Passt schon?

Seltsame Sitten, laute Rasenmäher, fremde Religionen: Ohne Toleranz kommt keine moderne Gesellschaft aus. Aber warum ist es so hart, wirklich tolerant zu sein? Unser Moralkolumnist über die schwierigste aller Tugenden.

Glaubenskämpfe: Wer meinte, sie seien hierzulande überwunden, reibt sich derzeit verwundert die Augen. Zwar geht es nicht mehr um den Kampf der christlichen Konfessionen untereinander, dafür beherrscht nun plötzlich ein anderes Thema die Debatten: Islam, Islamkritik, Islamkritik-Kritik, Kritik der Islamkritiker an der Islamkritik-Kritik. Mitten in einer aufgeklärten Gesellschaft wird wieder verbissen um Religion gestritten.

Dabei geht es doch eigentlich um Toleranz. Die einen verweisen auf Lessings Nathan der Weise mit der bekannten Ringparabel, die Toleranz unter den Religionen einfordert. Man darf nicht alles tolerieren, sagen die anderen. Und der Streit geht verbissen weiter.

Wieso scheiden sich gerade an der Toleranz der Religionen die Geister so sehr? Auch dem Nahostkonflikt zwischen Israel und seinen Nachbarn liegen ja neben nationalen auch religiöse Konflikte zugrunde, und im ehemaligen Jugoslawien fanden die blutigsten Gefechte und Massaker entlang von Glaubensgrenzen statt. Selbst innerhalb der Europäischen Union, in der viel beschworenen »Wertegemeinschaft« des gemeinsamen Hauses Europa, gab es bis vor wenigen Jahren blutige Gefechte zwischen religiösen Gruppen, sogar zwischen christlichen Konfessionen: den Nordirlandkonflikt mit seinem Kampf zwischen Katholiken und Protestanten.

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Nun könnte man über diese Beobachtungen schnell hinweggehen und sagen: Wenn man von etwas so überzeugt ist wie von seinem Glauben, dann tut man sich schwer mit Toleranz. Und besonders schwer fällt das den eigentlich verwandten drei monotheistischen Religionen. Andere Religionen, die viele Götter haben und nicht das Gebot: »Du sollst keine anderen Götter neben mir haben«, können mit konkurrierenden Glaubensrichtungen leichter umgehen.

Ich behaupte, das Problem wurzelt tiefer. Sicher fällt es in Glaubensdingen vielleicht besonders schwer, Andere und Anderes zu tolerieren, aber bei diesen Konflikten dürfte es um das Wesen der Toleranz als solche gehen. Sie ist schwieriger als andere moralische Forderungen, weniger greifbar – deshalb kann man sie auch so gut beschwören, ohne allzu konkret zu sein in der Umsetzung. Sie ist aber auch in sich problematisch, denn sie muss zum einen Widerstand überwinden und hat zum anderen Grenzen, an denen sie ins Negative kippen kann.

Widerstand gegen die Toleranz
Ein Widerstand gegen eine Tugend scheint im ersten Moment nicht so überraschend: So manche Dinge, die die Moral von uns fordert, macht man zunächst nicht gerne, selbst wenn es sich um die alltäglichen Kleinigkeiten handelt. Wer trennt schon gerne Müll? Aber das ist nicht gemeint. Nein, in die Toleranz ist die Ablehnung sozusagen eingebaut. Man muss sich klarmachen, dass man tolerant nur gegenüber etwas sein kann, das man im Grunde ablehnt. Ein Christ kann dem Christentum gegenüber ebenso wenig tolerant sein wie ein Moslem dem Islam. Anders hingegen zwischen den verschiedenen Religionen oder auch nur Konfessionen: Ein Katholik kann einem Protestanten gegenüber tolerant sein, ihn gewähren lassen und ihn nicht wie im Dreißigjährigen Krieg oder in Nordirland seines Glaubens wegen töten wollen – wie auch umgekehrt.

Manche Ethiker meinen sogar, es müsste etwas sein, was man moralisch ablehnt, also für falsch, unmoralisch hält. So weit muss man vielleicht nicht gehen, aber die Ablehnung scheint ein notwendiger Bestandteil der Toleranz zu sein.

Warum überhaupt Toleranz?
Was aber kann einen Menschen dann dazu bewegen, Toleranz zu üben? Gegen seine Ablehnung? Dafür gibt es einen ganz praktischen Grund und eine ganze Reihe von grundsätzlichen Überlegungen.

Der praktische Grund ist, dass ohne ein Minimum an Toleranz, an Akzeptieren des Andersseins, das Leben zur Hölle würde. Jeder ist auf irgendeine Art anders. Das beginnt mit den Geschlechtern. Selbst wenn man sich traditionell auf zwei Geschlechter festlegt, bedeutet das, dass man mit der Hälfte der Bevölkerung zumindest in einem wichtigen biologischen Aspekt nicht übereinstimmt. Man mag bei noch so vielen Aspekten des Lebens zur Mehrheit gehören, in irgendeinem Punkt tut man es nicht.

Und grundsätzlich kommt man um die Toleranz nicht herum, wenn man jeden Menschen als frei und mit gleichen Rechten versehen betrachtet. Wie soll man einem anderen Menschen die Entscheidung für eine bestimmte Einstellung, Haltung oder Lebensweise verbieten, wenn man für sich selbst in Anspruch nimmt, seine eigene Einstellung, Haltung oder Lebensweise zu haben?

Selbst wenn man sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnt, müsste man seinen Mitmenschen, wenn man sie als frei und gleichberechtigt ansieht, zugestehen, sich irren zu dürfen. Im Endeffekt lässt sich die Notwendigkeit der Toleranz auch auf die zugegebenermaßen etwas strapazierte Menschenwürde zurückführen: Wenn jeder Mensch sein eigener Zweck ist und nicht zum Mittel gemacht werden darf, dann muss er sich auch seinen eigenen Zweck aussuchen können, mit den Worten Kants: sein eigener König im Reich der Zwecke sein. Und er hat ein Recht darauf, dass er als Mensch, und der Zweck, den er sich ausgesucht hat, von den Anderen geachtet wird. Nicht unbedingt geschätzt, aber geachtet.

Und schließlich darf man den möglichen Gewinn aus der Toleranz nicht übersehen. Nur durch die Offenheit, das Gewährenlassen, kann man andere Sichtweisen kennenlernen, prüfen und sich dann entscheiden, ob sie oder Teile davon nicht eine Bereicherung für das eigene Leben darstellen. Man muss nichts übernehmen, aber wenn man es von vornherein nicht gelten lässt, nimmt man sich die Möglichkeit dazu.

Spätestens hier will man wissen, was Toleranz nun genau ist, und wird überrascht sein: Es gibt keine allgemein anerkannte Definition. Das Lexikon der Ethik definiert sie so: »Toleranz meint das Gelten- und Gewährenlassen (passive Toleranz), besser noch: die Achtung, sogar freie Anerkennung (aktive und kreative Toleranz) andersartiger Anschauungen und Handlungsweisen.«

Die Enzyklopädie Philosophie gibt folgende Auskunft: »Toleranz bezeichnet allgemein das Dulden oder Respektieren von Überzeugungen, Handlungen und Praktiken, die einerseits als falsch und normabweichend angesehen werden, andererseits aber nicht vollkommen abgelehnt und nicht eingeschränkt werden.« Und der Brockhaus erläutert: »Toleranz. Duldsamkeit, das Geltenlassen anderer Anschauungen, besonders in religiösen, politischen und ethischen Fragen.«

Tatsächlich kommt das Wort Toleranz aus dem Lateinischen und bedeutet dort eher »dulden« oder »ertragen« als eine positive Einstellung. In diesem Sinne ist auch Goethes berühmter Satz aus seinen Maximen und Reflexionen zu verstehen: »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.«

Moderne Auffassungen von Toleranz haben sich davon gelöst und fordern mehr als ein Erdulden. Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst stellt in seinem Standardwerk Toleranz im Konflikt ihre Komponenten dar. Ihm zufolge beinhaltet die Toleranz eine Ablehnungs-Komponente: Man muss das, was man toleriert, im Grunde ablehnen, verurteilen, also gerade nicht mögen. Dazu tritt dann die Akzeptanz-Komponente: Man findet es zwar falsch, aber nicht so falsch oder schlecht, dass nicht andere, positive Gründe für die Tolerierung sprächen. Dies wirft die wichtige Frage auf, wie es richtig oder moralisch geboten sein kann, etwas, was man für falsch oder schlecht hält, zu tolerieren. Daneben sieht Forst natürliche Grenzen der Toleranz, die das Tolerierbare vom Nichttolerierbaren trennen und sich in einer Zurückweisungs-Komponente niederschlagen. Und schließlich muss Toleranz aus freien Stücken geübt werden: Wer keine Möglichkeit hat, seine Ablehnung zu äußern oder etwas zu unternehmen, ist deshalb noch lange nicht tolerant, sondern machtlos.


Die Stufen der Toleranz

Ausgehend von diesen Komponenten unterscheidet Forst vier verschiedene Konzeptionen, man könnte auch sagen Formen oder sogar Stufen der Toleranz. Die einfachste ist die Erlaubnis-Konzeption. Die Mehrheit gestattet der Minderheit das Verhalten, die Einstellungen, die Wertvorstellungen, die von denen der Mehrheit abweichen. Dies entspricht am ehesten dem wörtlichen »dulden«, das hinter dem Wort »Toleranz« steckt. Die Erlaubnis-Konzeption ist typisch für den Umgang mit religiösen Minderheiten, wie man ihn aus der Geschichte kennt, wenn eine Minderheitsreligion in einem Land zugelassen wurde, aber nie als gleichwertig anerkannt. Davon kann man eine Koexistenz-Konzeption abgrenzen, bei der etwa gleich starke Gruppen sich geeinigt haben, um den Konflikt zu vermeiden, in einer Art Waffenstillstand nebeneinander zu leben. Auch hier steht das Dulden oder Ertragen des Anderen und seiner Einstellung im Vordergrund. So etwa gestaltete sich das Verhältnis von Katholiken und Protestanten in Deutschland nach dem Westfälischen Frieden von 1648: Die beiden großen Konfessionen sollten vor allem aus pragmatischen Gründen gleichberechtigt nebeneinander bestehen dürfen, ohne dass das eine inhaltliche Annäherung bedeutete.

Einen wirklichen Unterschied dazu bietet erst die Respekt-Konzeption. Bei ihr geht es nicht nur um ein Ertragen des Anderen, sondern um ein Anerkennen und Achten als gleichberechtigt. »Respektiert wird die Person des Anderen, toleriert werden seine Überzeugungen und Handlungen«, formuliert Forst. Das entspricht dem Umgang, den Parteien und Abgeordnete in einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie miteinander pflegen – oder zumindest pflegen sollten. Noch weiter geht die Wertschätzungs-Konzeption, bei der die Andersdenkenden nicht nur als gleichberechtigt respektiert werden, sondern ihre Überzeugungen als wertvoll geschätzt. Diese Form der Toleranz müsste man eigentlich im Verhältnis verschiedener Religionen zueinander erwarten, die zwar unterschiedliche Glaubensformen pflegen, aber den Glauben des Anderen nicht nur respektieren, sondern als Ausdruck einer – wenn auch anderen Form von – Spiritualität aufrichtig wertschätzen müssten.

Soll man Intoleranz tolerieren?

Toleranz im Alltag
Wie aber ordnet man die häufigen kleinen Probleme des Alltags ein? Wenn unterschiedliche Vorlieben, Interessen oder Bedürfnisse aufeinanderprallen? Die Liste ist lang, vom Musikgeschmack über Lärm, Haustiere und vieles mehr bis hin zur legendären Zahnpastatube, an deren Verschließen oder Nichtverschließen schon so manche Ehe zerbrochen sein soll. Geht es dabei wirklich auch um Toleranz oder »nur« darum, sich zu arrangieren? Ich glaube, beides. Im Vordergrund geht es darum, eine Regelung zu finden, wie die Bedürfnisse nach Ruhe und Musikhören, nach mehr oder weniger Ordnung unter einen Hut zu bringen sind. Dabei handelt es sich eher um Fragen der Abgrenzung. Wie etwa beim Lärm.

Rasenmäher kann man nicht tolerieren in dem Sinne, in dem wir uns bislang mit Toleranz beschäftigt haben. Dennoch bleibt das Problem, dass der eine seine Ruhe haben will, der andere seinen Rasen mähen. Dahinter aber liegt in einer zweiten Ebene das Verhältnis zu dem anderen Menschen und dessen Haltungen. Immer muss man zunächst die persönlichen Einstellungen des Anderen akzeptieren oder respektieren und kann dann in einem zweiten Schritt, darauf aufbauend, eine praktische Regelung finden, wie man die aus diesen Einstellungen resultierenden unterschiedlichen Bedürfnisse und Wünsche konkret gegeneinander abgrenzt. Diese Abgrenzungen sind gewissermaßen die kleine Toleranz des Alltags, die auf die große Toleranz gegenüber den Einstellungen des Anderen aufbaut.

Die Grenzen der Toleranz
Dennoch hat die Toleranz Grenzen, und diese zu finden stellt eines ihrer Hauptprobleme dar. Muss man die ausländerfeindliche Haltung eines entfernten Verwandten tolerieren? Muss man generell tolerieren, wenn jemand intolerant ist?

Die Frage nach Toleranz gegenüber Intoleranz hat der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper 1945 als Paradoxon der Toleranz bezeichnet:
»Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.«

Zunächst klingt das auch überzeugend: Wenn man die Intoleranz toleriert, ihr Raum lässt, wird sie sich durchsetzen, weil sie selbst der Toleranz keinen Raum lässt. In der Folge geht die Toleranz unter. Also muss man, ja sollte man die Intoleranz nicht tolerieren. Bei genauerem Nachdenken aber stößt man auf einen Widerspruch: Durch das Nichttolerieren der Intoleranz wird man selbst intolerant. Das würde zu einer Selbstabschaffung der Toleranz führen und wäre sozusagen das zweite Paradoxon der Toleranz.

Der entscheidende Punkt scheint mir zu sein, dass Toleranz von ihrem Wesen her nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Das heißt, das Recht, toleriert zu werden, hängt nicht davon ab, ob man selbst tolerant ist. Der amerikanische Moralphilosoph John Rawls unterscheidet in seinem Buch Eine Theorie der Gerechtigkeit die Frage, ob eine intolerante Sekte sich beklagen darf, wenn sie nicht toleriert wird, von der Frage, ob und wann man das Recht hat, auch als Toleranter diese intolerante Sekte nicht zu dulden. Die erste Frage beantwortet Rawls auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit basierend: Man darf sich nur über die Verletzung von Grundsätzen beklagen, die man selbst anerkannt hat.

Davon zu trennen ist jedoch die Frage, ob und wie lange auch Tolerante diese Sekte tolerieren müssen. Rawls macht die Antwort auf diese Frage von der Gefahr abhängig, die von der intoleranten Sekte ausgeht. Nur wenn die Toleranten ehrlich und mit guten Gründen glauben, das sei für ihre Sicherheit notwendig, haben sie das Recht, auch intolerant zu sein. Solange eine Gesellschaft stabil sei und die intolerante Vereinigung nicht zu schnell wachse, würde sie in der toleranten Gesellschaft allmählich ihre Intoleranz verlieren und die Gewissensfreiheit anerkennen.

Wann allerdings genau der Fall eintritt, dass eine Gefahr droht, welche die Einschränkung der Freiheit der Intoleranten rechtfertigt, das kann laut Rawls die Philosophie allein nicht beantworten, »das hängt von den Umständen ab«. Tatsächlich freue ich mich immer auch ein wenig – obwohl ich dieses Gedankengut zutiefst ablehne –, wenn ich sehe, wie Rechtsextreme unter Polizeischutz demonstrieren oder eine Versammlung abhalten. Ich freue mich nicht über diese Demonstration, sondern über unseren Rechtsstaat und unsere Verfassung, die diese Freiheit auch denen gewährt, die sie ablehnen.

Und solange unsere Gesellschaft diese Freiheit gewähren kann, ist sie stabil und stark genug, diesen Tendenzen Widerstand zu leisten. Allerdings sehe ich auch die Notwendigkeit, klare Zeichen zu setzen und diesen Widerstand zu stärken, zum Beispiel auch durch Gegendemonstrationen. Wichtig ist, dass dies, solange es geht, auf anderem Weg geschieht als durch Einschränkung der Freiheit, auch der Freiheit derjenigen, die gegen die freiheitliche Gesellschaft arbeiten. Im Sinne Rawls sollte hier die Gesellschaft Kräfte zur Verteidigung der gerechten Institutionen aufbringen, etwa durch Aufklärung, durch Stabilisierung des Zusammenhalts der Gesellschaft, durch Bildungsprogramme und die Schaffung von ausreichenden Zukunftsaussichten für alle Mitglieder der Gesellschaft, insbesondere die Jugend.

Bei dem genannten Beispiel der Demonstration von Rechtsextremen wird auch die Grenze vom Tolerierbaren zum Nichttolerierbaren berührt. Ich sehe sie in erster Linie bei der Verletzung von Grundrechten, allen voran der Menschenwürde. Handlungen oder auch Haltungen, welche das Leben, die Freiheit, die körperliche Unversehrtheit oder die Gleichberechtigung der Menschen verletzen oder gefährden, halte ich nicht für tolerierbar. Auch wenn Menschen gedemütigt werden oder zu bestimmten Zwecken missbraucht.

Eine Demonstration etwa gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter, gegen die Freiheit, seine Meinung sagen zu dürfen, übersteigt meine persönliche Grenze der Toleranz, ich kann sie nicht mehr respektieren, wenngleich man sie als Demonstration – nicht die entsprechenden Handlungen – um der Meinungsfreiheit willen aus rechtsstaatlichen Gründen zulassen müsste und sollte.

Darin liegt tatsächlich auch eine Festlegung. Nicht alle Gesellschaften ziehen die Grenzen an derselben Stelle, wie die Fatwa gegen Salman Rushdie zeigt. Wegen angeblicher Gotteslästerung in seinem Roman Die satanischen Verse hatte der iranische Schiitenführer Ayatollah Khomeini ihn in einer Fatwa zum Tode verurteilt, zur weltweiten Vollstreckung aufgerufen und ein Kopfgeld von drei Millionen Dollar ausgesetzt. Dieser Fall ist ein extremes Beispiel, zumal nahezu die gesamte islamische Welt sich von diesem Vorgehen distanzierte. Doch es zeigt: Weder Gesellschaft noch Staat sind vollkommen neutral.

In dem Wertekatalog, der sich etwa im deutschen Grundgesetz wiederfindet, steckt eine Grundsatzentscheidung der Gesellschaft, dass Grundrechte, etwa das auf Leben, Gleichberechtigung, Religions- oder Meinungsfreiheit, keinesfalls verletzt werden dürfen. In der Verfassung liegen ethisch-politische Festlegungen, und Abweichungen davon müssen oder dürfen sogar nicht toleriert werden.

Hier wird man vielleicht auch das eingangs genannte Problem des Verhältnisses unserer Gesellschaft zum Islam ansiedeln müssen – und wie so oft genauer differenzieren: Insofern fundamentalistische Strömungen im Islam gegen die Wertefestlegungen unserer Gesellschaft verstoßen, müssen sie nicht toleriert werden. Eine Religion, die versucht, eigene Vorstellungen, die unseren gesellschaftlichen Wertvorstellungen widersprechen, mit welchen Mitteln auch immer in der Gesellschaft durchzusetzen, muss man nicht tolerieren.

Das gilt übrigens für andere Religionen ganz genauso, namentlich auch für die christlichen, in denen es ebenfalls fundamentalistische Strömungen gibt. Und das gilt nicht, weil der Fundamentalismus selbst intolerant ist, sondern weil er gegen die ethisch-politischen Grundsätze unseres Zusammenlebens verstößt. Soweit aber lediglich kulturelle Unterschiede bestehen, hat der Islam wie alle Kulturen, Religionen und Weltanschauungen ein Recht darauf, toleriert zu werden. Dazu gehört seine Ausübung durch die Gläubigen und das Errichten von Gotteshäusern in demselben Umfang, in dem man es auch anderen Religionen gestattet. Auch das gehört zu den ethischen Grundsätzen unserer Gesellschaft.

Kritik der Toleranz

Ist damit alles gesagt zur Toleranz? Bei Weitem nicht, dazu könnte man Bibliotheken füllen. Aber ein Punkt scheint mir noch wichtig. Der Bielefelder Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer übt prinzipielle Kritik an der Toleranz. Er bezeichnet sie als »Alleskleber«, mit dem man meine, in Sonntagsreden alle gesellschaftlichen Probleme lösen zu können, die aber mit dem Alltag wenig zu tun habe.

Heitmeyer zufolge führt die Hinnahme der Unterschiede aber auch zu einer Indifferenz, mit der Folge, dass Minderheiten nicht wahrgenommen und dadurch weiter an den Rand gedrängt werden. In der Tat muss man einräumen, dass die Toleranz – zumindest ohne die Respekt- oder Wertschätzungs-Komponente – eine Strategie zur Konfliktregelung und nicht zur Konfliktlösung darstellt. Nur durch eine Auseinandersetzung, man könnte auch sagen: durch Konflikt, aber lassen sich bestehende oder vermeintliche Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft einer Lösung zuführen.

Dennoch scheint es mir falsch, daraus zu schließen, dass die Toleranz generell wertlos wäre. Zum einen stellt sie, wenn sich Differenzen nicht lösen lassen, immer noch eine bessere Lösung dar als ein gewalttätiger Konflikt. Zum anderen muss es, damit es zu einer Auseinandersetzung kommen kann, in der die Unterschiede bearbeitet werden können, ein Minimum an Toleranz geben. Die jeweils anderen Positionen müssen so weit respektiert werden, dass ein friedlicher Austausch über sie möglich wird. Sie müssen so weit anerkannt werden, dass man über sie sprechen kann und sie nicht zusammen mit dem Gegenüber kategorisch ablehnt. Jedoch kann Toleranz die Auseinandersetzung mit dem Anderen und der fremden Position nicht ersetzen. Womit man wieder bei Goethe wäre: »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen.« Oder zur Ablehnung.

Illustrationen: Marc Herold