Abgestaubt

Seit 15 Wochen leben die geretteten Bergleute aus Chile wieder in Freiheit, seitdem werden die Kumpel mit Partys und Geschenken überhäuft. Mittlerweile überfordert das manche mehr als die Zeit im Schacht.

Das wirkliche Abenteuer beginnt in einer Oktobernacht um 0:11 Uhr, und in Chile läuten die Kirchenglocken, als Florencio Avalos aus der rot-weiß-blauen Rettungskapsel steigt, sein Sohn rennt ihm in die Arme. Avalos ist der erste der 33 Bergmänner, die in den nächsten Stunden gerettet werden. Als er 69 Tage zuvor in die Mine San José hinunterfuhr, war er ein ganz normaler Mann: verheiratet, Familienvater, Bergarbeiter. Nun jubelt Chiles Präsident Sebastián Piñera neben seiner Ehefrau, und TV-Kameras und die Aufmerksamkeit von 2000 Journalisten sind auf ihn gerichtet. In der Zeit in ihrem unterirdischen Verlies mussten die Männer um ihr Leben fürchten, jetzt können sie nicht mehr in ihr altes zurück.

14. Oktober, Tag eins nach der Rettung:
Die Welt, die sie nun kennenlernen, ist großzügig: Der Apple-Chef Steve Jobs schickt jedem Bergmann einen iPod. Der Fußballclub Manchester United lädt die 33 zu einem Spiel nach England ein, der israelische Tourismusminister zu einer Pilgerreise ins Heilige Land. »Der Mut und der Glaube, der Ihnen geholfen hat, in den Eingeweiden der Erde zu überleben, war eine Inspiration für uns alle«, schreibt er den Männern.

15. Oktober
: Der Kumpel Yonnie Barrios bekommt als Erster einen Werbevertrag angeboten. Er war als »Untreuer von Atacama« berühmt geworden, so heißt die Wüste, in der die Kupfermine liegt. Gleich zwei Frauen hatten im »Camp Esperanza« auf ihn gewartet, seine Ehefrau und die neue Freundin. Jetzt möchte ihn ein chilenischer Potenzmittelproduzent für eine Kampagne gewinnen.

19. Oktober:
Dass das alles ein bisschen viel für die Bergmänner ist, sieht man ihnen während eines Galadinners an. Der chilenische Unternehmer Leonardo Farkas hatte sie eingeladen. Farkas, dem goldgelockten Millionär, werden in Chile Ambitionen auf das Präsidentenamt nachgesagt. Als die 33 noch unter der Erde waren, hatte er jedem von ihnen bereits 10 000 Dollar geschenkt. Nun steht er neben den neuen Nationalhelden auf der Bühne und muss einen der Kumpel, Mario Sepúlveda, stützen, als dieser fast zusammenbricht. Sepúlveda war unter Tage eigentlich als Anführer und Spaßmacher der 33 berühmt geworden, er hatte die Videobotschaften moderiert und nach seiner Rettung vor den Journalisten getanzt. Nun sagt er einem chilenischen TV-Sender: »Wenn ich an die schönen Augenblicke zurückdenke, die wir erlebt haben, und an die Menschen, die ich lieben lernte, würde ich lieber wieder dort unten sein.«

23. Oktober: Auch Edison Peña, der Sportler der Truppe, der in der Mine joggen war, wird mit einer Panikattacke ins Krankenhaus eingeliefert. Andere Bergmänner sollen Alkoholprobleme haben. Ein Arzt, der die Kumpel betreut, sagt in der chilenischen Zeitung El Mercurio über ihren emotionalen Zustand: »Das ist, als gäbe man einem kleinen Kind eine geladene Pistole. Das Kind nimmt die Pistole, spielt damit und verpasst sich vielleicht irgendwann selbst einen Schuss.« Zur gleichen Zeit ist Chiles Präsident Sebastián Piñera in Europa unterwegs. Seinen Amtskollegen bringt er Steine aus der Mine und Kopien des weltberühmten Zettels mit, des ersten Lebenszeichens der Kumpel: »Estamos bien en el refugio los 33« – »Wir 33 sind wohlauf im Schutzraum«. Aus den Geretteten sind Werbeträger geworden, 33 Ausrufezeichen für ein Land, das mit Mut und Technik gesegnet sein will.

Meistgelesen diese Woche:

25. Oktober: Zurück in Chile lädt Präsident Piñera alle 33 Kumpel in den Regierungspalast ein und umarmt jeden Einzelnen vor laufenden Kameras. Schon während der Bergungsarbeiten hatte sich der Staatsmann als Anpacker und Heilsbringer inszeniert wie einst Gerhard Schröder am Oder-Damm. Auch der Geschichte, wie die Kumpel nach 17 Tagen schließlich gefunden werden, gibt er eine persönliche Note. Dem Time Magazine erzählt er, dass ihm am Tag 16 nach dem Einsturz sein im Sterben liegender Schwiegervater gesagt habe: »Sie sind am Leben, gib nicht auf.« Am nächsten Tag stirbt der Schwiegervater, und Piñera fliegt zur Mine. Wenig später werden die Kumpel entdeckt.

Nach dem Empfang im Regierungspalast müssen die Bergmänner dann noch Fußball spielen, im Nationalstadion, gegen eine Auswahl von Politikern und Technikern, die sie aus der Grube befreit haben. Präsident Piñera scherzt: »Wer das Spiel verliert, muss zurück in die Mine«, und schießt in der 60. Minute das 3:2-Siegtor gegen die Kumpel. Nicht jedem in Chile gefällt die politische Vereinnahmung der 33 durch den konservativen Piñera. Pablo Huneeus zum Beispiel, einer der bekanntesten Schriftsteller des Landes, lässt den weltberühmten Spruch auf dem Zettel urheberrechtlich schützen, im Namen des Bergmanns José Ojeda, der ihn geschrieben hat. »Die Worte auf dem Zettel sind nur mit den ersten Worten aus der Bibel vergleichbar«, sagt der Schriftsteller Huneeus der Times.

28. Oktober:
Osman Araya betritt als erster Kumpel deutschen Boden und sitzt abends in der Talkshow von Markus Lanz, der sich ein Chile-Fähnchen auf den Schreibtisch gestellt hat. Den globalen Wettbewerb um die spektakulärsten Auftritte gewinnen jedoch die USA.

7. November: Edison Peña, der Sportler der 33, läuft beim New-York-City-Marathon mit. Drei Tage zuvor hatte er bereits in David Lettermans Talkshow einen Hit seines Idols Elvis gesungen: Suspicious Minds.

10. November:
Das Time Magazine nominiert die Kumpel für die Wahl zur Person des Jahres. Gewinnen wird zwar Facebook-Chef Mark Zuckerberg, die Chilenen landen aber mit Wikileaks-Mastermind Julian Assange, dem afghanischen Präsidenten Hamid Karzai und der Tea-Party-Bewegung auf dem zweiten Platz, noch vor Lady Gaga und Steve Jobs.

25. November
: CNN fliegt alle 33 Bergmänner mit ihren Familien nach Los Angeles, für die Mammut-Gala Heroes, in der Helden des Alltags geehrt werden. Vor der Sendung werden die Kumpel bei einem Ausflug durch die Stadt gefilmt. Der US-Sender ABC hatte es im Oktober bereits geschafft, den Kumpel Mario Sepúlveda zu begleiten, als dieser nach seiner Rettung das erste Mal das Meer wieder sah und sich vor Freude und der Kamera nackt auszog.

2. Dezember: Beim Sat.1-Jahresrückblick von Johannes B. Kerner sind die Kumpel Ariel Ticona und Mario Gómez zu Gast. Kerners Redaktion kommt auf die Idee, auch den gleichnamigen Fußballer hinzuzuholen, zumindest per Videoschaltung. Und der Bayern-Star wiederholt noch einmal, was er kurz nach der Rettung der Kumpel in die Kameras gesagt hatte, nachdem ihm alle drei Tore beim Sieg gegen Hannover 96 gelungen waren: »Ich habe mir gedacht, es kann kein Zufall sein. Da sind 33 Menschen verschüttet. 33 ist meine Lieblingszahl. Da ist ein Mario Gómez unten, der als Neunter gerettet wird. Das war meine erste Lieblingszahl als kleines Kind. Das waren so viele Zufälle, das muss Schicksal sein.« Auch in Chile wird die Zahl 33 ausgiebig gedeutet: Die Nachricht, dass die Kumpel leben, kam zum Beispiel in der 33. Kalenderwoche.

5. Dezember:
Beim RTL-Jahresrückblick von Günther Jauch ist der Kumpel Mario Sepúlveda zu Gast. Jauchs Redaktion kommt auf die Idee, das Licht im Studio zu dimmen und überall Grubenlampen aufzustellen. Was bei all diesen Auftritten auffällt: Aus den Bergmännern sind Entertainer geworden, Medienprofis, die wissen, wie man Menschen unterhält. Ihre Initiation in der Öffentlichkeit scheinen sie überstanden zu haben, ihre Geschichte wird auf der ganzen Welt geliebt. Weil sie ohne doppelten Boden auskommt, ohne hinterlistigen Plot. So wie Kim Jong Il das ungebrochen Böse ist, sind sie die Hoffnung, dass doch noch alles gut wird.

13. Dezember: 26 der 33 Kumpel sehen den 1:0-Sieg von Manchester United gegen Arsenal London live im Stadion.

20. Dezember: Zeitungen berichten, dass die Kumpel eine Gesellschaft gegründet haben, in die ihre Einnahmen aus Interviews und Lizenzgebühren fließen, um das Geld später gleichmäßig aufzuteilen. Der spanische TV-Sender Antenna 3 soll für ein Exklusivgespräch beispielsweise 60 000 Euro gezahlt haben – pro Kumpel. Schon kurz nach ihrer Rettung hatten die Bergmänner einen Anwalt engagiert, der ihre Interviewanfragen und Film- und Buchangebote koordiniert. Im Schnitt sind es am Tag zehn. Unter anderem will die Produktionsfirma von Brad Pitt, Plan B, das Drama verfilmen. Ein chilenischer Regisseur, Rodrigo Ortúzar, hatte bereits während der ergungsarbeiten am Minenschacht gedreht, sein Film soll 2012 in die Kinos kommen. Das erste umfassende Buch zum Thema schreibt zurzeit ein Reporter des englischen Guardian: »33 Men, Buried Alive: The Inside Story of the Trapped Chilean Miners«.

2. Januar:
Einige Bergmänner erzählen der chilenischen Zeitung El Mercurio, was sie sich fürs neue Jahr erhoffen: Omar Reygadas und Mario Sepúlveda wollen weiterhin als Motivationstrainer arbeiten. Seit einiger Zeit werden sie von Universitäten und Unternehmen für Vorträge gebucht. Ihnen gefällt ihr neues Leben. Edison Peña dagegen kann sich vorstellen, bald wieder in einer Mine zu arbeiten. »Der Traum ist zu Ende«, sagt er. Von vielen anderen hört man gar nichts mehr. Manche sollen neidisch sein, dass immer die gleichen Kumpel für TV-Auftritte eingeladen werden: Mario Sepúlveda, der Spaßmacher. Edison Peña, der Sportler. Ariel Ticona, dessen Tochter geboren wurde, als er unter der Erde war. Ende Januar wollen aber alle 33 noch einmal gemeinsam in die USA reisen, zu Disney World in Florida. Und im Februar dann nach Israel, ins andere Heilige Land.

8. Januar: Edison Peña, der Sportler, besucht Graceland, das Anwesen von Elvis Presley im US-Bundesstaat Tennessee. Die Elvis-Presley-Nachlassgesellschaft hatte ihn nach seinem Auftritt bei David Letterman im November dazu eingeladen. Nach dem Rundgang tanzt Peña vor Journalisten und singt den Elvis-Song Blue Suede Shoes.

12. Januar: Elf der Bergleute, angeführt vom Schichtleiter Luis Urzuá, besuchen das Fahrerlager von VW bei der Dakar-Rallye in der Nähe von Copiapo, einer Stadt unweit der Unglücksmine. Vom Motorsportdirektor bekommen sie Mützen und lassen sich mit einem Rennfahrer und ihrer Nationalflagge fotografieren. Urzuá, der Schichtleiter, sagt: »Meine Jungs können sich sehr stark mit den Dakar-Teilnehmern identifizieren. Denn hier wie bei uns kommt es auf Teamwork an. Auch in der Grube können wir keinen gebrauchen, der sein eigenes Ding macht.«

Fotos: Reuters, action Press, dpa, AP, dapd