Die Gewissensfrage

Ach du lieber Schwan! Darf man auf einer Hochzeit nach anderem Essen verlangen, wenn man mit dem Menü nichts anfangen kann?

»Vor Kurzem waren mein Mann und ich zu einer Hochzeit eingeladen. Als Festessen wurde Schwan serviert – als Vorspeise und als Hauptgang. Der Gastgeber verriet zunächst nicht, was es war, die Gesellschaft durfte raten. Als ich hörte, dass es Schwan war, verging mir der Appetit, ich brachte kaum etwas hinunter. Ein anderes Gericht gab es nicht. Offen gestanden empfand ich das als Zumutung. Ich wollte dem Brautpaar aber nicht den Abend verderben. Hätte ich trotzdem etwas anderes verlangen können?« Karin I., Aachen

Sie schreiben, dass Ihnen der Appetit vergangen ist und Sie es nicht schafften, den Schwan zu essen. Das klingt nach einer Art von Ekel, obwohl der Schwan offenbar weder eklig roch noch schmeckte – nach meinen Recherchen handelte es sich dann wohl um ein Jungtier –, und das eröffnet eine interessante Perspektive: Neben der physiologischen Hauptfunktion des Ekels als Schutz vor Ansteckendem, Giftigen oder Verdorbenen wird in der Moralpsychologie die These vertreten, dass Ekelgefühle mit der Übertretung von Regeln gegen Vorschriften der Reinheit, des Göttlichen oder der Natur verbunden sind.

Trifft das hier zu? Schwäne sind Entenvögel, gehören zu den Gänsen. Enten wie Gänse essen die meisten Menschen ohne Bedenken, deshalb ist es interessant, warum das bei Schwänen nicht so ist. Schließlich galten Schwäne auch hierzulande lange Zeit als Festtagsbraten der Herrscher, also als etwas ganz Besonderes, das oft auch aufwendig unter einer Haube aus dem weißen Federkleid aufgetragen wurde.

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Vermutlich liegt es daran, dass der Schwan in vielen Kulturen metaphorisch aufgeladen wird als Sinnbild der Liebe aber auch der Reinheit; ihn zu essen kann man daher als Tabubruch auffassen. Überspitzt hatten Sie womöglich das Gefühl, symbolisch die Braut zu verspeisen. Das kann niemand von Ihnen verlangen, schon gar nicht am Tage der Hochzeit. Aber auch sonst vertrete ich die These, dass man – spätestens seit dem Tod Kaiser Caligulas, dem bösartige Scherze mit ungenießbaren Gerichten nachgesagt werden – nur in ganz besonderen Fällen gezwungen sein kann, aus Etikettegründen das Aufgetragene wider den eigenen Willen hinunterzuwürgen.

Berechtigt Sie das, etwas anderes zu verlangen? Meiner Meinung nach: nein. Trotz ihrer Verantwortung für die grenzwertige Speisenfolge scheidet es aus, das Brautpaar am Festtag damit zu belästigen. So diejenigen, die für das Essen zuständig sind, nicht erkennbar überlastet sind, kann man vorsichtig nachfragen, ob es auch eine Alternative gibt. Falls nicht, kann man sich an die Beilagen halten oder auf den Nachtisch hoffen. Im Übrigen ist es auch keine Katastrophe, wenn man, statt sich wie üblich bei derartigen Festivitäten zu überfressen, an diesem Tag einmal ein bisschen weniger isst. Sie sind schließlich wegen des Brautpaars dort und nicht wegen des Essens.


Literatur:

Gerd Unverfehrt, Wein statt Wasser. Essen und Trinken bei Jheronimus Bosch. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2003. Zu dem auf dem Bild „Die Hochzeit zu Kana, das im Museum Boijmans van Beuningen in Rotterdam hängt erläutert Unverfehrt die Symbolik des Schwans, seine historische Bedeutung als Speisevogel für Feste, sowie Farbe und Konsistenz des Schwanenfleisches. Im Anhang finden sich Schwanenrezepte aus mehreren Jahrhunderten.

Abgesang des gebratenen Schwans aus den Carmina Burana Nr. 130 im lateinischen Originaltext online abrufbar unter http://www.hs-augsburg.de/~harsch/Chrono... />
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Jesse Prinz, (2006) The Emotional Basis of Moral Judgments, Philosophical Explorations, 9, 29-43

Hoffmann-Krayer, Schwan, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (10 Bände). Hrsg. v. Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Mit einem Vorwort von Christoph Daxelmüller, Berlin / New York, Walter de Gruyter, 1987. Band 7 Spalte 1402-1406
Unveränderter photomechanischer Nachdruck der Originalausgabe (Handwörterbuch zur deutschen Volkskunde, herausgegeben vom Verband deutscher Vereine zur deutschen Volkskunde, Abteilung I, Aberglaube) erschienen 1927 bis 1942 bei Walter de Gruyter & Co, vormals G.J. Göschen'sche Verlagshandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trüber - Veit & Comp., Berlin und Leipzig

Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002

Christoph Demmerling, Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle, Verlag J.B. Metzler Stuttgart 2007, S. 93-110

Illustration: Marc Herold