Der Überflieger

Im Jahr 1960 schlachteten die Menschen sechs Milliarden Hühner. 2010 werden es 45 Milliarden sein. Was ist da passiert? Über den unglaublichen Erfolg eines Nutztiers im Zeitalter der Globalisierung.

Das moderne Masthuhn heißt, genau genommen, gar nicht Huhn, sondern Ross 308 oder Cobb 500, manchmal auch SK88 oder ISA 30 MPK. Es stammt aus den Labors einer Handvoll weltweit operierender Zuchtfirmen – Aviagen, Cobb-Vantress, Hubbard oder Nutreco – und hat auch sonst wenig mit den Artgenossen in freier Natur gemein: Nach dem Schlüpfen wiegt es 40 Gramm, drei Tage später das Doppelte, nach einer Woche das Fünffache, nach einem Monat das 38-Fache. Das bedeutet: Schlachtreife. Rekordverdächtig auch die Futterverwertung: 1,6 Kilo Futter wandelt das Huhn in ein Kilo Fleisch um. Ein Schwein muss drei Kilo fressen, um ein Kilo zuzulegen, ein Rind acht Kilo. Vor 50 Jahren musste ein Huhn dreimal so viel fressen und benötigte trotzdem doppelt so lange, bevor es ein heute übliches Schlachtgewicht von 1500 Gramm erreichte.

Die Züchter haben das Masthuhn über die Jahre gründlich umfunktioniert, zu einer »hocheffizienten Maschine, die Getreidefutter in billiges, proteinreiches Tierfleisch verwandelt«, wie es der amerikanische Historiker William Boyd ebenso bewundernd wie schaudernd formuliert. Diese Maschine frisst doppelt so schnell wie eine Legehenne. Sie frisst auch, wenn der Nährstoffbedarf schon gedeckt ist, bis nichts mehr in den Magen passt. Dafür bewegt sie sich wenig, fliegt und flattert kaum. Gegen Ende der Mast ruht sie fast nur noch – die Knochen wachsen einfach nicht so schnell wie die Schenkel oder das Brustfleisch. Den Mästern kommt dieses passive Verhalten entgegen: Weniger Bewegung bedeutet weniger Energieverbrauch, also höhere Gewichtszunahme.

Eine geschundene Kreatur? Oder ein hochqualitatives Lebensmittel, wie die Hühnerproduzenten beteuern? So oder so hat das moderne Masthuhn fast jeden Winkel der Erde erobert: 1960 wurden weltweit sechs Milliarden Hühner für den menschlichen Verzehr geschlachtet, inzwischen sind es mehr als 45 Milliarden pro Jahr. Spätestens 2018 wird das Huhn das Schwein als wichtigsten Fleischlieferanten abgelöst haben, schätzt die Welternährungsbehörde FAO.

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Der globale Siegeszug des Huhns erklärt sich nicht allein mit der optimierten Genetik: Der gesamte Produktionsprozess, von der Brut bis zum Brustfilet, hat sich gewandelt, hat einen ähnlichen Grad an Planbarkeit und Effizienz erreicht wie eine Autofabrik – und das, obwohl der Rohstoff nicht Aluminium, Stahl oder Plastik ist, sondern ein lebendiger Organismus. Veränderte Essgewohnheiten, in reichen wie in armen Ländern, haben die Entwicklung angetrieben. Nicht einmal Tier- und Umweltschutz scheinen die industrielle Massenerzeugung von Hühnern zu bremsen. Im Gegenteil.
Osterhofen, ein Dorf zwischen Straubing und Passau in Niederbayern.

Vor vier Tagen hat der Landwirt Herbert Jakob eine neue Lieferung bekommen, 25 000 Küken, frisch geschlüpft. Sein Stall misst 85 mal 14 Meter, 21 Küken teilen sich einen Quadratmeter. Ein gelber Teppich, aus dem es ab und zu piepst. Wenn überhaupt, riecht es nach dem Stroh, das auf dem Boden liegt. Über die ganze Länge des Stalls sind Rohre installiert, an denen alle halbe Meter, für die Hühner bequem erreichbar, Behälter mit Futter und Wasser hängen. Fenster hat die Halle nicht, dafür strahlen Hochfrequenzlampen von der Decke. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass normale Glühlampen auf Hühner ähnlich wirken wie Stroboskop-Leuchten in der Diskothek auf den Menschen – nur eine von vielen Erkenntnissen, die man heute über das Huhn besitzt. Kein anderes Tier der Erde wurde so gründlich erforscht. Der Stall ist momentan auf 31,4 Grad geheizt, die jungen Tiere brauchen Wärme. Wenn sie größer sind und deshalb näher zusammenrücken, wird Jakob die Temperatur auf 22 Grad senken. Genau das ist seine Aufgabe: dafür zu sorgen, dass sich die Tiere wohlfühlen. Dann setzen sie am schnellsten Fleisch an.

Vom Vorraum aus werden Temperatur und Luftfeuchtigkeit gesteuert, Computer zeigen ständig an, wie viel die Hühner trinken und fressen. Wenn die Tiere in den Ecken kauern, weiß Jakob, dass sie frieren, und dreht die Heizung hoch. Sitzen sie im Sommer hechelnd am Boden, schaltet er die Sprühkühlung ein. Legen die Tiere zu viel Gewicht zu, mischt er dem Futter Weizen bei, wachsen sie zu langsam, gibt es mehr Proteine. Nicht zu dick, nicht zu dünn dürfen die Hühner sein, damit sie die Maschinen im Schlachthof verarbeiten können. Ein Notstromaggregat stellt sicher, dass die Stalltechnik auch funktioniert, wenn anderswo die Lichter ausgehen.

Jede Unterbrechung wäre fatal, denn Jakob ist fest in die Produktionskette der Hähnchenfirma Wiesenhof eingebunden. Noch bevor die Küken angeliefert werden, steht der Termin für die Schlachtung fest, ja sogar das Gewicht, das Jakobs Hühner dann auf die Waage bringen müssen, und wie viele seiner Hühner als ganze Hähnchen im Kühlregal beim Supermarkt enden werden oder als Schenkel, Brustfilet und Chicken Wing. Damit er »just in time« liefern kann, prüft Jakob jeden Tag genau, ob seine Hühner die vorgeschriebene Menge an Gewicht zunehmen, in den ersten Tagen durchschnittlich etwa zehn, nach einem Monat fast 100 Gramm.

Ein Masthuhn wiegt nach dem Schlüpfen 40 Gramm, nach zwei Wochen das 10-Fache, nach einem Monat das 38-Fache. Dann wird es geschlachtet.

Zur Mistgabel greift der Landwirt nur noch selten. Die meiste Zeit nimmt Jakob die Rolle des Stallmanagers ein, beobachtet seine Tiere, analysiert und kontrolliert die neuesten Daten aus dem Computer, ohne den »ein Hühnerstall heute nicht mehr zu betreiben ist«. Für 33,15 Cent pro Stück kauft er die Küken bei Wiesenhof ein, Impfungen inklusive. Am Ende der Mast zahlt ihm Wiesenhof 90 Cent pro Kilo Fleisch. Weil die Technik mittlerweile so aufwendig ist und der Gewinn pro Hähnchen nur noch zehn Cent beträgt, lohnt sich die Hühnerhaltung erst ab einer gewissen Größe. Der Trend geht zu Ställen mit 40 000 Hühnern. Jakobs Vater begann die Hühnermast 1958 mit 3000 Küken, die er im Dachgeschoss über dem Schweinestall unterbrachte. Die Tiere wurden aufgezogen, mit Futter aus dem Großhandel, und irgendwann vom Schlachthof abgeholt – egal, welches Gewicht sie gerade hatten. Sohn Herbert Jakob ist heute verpflichtet, das Futter von Wiesenhof abzunehmen. Die Hähnchenfirma betreibt eigene Futtermühlen, um beim Endverbraucher damit werben zu können, dass die Hühner in Deutschland gebrütet, gemästet und geschlachtet wurden und nur in Deutschland produziertes Futter gefressen haben.

Natürlich hatte Jakobs Vater auch keine Desinfektionswanne vor der Stalltür, wo jeder Besucher vor Betreten die Schuhe reinigen muss. Der Hühnerstall ist heute ein Sicherheitstrakt, kein Zutritt ohne Schutzanzug und Schutzhaube. Noch rigider sind die Vorschriften in den fünf Brütereien, von denen aus Wiesenhof seine bundesweit 800 Vertragsmäster mit Küken versorgt. »Dort geht es reinlicher zu als in jedem Krankenhaus«, sagt Josef Bachmeier, der für Wiesenhof die Geschäfte in Süddeutschland leitet. Die Mitarbeiter müssen sich vor Dienstantritt einer intensiven Körperwäsche unterziehen. Die Luft wird mit UV-Licht gefiltert, damit auch auf diesem Weg keine Krankheitserreger in die Brüterei gelangen.

Inkubatoren brüten die Eier, nicht etwa die Elterntiere. Das wäre ineffizient: Wenn die Henne brütet, kann sie keine Eier legen. Außerdem würden die Hühnereltern das Ei – und damit das Endprodukt – nur mit Keimen verseuchen. Bei einer Lebenszeit von einem Monat bleibt den Masthühnern kaum Zeit, ihr Immunsystem der Umwelt anzupassen. Also wird die Umwelt dem Tier angepasst. Vor dem Stall von Herbert Jakob war früher ein Taubenschlag – er fiel den Hygienevorschriften zum Opfer, die Wiesenhof seinen Mästern vorgibt. Schweine sind im Moment noch erlaubt, »könnten aber zum Problem werden«, ahnt der Wiesenhof-Manager Bachmeier und verweist auf die Schweinegrippe. Für Jakob kein Problem – sein Vater hat sich schon vor 50 Jahren ganz auf Hühner spezialisiert.

Bogen bei Straubing, Anlieferungshalle der Wiesenhof-Schlachterei. Im Zeitlupentempo lädt ein speziell entwickeltes Transportsystem Container für Container aus dem gerade vorgefahrenen Lkw auf ein Förderband. Auch kurz vor ihrem Tod sollen die Hühner keinen Stress verspüren. 22 Container passen in einen Lkw, ein Container hat mehrere Fächer, in denen insgesamt 350 Hühner sitzen. Das Förderband ist 72 Meter lang, bis zum Ende dauert es noch anderthalb Stunden. Zeit für die Hühner, sich mit der neuen Umgebung vertraut zu machen. Stoisch sitzen sie in ihren Behältern, das blaue Licht in der Halle wirkt zusätzlich beruhigend. Am Ende des Förderbands wird der Container gekippt wie eine Mülltonne beim Entleeren, und die Hühner fallen in einen Schacht. Dann prüft ein Laserstrahl, ob die Container auch wirklich leer sind.

Auf einem Band gleiten die Tiere nun einzeln durch eine rechteckige, silberne Röhre, mit kleinen Fenstern an der Seite. Es wird Kohlendioxid eingeleitet, langsam steigt die Dosis. Am Ende werden die bewusstlosen Tiere aus der Röhre geworfen, dann getötet. In weniger modernen Schlachtanlagen hängen die Tiere lebendig mit den Füßen an einer Förderkette und tauchen mit dem Kopf in ein Wasserbad, das unter Strom steht. Tierschützer kritisieren dieses Verfahren zur Betäubung der Tiere seit Langem, die Hühner würden dabei extrem gestresst, und Jürgen Loibl, der Leiter des Schlachthofs in Bogen, hat die Kritik angenommen. »Tierschutz ist wichtig«, sagt Loibl, »er bedeutet immer auch eine Verbesserung der Qualität.«

1923       1933          1943        1953        1963         1973
Früher erkrankte und starb jedes fünfte Huhn während der Mast. Dank besserer Hygiene und Medikamente sank dieser Anteil auf etwa drei Prozent. Auch so steigerte die Industrie ihre Produktivität.

Je entspannter die Tiere vor der Schlachtung sind, desto zarter ihr Fleisch. Das honorieren die Endkunden: Während der Absatz beim fasrigen Putenfleisch in Deutschland stagniert, wächst der Verbrauch von Hähnchenfleisch Jahr für Jahr, derzeit um 400 Gramm pro Kopf. Ab März wird Loibl die Kapazität der Anlage erhöhen, von 190 000 auf 240 000 Schlachtungen täglich.

In Spitzenzeiten kann er seine beiden Produktionsbänder schon jetzt auf je 12 000 Tiere pro Stunde hochfahren. Seit 1970 hat sich die Fließbandgeschwindigkeit in den Hühner-Schlachthöfen vervierfacht. Das liegt vor allem an den Robotern, die immer anspruchsvollere Tätigkeiten übernommen haben. Sie entfernen die Federn und Eingeweide der getöteten Tiere, enthäuten sie, lösen das Fleisch von den Knochen und zerlegen es in Teile. Auch die Qualitätskontrolle wurde mechanisiert: Sind die Tierkörper vom Federkleid befreit, befördert sie das Band an einer Kamera vorbei, die jedes Tier fotografiert. Ein Computerprogramm prüft, ob die Hähnchen Blutergüsse oder Risse in der Haut aufweisen, ein Bein oder ein Flügel gebrochen ist. Dann sind die Tiere nicht mehr als ganze Hähnchen zu verkaufen, sondern nur als Teile. Beim Zerlegen der Tiere prüfen Scanner, ob das Fleisch Fremdkörper aufweist, Knochenreste zum Beispiel. Die fehlerhaften Hühnerteile werden entweder beseitigt oder von den Mitarbeitern mit dem Messer nachbearbeitet.

Der Teil des Schlachthofs, in dem den betäubten Hühnern die Kehle durchgeschnitten wird und die Körper ausbluten, ist übrigens nach Mekka ausgerichtet. Ein muslimischer Mitarbeiter schaltet frühmorgens das kreisförmige Messer am Förderband an und überwacht, ob die Tiere nach dem Schnitt auch wirklich tot sind. Falls nicht, legt er selber Hand an. Dieses Zugeständnis an die multikulturelle Gesellschaft hat die Schlachterei gern gemacht, weil sie dafür das sogenannte Halal-Zertifikat erhielt. Damit kann Wiesenhof auch gläubige Muslime mit Fleisch versorgen, ein wachsender Markt in Deutschland.

»Ein Huhn in jedem Topf und ein Auto in jeder Garage.« Mit diesem Slogan tritt der Republikaner Herbert Hoover 1928 zur Wahl des amerikanischen Präsidenten an. Das Huhn ist zu dieser Zeit noch ein knappes Gut, das in den USA – wie auch im Rest der Welt – in Hinterhöfen großgezogen wird, meist von den Bäuerinnen, die sich damit ein kleines Zubrot verdienen. Aber in den Tierlabors bahnt sich bereits die Revolution an: Das Huhn gilt als beliebtes, weil unkompliziertes Versuchskaninchen. An ihm wird experimentiert, wie Proteine, Kohlenhydrate oder Vitamine das Wachstum der Tiere beschleunigen und welches Getreide sich am ehesten für diesen Zweck eignet. Für Zuchtexperimente erweist sich das Huhn ebenfalls als ideal, weil zwischen zwei Generationen nur wenige Monate liegen. Mögliche genetische Fortschritte können am Nachwuchs also wesentlich schneller studiert werden als bei Rind oder Schwein, was schnellere Fortschritte bei der Zucht ermöglicht.

Die Ergebnisse dieser Forschungen setzen die Hühnerproduzenten bald in ihren Betrieben um, als die Nachfrage zu steigen beginnt. In den Dreißigerjahren essen vor allem die amerikanischen Juden Hühnerfleisch, das Schwein ist aus religiösen Gründen tabu. Nach dem Zweiten Weltkrieg entdecken die übrigen Amerikaner, vor allem in den Großstädten, das weiße Fleisch als gesunde Alternative zu Rind und Schwein. Zwischen 1940 und 1960 verdoppelt sich der Pro-Kopf-Verbrauch der US-Bürger auf 15 Kilo pro Jahr. Gleichzeitig verbilligt sich das Fleisch um 30 Prozent, weil die Hühnerindustrie ihre Produktion fortwährend steigert und optimiert.

Marktforschungen ergeben jedoch, dass die Verbraucher das Hähnchen nicht als Fleischmahlzeit wahrnehmen, sondern nur als Fleischersatz. Richtiges Fleisch kommt in verschiedenen Variationen, als Steak oder Roastbeef, Speck oder Kotelett. Ein Huhn bleibt immer nur ein Huhn. Die Hersteller beginnen deshalb, ihr drei Pfund schweres Einheitsprodukt zu veredeln. Erste Fertiggerichte und Teilstücke kommen auf den Markt, Fastfoodketten nehmen Chickenburger und Nuggets in ihr Angebot auf. Aus dem Hähnchen wird convenient meat, Fleisch, das die Verbraucher einfach und schnell zubereiten und verzehren können. Die neuen Produkte sprechen Singles wie berufstätige Frauen an, zwei stark wachsende Gruppen der modernen Gesellschaft. Mitte der Neunzigerjahre machen die Teilstücke 85 Prozent des verkauften Hähnchenfleischs aus, ganze Hühner nur noch 15 Prozent. Etwa zur selben Zeit löst das Huhn in den USA das Rind als wichtigste Fleischquelle ab. Jeder Amerikaner verzehrt im Schnitt pro Jahr 45 Kilo Fleisch von einem Tier, das noch 60 Jahre zuvor auf dem Speiseplan des Landes keine Rolle spielte.

In Deutschland verläuft die Entwicklung ähnlich, nur mit zehn bis 15 Jahren Verzögerung. Und es sind weniger die Fastfoodketten, die das Wachstum der Hühnerbranche beschleunigen, als vielmehr die Lebensmitteldiscounter, die seit dem Ende der Neunzigerjahre Frischfleisch in ihren Kühltheken auslegen. Das billige Hühnerfleisch setzt sich auch bei den preisbewussten Deutschen mehr und mehr durch. Während der Konsum von Rind und Kalb seit 1997 um 15 Prozent schrumpfte und der Verbrauch an Schweinefleisch stagniert, wuchs der Geflügelabsatz um 25 Prozent.

Auch beim Hühnerkonsum gibt es eine Verschiebung: Im Jahr 2000 kaufen die Deutschen noch ebenso viel frisches wie tiefgefrorenes Hähnchenfleisch, 2010 beträgt der Frischfleischanteil bereits 70 Prozent. Die Folge: Trotz weltweit ähnlicher, hocheffizienter Produktionsmethoden ist das Geschäft mit den Hühnern bis heute eine weitgehend lokale Angelegenheit. Der Handel über Kontinente hinweg rechnet sich nicht: Frischfleisch verdirbt nach wenigen Tagen; als Transportmittel über lange Distanzen käme nur das Flugzeug infrage. Doch dafür sind die Gewinnmargen beim Huhn zu gering.

Andererseits bleibt es nicht ohne Konsequenzen, dass sich Millionen Menschen in reichen Ländern auf das Brustfilet der Hühner stürzen und den Rest verschmähen. Seit etwa zehn Jahren wird Afrika mit Hühnerteilen aus Europa, Nordamerika und Brasilien überschwemmt: 2009 waren es mehr als 600 000 Tonnen, was immerhin der Jahresproduktion der Niederlande entspricht, einer der wichtigsten Hühnerproduzenten Europas. Nach Angaben des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED) handelt es sich dabei vorwiegend um Flügel oder Hühnerbeine, Teile eben, die sich in Europa vielerorts nur noch schwer verkaufen lassen – und es sei billiger, sie nach Afrika zu liefern, als sie zu entsorgen. Schiffe bringen die gefrorene Ware in riesigen Kühlcontainern dorthin, doch vor Ort reißt die Kühlkette ab.

Das weltweite Pro-Kopf-Verbrauch an Hühnerfleisch hat sich seit 1960 mehr als vervierfacht. Ob in reichen oder in armen Ländern, überall ist das vergleichsweise billige Geflügel begehrt.

Sichtbar wird das an den Marktständen, wo die Händler die angetauten Teile unter der sengenden Sonne anbieten. Laut Rudolf Buntzel, dem Welternährungsbeauftragten des EED, ruinierte die Einfuhr der Hühnerteile zu Dumpingpreisen nicht nur die Kleinbauern in den betroffenen Ländern, es häuften sich auch die Fälle von gefährlichen Darmerkrankungen. Auf den Straßen von Kamerun habe das importierte Fleisch einen eigenen Namen: le poulet de la mort. Hähnchen des Todes. Buntzel sagt, die deutsche Hühnerwirtschaft beteilige sich an diesem Handel, mit 40 000 Tonnen Hühnerfleisch pro Jahr. Die Verantwortlichen in Deutschland beeindruckt dieser Vorwurf jedoch kaum. Sie haben andere Sorgen.

Rechterfeld in Niedersachsen, Sitz der PHW-Gruppe, zu der auch die Marke Wiesenhof gehört. Das Dorf hat etwa 1200 Einwohner, die nächsten größeren Städte, Bremen und Osnabrück, sind knapp eine Autostunde entfernt. Doch die geografische Nähe trügt, »die meisten Stadtbewohner sind völlig von der Landwirtschaft entfremdet«, klagt Paul-Heinz Wesjohann, der Firmenpatron. Bis in die Siebzigerjahre seien sie noch »über unsere Produktionsweisen informiert« gewesen. Aber heute?

Tags zuvor hat die Bild-Zeitung auf Seite eins über den schwer kranken Kater Maxi berichtet. Sein Besitzer, ein Diplom-Kaufmann aus Hannover, kündigte an, er wolle das Tier nach Amerika ausfliegen, um ihm für 7000 Euro eine neue Niere einpflanzen zu lassen. Auch Wesjohann ist der Artikel aufgefallen, er schüttelt den Kopf. In seinen Augen ist es genau diese Mischung aus Rührseligkeit und Ignoranz, die die Leute anfällig macht für die Propaganda radikaler Tierschützer. Und deren Angriffe würden »jedes Jahr schlimmer«: Erst tauchte ein Video der Tierrechtsaktivisten von PETA im Internet auf, das angebliche Misshandlungen von Hühnern im Stall eines Wiesenhof-Mästers zeigte. Dann brannten Mitglieder einer Gruppe, die sich Animal Liberation Front nennt, einen neuen Hühnerstall bei Hamburg nieder. Schließlich ging bei der PHW-Gruppe der Drohbrief eines Tierschützers ein; in dem Umschlag steckte auch eine Patrone. Paul-Heinz Wesjohann kann die Anfeindungen nicht verstehen: »Seit 40 Jahren versorgen wir die Menschen mit Fleisch von guter Qualität, zu einem Preis, den sich jeder leisten kann, nicht nur die Reichen. Das ist doch eine große soziale Tat.«

Trotzdem regt sich auch in der restlichen Bevölkerung Widerstand gegen die Produktionsmethoden der Hühnerindustrie: Egal ob der Wiesenhof-Konkurrent Rothkötter einen neuen Schlachthof in Niedersachsen plant oder der Wiesenhof-Landwirt Konrad Loibl einen Hühnerstall mit Biogasanlage in Niederbayern – stets bildet sich eine Bürgerinitiative gegen das Projekt. Einige Initiativen haben sich zu einem bundesweiten Netzwerk zusammengeschlossen. Es heißt »Bauernhöfe statt Agrarfabriken«.

Bauernhöfe? Vor sechs Jahren brachte Wiesenhof das »Weidehähnchen« auf den Markt. Es war ein Hähnchen wie vom Bauernhof: wuchs im Freien auf, in 54 statt in 30 Tagen wie das normale Masthuhn. Das bayerische Umweltministerium verlieh Wiesenhof dafür sogar einen Tierschutzpreis. Im Handel kostete das Weidehähnchen doppelt so viel wie die anderen Hähnchen. Das war zu viel, das Weidehähnchen blieb von Anfang an weit hinter den Verkaufserwartungen zurück. Dann kam die Vogelgrippe, und die Freilandhaltung wurde zum Problem. Wiesenhof beschloss, das Weidehähnchen künftig als Biohuhn zu verkaufen. Biohühner dürfen laut den Richtlinien der EU auch im Stall großgezogen werden – der Unterschied zum normalen Masthuhn besteht nur darin, dass sie langsamer wachsen und Ökofutter bekommen.

Derzeit schlachtet Wiesenhof etwa 4,5 Millionen Hühner pro Woche – 10 000 davon sind Biohühner. Und der Firmenpatron Paul-Heinz Wesjohann hat seine Lektion gelernt: Die meisten Verbraucher wollen kein Weide- oder Biohuhn. Sie wollen vielleicht auch keine Agrarfabriken. Aber sie wollen Hähnchen, und zwar zu einem Preis, wie ihn nur Agrarfabriken anbieten können.

Aber es ist nicht allein der Preis, der dem Produkt Masthuhn eine glänzende Zukunft beschert, sagt Hans-Wilhelm Windhorst, Agrarprofessor in Vechta. Wegen seines fettarmen Fleisches werde es eine immer größere Rolle im reichen Westen spielen, wo man schon heute gegen die Folgen der Überernährung kämpft. Und für die ärmeren Länder sei das Geflügeltier wegen seiner Größe ideal: Eine Familie kann ein geschlachtetes Huhn vollständig aufessen. Nicht jedoch ein Schwein, es muss über Wochen gekühlt werden – ein beträchtliches Problem in den ärmeren Regionen der Erde. Deshalb hält Windhorst die Proteste deutscher Tierschützer für ein Luxusphänomen. Kürzlich sprach er auf einer Welternährungskonferenz mit dem Vertreter Chinas. Der meinte, in seinem Land gelte es, die Versorgung von 1,3 Milliarden Menschen mit Lebensmitteln sicherzustellen. Dabei sei es sekundär, wie sich das Huhn fühlt. »Wenn wir die Welt ernähren wollen«, sagt Windhorst, »müssen wir den technischen und wirtschaftlichem Fortschritt in vollem Umfang ausnutzen.«

Selbst von den derzeit steigenden Getreidepreisen werde das Huhn profitieren, wegen seiner überragenden Futterverwertung, sagt der US-Agrarökonom Paul Aho. »Das Rind wird reiner Luxus. Das Schwein auch. Das Huhn wird alles überflügeln.« Und doch gebe es eine Unbekannte in dieser Rechnung: Die Welternährungsbehörde FAO schätzt, dass sich die Getreideproduktion verdoppeln müsse, um die künftig acht bis neun Milliarden Menschen auf der Erde zu ernähren. Bei allem Glauben an den technischen Fortschritt, zweifelt Aho, ob das möglich ist. 1972 erschien ein Buch, das die Endlichkeit natürlicher Ressourcen anmahnte, Die Grenzen des Wachstums. Die Autoren wurden später häufig belächtelt, die Welt sei ja doch nicht untergegangen.

Aho fiel das Buch kürzlich wieder in die Hand: »Die meisten Aussagen bezogen sich gar nicht auf die damalige Zeit. Die Autoren haben geschrieben, dass wir ab dem Jahr 2030 Schwierigkeiten bekommen.« Als Aho das las, war ihm gar nicht zum Lachen zumute.

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Vor acht Jahren schrieben wir über Henni, das Huhn, das wir aus einer Legebatterie befreiten. Lesen Sie hier noch einmal die Geschichte, die damals viele Leser aufwühlte.

Fotos:Getty; Fotolia Illustrationen: Dirk Schmidt