Der Uhu, der Idiot und die tote Fliege

Wir träumen alle vom besseren Leben. Aber wenn Wünsche in Erfüllung gingen – würde das Leben wirklich besser? Drei Freunde lassen es drauf ankommen.

Vor meinem Küchenfenster sitzt ein Uhu. Ein sehr großer dunkelbrauner Uhu. Er starrt in meine Küche herein. Er starrt mich an. Vollkommen bewegungslos sitzt er da, ab und zu schließt er die honiggelben Augen, dann starrt er wieder. Ich setze mich an den Küchentisch, um ihn zu beobachten. Ein paar Mal hebe ich die Hand und bewege sie hin und her, er reagiert nicht darauf, gelassen senkt und hebt er die Lider. Etwas Unheimliches liegt in seinem Blick und gleichzeitig etwas Beruhigendes. Ich nähere mich ihm langsam, möchte ihn nicht vertreiben, aber trotzdem eine Reaktion provozieren. Als ich sehr nah am Fenster bin, scheint er meinen Bewegungen mit den Augen zu folgen.

Ich bilde mir ein zu wissen, dass Eulen tagblind sind. Wahrscheinlich nimmt er mich nur schemenhaft wahr. Ich wage mich ganz nah an die Scheibe heran, befinde mich schließlich mit ihm von Angesicht zu Angesicht. Jetzt könnten wir uns mal richtig aussprechen. Oder ich könnte das Fenster öffnen und ihn hereinbitten. Ihn einfach in den Schwitzkasten nehmen und reinziehen in meine Wohnung. Um dann mit einem Uhu zusammenzuleben. Und mit meiner toten Stubenfliege. Das wäre was. Ein modernes Märchen: Einst lebten ein Uhu, ein Idiot und eine tote Fliege zusammen in einer großen Stadt. Viele Jahre schon ging es ihnen gut, und sie waren die besten Freunde, sie teilten Speisen, Trank und Bett miteinander und konnten über alles reden. Mal flog der Uhu nachts zur Jagd, wenn der Hunger sie quälte, mal ging der Idiot tagsüber auf den Wochenmarkt und klaubte die Reste unter den Gemüseständen hervor, um seinen beiden Freunden daraus eine kräftigende Suppe zu kochen.

Nur die Fliege blieb immer zu Hause, da sie zu klein war, um Speisen herbeizuschleppen. Lieber wartete sie auf dem Küchentisch auf einem Stück Butter, strickte Schals und Pullover in Uhu- und Idiotenform und trank Rotwein. Wenn die beiden anderen nach Hause kamen, tranken sie gemeinsam, bis ihnen schlecht wurde, und blieben dann für Tage im Bett liegen. Die Fliege lag immer in der Mitte, rechts der Uhu und links der Idiot. Zwar lebten die drei in großer Bescheidenheit, aber glücklich waren sie trotzdem, und das hatten sie ihrer Freundschaft zu verdanken. In einem bitterkalten Winter kam ein Händler in die Stadt und baute seinen Wagen auf dem Marktplatz auf. Er trug schwarze Samtkleidung und einen großen Dreispitz auf dem Kopf. Er verkaufte silbernes Besteck und unbekannte Gewürze aus fremden Ländern und eingelegte Gliedmaßen von Tieren, die in dieser Stadt noch niemand gesehen hatte. »Silber!«, rief der Händler immer wieder, »Silber und Gewürze!« Viele neugierige Passanten strömten herbei, um bei ihm zu kaufen, denn seine Preise waren gut. Im allgemeinen Durcheinander fiel dem Händler ein silberner Löffel vom Verkaufstisch und landete im Straßendreck.

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Der Idiot hob ihn unbemerkt auf und machte sich davon. Der Löffel war schön und schwer, und die Welt und der Idiot spiegelten sich in seinem gewölbten Bauch. Zu Hause legte er ihn auf den Küchentisch, und seine beiden Freunde sprangen sogleich herbei, um das Schmuckstück zu bewundern. »Wie schön er ist und wie vornehm«, sagte die Fliege. »Ja, und er kann die Zukunft voraussagen und die Vergangenheit hinterher«, meinte der Uhu. »Löffel, bitte sag uns die Zukunft voraus«, bat den Löffel der Idiot, aber der Löffel schwieg. Den ganzen Tag hockten die drei vor dem Löffel, um ihn zu beobachten, sie waren ganz vernarrt in ihn. Sie vergaßen zu essen und zu trinken, sie vergaßen die jeweils anderen, sie sahen nur noch ihre Spiegelbilder, und schließlich fielen sie alle in einen tiefen Schlaf. Als sie in der Nacht erwachten, schien der Löffel vor ihnen zu glühen. An seinen Rändern hatten sich feine Risse aufgetan, und mit einem Funken entsprang ihm eine leuchtend blaue Flamme. Die drei Freunde schreckten zurück, konnten sich aber nicht von dem Anblick trennen.

In der Flamme erschien das Gesicht des Silberhändlers, und er sprach zu ihnen: »Jedem von euch, so scheint es mir,  fehlt etwas. Wenn ihr mir sagt, was euch fehlt, so will ich es euch besorgen. Und ich verspreche euch einen guten Preis.« Der Uhu entgegnete als Erster: »Ich möchte auch tagsüber sehen können, das ist das Einzige, was mir fehlt.« - »Und ich möchte im Schlaf denken können, mehr wünsche ich mir nicht«, folgte dem Uhu der Idiot. »Und ich möchte wieder leben, und zwar für immer«, bat nun die tote Fliege. »Oh, das ist alles kein Problem«, meinte der Silberhändler, »ich verlange nur von euch, dass ihr mir eure Namen verratet.« Auf diesen Handel ließen sich die drei Freunde ein, denn sie konnten keinen Nachteil darin entdecken, und sie nannten dem Silberhändler ihre Namen. Das blaue Licht erlosch, und die Fliege, der Idiot und der Uhu fielen erneut in einen tiefen Schlaf. Als die Fliege am nächsten Morgen erwachte, streckte sie ihre todessteifen Glieder und straffte ihre Flügel, sie konnte es kaum glauben - sie lebte wieder, der Silberhändler hatte Wort gehalten.

Begeistert begann sie in der Stube umherzufliegen und dann im Innenhof vor dem Fenster, der Uhu beobachtete sie dabei wohlwollend. Sie drehte Überschläge und flog weite Kurven, wobei sie lauthals sang. Schließlich ließ sie sich prustend auf der Fensterbank nieder. Da kam ein Spatz vorbei und fraß sie auf. Der Uhu, der das gesehen hatte und sich aufgrund seiner neuen Fähigkeit auch tagsüber orientieren konnte, folgte dem Spatz, um ihn zu bestrafen, auf der Stelle wollte er ihn vor Zorn rupfen und verschlingen. Er flog durch den Innenhof und über die Häuser, folgte dem Spatz bis zu einer Straße, in deren Rinnstein sich dieser erschöpft sinken ließ. Als der Uhu den Spatz gerade töten wollte, wurde er von einem Lkw überfahren. Der Idiot aber, der im Schlaf denken konnte, besser als er es im Wachzustand je gekonnt hatte, erwachte nie wieder.

Ich habe das Märchen mit einem Bleistift auf ein Blatt Papier gekritzelt. Auf der Fensterbank, unter dem strengen Blick des Uhus, der mich dabei beobachtet hat. Ich bedanke mich bei ihm für die Eingebung. Als ich das Blatt Papier gegen die Scheibe halte, spreizt er seine Flügel und flattert erschreckt davon.

Sie erscheint aus dem Nichts, sie erfüllt Wünsche und weist Wege zum Glück. Im nächsten Märchen erscheint die Fee aber ganz anders: Kathrin Schmidt schrieb für uns »Das Mädchen mit den drei goldenen Haaren«.

Foto: Daniel Sannwald, Model: Ranya Mordanova