linken Buchladen, zum Beispiel. Cimcime, die vor ein paar Jahren bei einem Unfall ihre linke Hinterpfote verlor, hat hier den Bildschirmschoner neu erfunden. Sie hatte nämlich die Angewohnheit, es sich oben auf dem Computerbildschirm an der Kasse bequem zu machen und dabei alle viere so hängen zu lassen, dass man schon zweimal hinsehen musste, um zu erkennen, dass da kein Katzenfell drapiert ist. Es war ein alter Röhrenbildschirm, schön warm.

»Als wir einen neuen Monitor brauchten, stellten wir erschrocken fest, dass man die alten gar nicht mehr kaufen kann«, erzählt der Besitzer. Sie haben jetzt einen LCD-Bildschirm, flach und kalt. Und Cimcime macht es sich seither auf dem Schoß von Kunden bequem, die im »Simurg« in den Ecken sitzen und lesen; gerade räkelt sie sich auf dem Schoß eines Geschichtsprofessors, der Gelehrte hält umständlich sein dickes Buch hoch über die Katze und schaut dabei recht hilflos drein. Die frühere Rektorin der Bosporus-Universität, Ayse Soysal, berichtet von den Katzen an ihrer Universität, die auch auf Tische klettern und am Unterricht teilnehmen. »Wenn die Studenten sie ärgerten, dann haben unsere Professoren sie daran erinnert, dass ein Student seinen Abschluss macht und weiterzieht, die Katzen aber immer an diesem Ort bleiben werden.«

»Istanbul macht verrückt nach Hunden«

... Und der Hund, ja, der gehört vermutlich zu der Hundegang, deren Anführer Taskafa, Steinkopf, hieß und die jahrelang das Viertel beherrschte. Heute sind nur noch zwei Hunde übrig.

Verstand und Diskretion. All das, womit Istanbuls Katzen ihr Glück gemacht haben, fehlt seinen Straßenhunden. Also auch das Glück. Ja, es gab immer auch Istanbuler, deren Herz an Hunden hing. Hunde gelten im Islam als unrein, aber schon frühe Beobachter berichten von der Tierliebe vor allem in muslimischen Stadtteilen: »Sie erhielten von den Läden und Häusern Brot, Knochen, Essensreste. Ältere Damen pflegten bei den Bäckern fünf oder zehn Brote zu kaufen und sie in großen Stücken an sämtliche Hunde zu verteilen. Das galt bei ihnen als frommes Werk. Und vielerorts ist das auch heute noch so. Ich kenne Istanbuler, die haben immer eine Großpackung Trockenfutter im Kofferraum ihres Autos, und wenn ihnen an irgendeiner Ecke eine knochige Töle ins Auge fällt, dann bremsen sie und verteilen das Futter.

In der Saray-Arkasi-Sokak, der »Straße hinter dem Palast« in Gümüssuyu, lebte die Hündin Sultan, der vor Jahren ein Auto ihre ersten Jungen überfahren hatte. Daraufhin kümmerten sich die Bewohner der Straße um Sultan, bestellten ihr ab und an chinesisches Take away, und hüllten sie, nachdem sie sich Arthritis eingefangen hatte, im Winter in Burberrymäntel. Nicht weit davon, vor dem »Marmara Hotel« am Taksim-Platz, lebte lange Jahre die vielleicht bekannteste Hündin der Stadt, Ebru. Ebru war von dem Luxushotel adoptiert worden. Das Hotel spendierte ihr eine komfortable Hütte direkt neben dem Haupteingang, ein Kellner servierte täglich die Mahlzeiten, und als Ebru starb, berief die Geschäftsführung eine Pressekonferenz ein. Gegenstand dieser Pressekonferenz war dann allerdings die Enthüllung einiger Tierschützer, wonach Ebru von Fußballfans zu Tode getreten worden sei – eine Nachricht, die das Hotel energisch bestritt: Dem »Marmara« zufolge war Ebru an Herzverfettung gestorben, was jenen, die Ebru gekannt hatten, als die nicht unwahrscheinlichste Todesursache erschien.

Tagsüber sind die Straßenhunde Istanbuls eine phlegmatische Sippe. Wenn die Nacht anbricht, dann rotten sich die eben noch trägen Hunde zu Banden zusammen und patrouillieren durch ihr Viertel, jederzeit bereit, in ohrenbetäubendes Geheule auszubrechen. Mein Freund Sinan ist nicht der Einzige, der einmal abends ins Kino wollte, nur um festzustellen, dass ihm ein Rudel zähnefletschender Hunde vor der Haustüre auflauerte. Die Meute jagte ihn zurück in die Wohnung. So etwas geschieht vor allem in Gegenden wie den unseren, wo es noch Grünflächen und Waldstücke gibt, in die sich die Hunde zurückziehen können.

Den Dichtern, den linken vor allem, waren sie immer Verbündete, die Katzen und Hunde der Stadt: geprügelt vom Leben wie von den Autoritäten. In seinem Das Gedicht mit dem Schwanz macht Orhan Veli die hungrigen Streuner zu Kommunisten. Die hunderttausend Straßenhunde von Istanbul haben viele Freunde, aber vielleicht haben sie noch mehr Feinde: Hunger, Durst, Furcht, Zecken, Flöhe, Würmer, Kälte, Regen, Krankheiten, boshafte Kinder und noch boshaftere Gemeindebürgermeister. Offiziell sind die Gemeinden angehalten, die Tiere einzusammeln, zu sterilisieren und gegen Tollwut zu impfen. Mehrfach aber wurden in den letzten Jahren Behörden dabei erwischt, wie sie die Hunde in Wäldern am Stadtrand aussetzten, sie dort verhungern oder vergiften ließen.

Ein solches Vorgehen der Obrigkeit hat Tradition. Sultan Abdülaziz (1861–1876) ließ alle Hunde auf die Insel Hayirsiz bringen, die »Insel der Nichtsnutze«, eine der unbewohnten Prinzeninseln. Bald darauf brachen Brände in der Stadt aus. Das Volk begann zu tuscheln: Gott hat uns bestraft, weil wir die Hunde weggeschafft haben. Der Sultan ließ sie wieder zurückbringen. Ein Chronist erinnert sich an eine weitere Deportation von 80 000 Hunden auf die Insel im Jahr 1910: »Mehrere Nächte lang konnte man ein schreckliches Heulen über das Marmarameer hinweg hören – noch fünfzig Jahre später erinnerten sich alte Männer daran. Dann fielen die Überlebenden übereinander her und zerrissen einander. Einige Monate lang schlief Konstantinopel fest und ruhig.

Dann hörte man hier und da ein Jaulen, junge Hunde tauchten wieder auf – die Nachfahren von übersehenen Straßenhunden in den Vororten. Die Hunde kehrten zurück. Und blieben bis heute. »Dein Blick trifft sie. Du fällst. Sie laufen. Eilen davon. Du wirst zum Verfolger. Verzweifelten. Jäger.« Schreibt die Schriftstellerin Perihan Magden. Nein, Istanbul tue nicht gut. Istanbul mache einen verrückt. »Verrückt wie ein Hund. Verrückt nach Hunden.« Ein Blick genügt. »Ohne es überhaupt zu merken: Die Menschen werden zu Hundemenschen und sind schockiert. Mit Recht: Es hat sie der Blick erwischt.« Der Blick der Straßenhunde, der Straßenkatzen. »Der schönsten streunenden Katzen und Hunde der Welt. Dieser Welt, meine ich.«