Anrufe im Nahen Osten und in Nordafrika – Marokko

Sechs Länder, sechs Mal Chaos und Gewalt. Wie geht es jetzt den Menschen dort? Wir haben in jedem Land hundert Mal angerufen - irgendwo, irgendwelche Nummern, ganz zufällig: eine Sammlung unverfälschter Stimmen.

    In Marokko ist es lange ruhig geblieben. Fast schien es so, als wollten sich die Menschen von den Protesten in den Nachbarstaaten nicht anstecken lassen. Bis zum 20. Februar. Da zogen auch durch Rabat und Tanger Demonstranten. Die Lage eskalierte in Straßenschlachten und Plünderungen. Anders als in Tunesien oder Libyen kämpfen die Marokkaner aber nicht für einen radikalen Systemwechsel. Sie fordern vor allem Reformen, die Legitimität der konstitutionellen Monarchie unter König Mohammed VI. zweifeln aber nur die wenigsten an - bisher zumindest.

    Eine Handynummer, ein Mann meldet sich, er klingt schläfrig.

    Oh, Entschuldigung, schlafen Sie noch?
    Ja. Geh du auch mal schlafen.
    Wir rufen aus Deutschland an und wollten wissen, was bei Ihnen los ist.
    Bei uns ist alles okay. Macht euch keine Sorgen.
    Und was ist mit Tanger? Im Norden?
    In Tanger gibt es zu viele Jugendliche, die Drogen nehmen, die haben diese Unruhen verursacht.
    Also halten Sie nichts von den Protesten?
    Ich will Ihnen mal was sagen: Sie kennen Marokko nicht. Hier ist alles gut. Der König arbeitet und macht seinen Job. (Er zitiert aus dem Koran) »Gott wird die Lage der Menschen nicht ändern, bis sie den Zustand ihres eigenen Ichs verändern.«
    Aber die Menschen, die demonstrieren, wollen doch etwas ändern.
    Diese Leute sind von einer Fliege geschlagen (eine Redensart, die besagt: Sie sind unwichtig). Es gibt da so ein Video von einem Hurensohn, der auf You-Tube den König anprangert. Der erzählt, dass er einem Bürgermeister 200 Dirham (ca. 20 Euro) zahlen musste für einen Reisepass - dabei ist er doch selbst korrupt, wenn er das zahlt! Vielleicht ging es nicht anders.
    Ihr da in Deutschland, ihr lebt doch selber nicht in einer Demokratie. Ich war schon oft bei euch, habe in Deutschland gearbeitet. Stellt euch einen Arzt vor, der schwarz und Marokkaner ist -  glaubt ihr wirklich, dass sich irgendein Deutscher von dem behandeln lassen würde?

    Ein gezielter Anruf bei Said Benjebli, dem Facebook-Aktivisten, der die »Bewegung des 20. Februar« ins Leben gerufen hat.

    Was machen Sie gerade?
    Wir planen eine große Demo. Gestern hatte ich Gespräche mit Aktivisten aus anderen Ländern, 40 bis 50 Leute. Wir planen eine Pressekonferenz für die ausländischen Medien, ich weiß aber noch nicht genau, wie und wo.
    Werden Sie wegen Ihrer Aktivitäten bedroht?
    Täglich! Per Mail, am Telefon. Ich bekomme viele Morddrohungen.
    Haben Sie jemanden, der Sie beschützt?
    Nur Gott. Aber bitte informieren Sie Ihre Leute, was hier passiert. Wir leben in Armut, und wir müssen das ändern! Es muss alles anders verteilt werden.

    Jetzt wieder per Zufall: Ein Mann meldet sich am Handy.
    Wie beurteilen Sie die Situation in Ihrem Land?
    In Marokko ist es nicht so wild, nicht so wie in anderen Ländern. Uns geht es gut. Sagen Sie mir doch mal irgendwas, was bei uns nicht in Ordnung ist!
    Man hört zum Beispiel, dass es willkürliche Anti-Terror-Verordnungen gibt.
    Das stimmt. Ich habe selber jemanden in der Familie, der wurde ins Gefängnis gesteckt - ohne dass sie ihm den Prozess gemacht haben. Er ist unschuldig.
    Nehmen Sie selbst an den Demonstrationen teil?
    Ich bin 42, ich war früher auch mal politisch aktiv. Aber ich komme aus einer armen Familie, ich bin jetzt Angestellter. Ich will meinen Job nicht gefährden. Uns geht es sowieso ziemlich gut. Was in den anderen Ländern passiert, passiert doch nur, weil die Führer dort Marionetten des Westens sind. Deren Zeit ist abgelaufen. Bei uns ist die Zeit für den Wechsel noch nicht gekommen. Wir haben kein Volk, das reif ist, wir haben keinen Führer, der weg muss, wir haben auch keine klaren Ziele.

    Am Telefon erklingt eine energische, junge Männerstimme.

    Salam Aleikum Aleikum Salam.
    Wo bin ich hier gelandet?
    Hä? Ja in Kala Braghna (Ein Ort im Norden des Landes).
    Ist bei Ihnen alles ok? Ich rufe aus Europa an.
    Hier ist Krieg.
    Wie meinen Sie das?
    Bürgerkrieg.
    Was passiert?
    Wir gehen nackt raus und derjenige der rausgeht und erwischt wird, wird verprügelt Was meinen Sie? Wirklich?
    So Gott Dir einen Fluch gibt, du Schwuler! (Legt auf)

    Nador, im Norden des Landes.
    Hallo? Salam Aleikum. Weißt du mit wem du hier sprichst?
    Nein, ich habe deine Nummer zufällig gewählt. Ist bei Ihnen alles OK?
    Alles gut, es gibt nichts (Die Stimme klingt ängstlich).Wir haben hier nichts Schlimmes, wir haben hier nichts Schlimmes. Alles ist gut. Da sind nur kleine Kinder die diese Unruhen verursacht haben.
    Was halten Sie denn von den Demonstrationen?

    Salam Aleikum, Salam Aleikum! (legt auf)

    Meistgelesen diese Woche:

    Wo sind sie?
    In Kenetra. Gestern war ich in Casablanca. Aber da gab es nichts. Da war es ruhig. Wissen Sie was in Dakhla passiert ist?
    Alles ok, da sind nur diese Separatisten.
    Befürworten Sie die Demonstrationen?

    Friedliche Demos, ja, das ist in Ordnung. Den Leuten geht’s gut. Es ist alles vorhanden, es gibt nichts besseres als Marokko. Auf Wiedersehen! (legt auf)

    Eine junge Frau nimmt ab.
    Hallo?
    Hallo, Salam Aleikum. Aleikum Salam.
    Schwester, alles Ok bei Dir?
    Alles gut.
    Ich rufe aus Europa an und ich habe von den Revolten gehört. Ist alles gut bei euch?
    Nein, es ist alles wirklich perfekt, keine Unruhen.
    Gibt es Demonstrationen bei euch?
    Hat es gegeben, ist alles gut gelaufen (Der Hörer wird weitergereicht, eine energische, ältere Frau meldet sich zu Wort).
    Wer bist du?
    Ich rufe aus Deutschland an und möchte mich erkundigen was bei Ihnen im Land los ist.
    Warum fragst du mich? Schaust du keine Nachrichten?
    Doch, ich wollte direkt mich erkundigen.
    Uns geht es perfekt und es lebe der König. So, jetzt könnt ihr weiterreden. (Sie gibt der jungen Frau wieder das Telefon) Das war meine Mutter.
    Darf ich wissen wo ihr seid?
    In Beni-Mellal (Eine Stadt im Atlasgebirge). Wie alt bist du? (Eine kurze Pause) So um die 20. Danke.
    (legt auf)

    Außer in Marokko haben wir noch in folgenden Ländern angerufen:
    Libyen - "Niemand weiß, was morgen passieren wird"
    Tunesien - "Wir können wieder Brot kaufen gehen"
    Ägypten - "Jetzt ändert sich alles"
    Iran - "Die Grüne Bewegung lebt. Sie lebt!
    Jemen - "Das ist alles aus dem Westen gesteuert"

    Telefonate und Produktion: Ilhem Ajili, Christoph Cadenbach, Amr Elhadad, Max Fellmann, Ellhem Hysene, Solmaz Khorsand, Wolfgang Luef, Burhan Schawich, Anna Schmidhauser, Laura Selz, Hakan Tanriverdi, Zeidan Ali Zeidan

    Foto: dpa