Die Gewissensfrage

Soll man den Bettlern Geld geben, die gerade jetzt wieder vermehrt auf den Straßen sitzen? Woran erkennt man, ob Jemand wirklich bedürftig ist?

»Ich sehe zurzeit in der Münchner Fußgängerzone sehr viele Bettler. Früher gab ich ab und zu etwas Kleingeld, aber seit einigen Jahren heißt es, man habe es gerade zur Weihnachtszeit mit organisierten Banden aus Osteuropa zu tun. Diese möchte ich nicht unterstützen, also gebe ich nichts mehr. Andererseits befürchte ich, dass die Banden-Bettler in Schwierigkeiten kommen könnten, wenn sie nicht genug Geld einsammeln. Das möchte ich natürlich auch nicht. Wie verhalte ich mich richtig?« Manfred P., München

Erkundigt man sich bei Leuten, die professionell mit diesem Thema zu tun haben, hört man überwiegend, man solle Bettlern generell nichts geben. Auf diese Weise Geld zu erhalten führe dazu, dass die Empfänger weiter in die Passivität und an den Rand der Gesellschaft gedrängt würden statt wieder integriert. Zudem verweisen die Experten meist auf die Angebote der staatlichen Stellen oder organisierter Hilfsdienste, die dann auch diejenigen erreichen, die nicht betteln. Besser sei es, an Organisationen zu spenden, die die Hilfe den Bedürftigen effektiv zukommen lassen. Allerdings muss man bei diesem Rat mit bedenken, dass die Experten meist selbst in diesem Bereich tätig sind, also auch für ihr eigenes Hilfsmodell sprechen.

Dennoch bleibt das Problem der organisierten Bettlerbanden, deren Angehörige das Geld abgeben müssen. Gibt man aus Mitleid eine kleine Spende, unterstützt und verfestigt man zugleich diese mafiösen Strukturen. Man darf nicht vergessen, dass man hier einem Vorgehen aufsitzt, das eben dieses Mitleid planvoll hervorruft, ausnutzt und zu allem Überfluss auch noch den wirklich Bedürftigen das Leben erschwert. Das spricht sehr dagegen, etwas zu geben.

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Trotz allem zögere ich – wegen Aristoteles. Er betonte, dass man die ethischen Tugenden nicht wie die verstandesmäßigen durch Belehrung, sondern durch Einübung und Gewohnheit erwirbt. Insofern habe ich ein wenig Sorge, woran man sich da gewöhnt, wenn man einem Bedürftigen in die Augen schaut und sich denkt, hier muss man nichts tun, weil man Anfang des Monats schon genug an eine Hilfsorganisation überwiesen hat.

Unterm Strich plädiere ich deshalb dafür, zwar primär an Hilfsorganisationen zu spenden, aber die begrüßenswerten moralischen Gefühle nicht völlig zu verbannen. Vielmehr sollte man kurz reflektieren, dass man – wenn es zutrifft – schon etwas getan hat, und überlegen, ob man hier einem Trick aufsitzt. Falls man dann der Meinung ist, man möchte diesem konkreten Menschen helfen, kann man dem tugendhaft Folge leisten.

Rainer Erlinger empfiehlt zu diesem Thema einen alten Griechen:
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 2. Buch, 1103a 14 ff.

Illustration: Marc Herold