Sportler des Jahrhunderts

Vergessen Sie Fury und Black Beauty, hier kommt Totilas, das schwarze Wunderpferd. Es könnte für den deutschen Dressursport werden, was Boris Becker einst für das deutsche Tennis war.

Die Stimme des Moderators ist heiser vor Aufregung: »Bisher war dies unser Finale«, verkündet er. Die Zuschauer haben zwanzig der schönsten Hengste gesehen, vorgestellt von erfolgreichen Reitern aus aller Welt, zuletzt haben zwei der Pferde, Vater und Sohn, geritten von Mann und Frau, ein traumhaftes Duett hingelegt. »Aber eine neue Zeit bricht an«, flüstert der Moderator jetzt voller Ehrfurcht ins Mikrofon, »die Zeit von Totilas.« Donnernder Applaus, aus den Lautsprechern erklingt ein Medley aus Beethovens Freude, schöner Götterfunken und Händels Halleluja. Mit mächtigen Sprüngen galoppiert Totilas in die Halle. Im Sattel sein neuer junger Reiter, Matthias Alexander Rath.

Gänsehaut. Weil dieses Pferd alles gibt. Totilas trabt wie auf Sprungfedern, biegt den Hals, bläht die Nüstern, weiße Schaumflöckchen sprenkeln die Brust, die Muskeln wölben sich unter dem schwarz schimmernden Fell, aus den Augen blitzen Ehrgeiz und Begeisterung. »Das ist ja abartig«, sagt eine Frau beinahe empört. »Kann der sich auch normal bewegen?« Aber die meisten Zuschauer sind ergriffen. Wie in den vielen Videos, die im Internet kursieren: Die Menschen auf den Tribünen erheben sich, wenn sie Totilas sehen, gebannt, bewegt, andächtig, manche weinen.

6. Februar, Hengstschau in Vechta, Niedersachsen. 4000 Züchter sind gekommen, die Spring- und Dressurhengste zu begutachten. Der teuerste und begehrteste von ihnen ist Totilas, in diesem Frühling wird er erstmals für die deutsche Zucht eingesetzt und dann, am 4. Mai, in Hagen zur Turniersaison antreten. Die Nation erhofft sich von ihm jetzt schon Mannschaftsgold in der Dressur bei Olympia 2012. Die Preisrichter sind grundsätzlich so angetan von dem Hengst, dass sie ihm immer die höchsten nur möglichen Noten geben.

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Man muss kein Pferdekenner sein, um zu begreifen, dass Totilas sich bewegt, als wäre er nicht von dieser Welt: dass er in der Passage, der erhabenen Form des Trabs und einer der schwersten Aufgaben der hohen Dressur, die Beine nach vorn feuert wie kein Pferd bisher. Vom schwarzen Wunderhengst ist da die Rede, vom Jahrhundertpferd, vom Auserwählten. Und weil es natürlich in diesem Sport Dopingvorwürfe und Misshandlungsgerüchte gibt, taucht die Frage auf, wie ein Mensch es schafft, ein Pferd zu diesen Bewegungen zu bringen. Eine Antwort könnte lauten: Wenn ein Tier mit Misshandlungen zu diesen Leistungen gebracht werden könnte, warum funktioniert es nur bei diesem einen? Es geht hier um mehr als um Schönheit, Talent und Disziplin. Es geht um etwas, wofür es keine klare Definition gibt: Charisma. Aura. Pferde wie dieser Rapphengst wurden für Bücher oder Filme erdacht, wie Fury oder Black Beauty.
Gegeben hat es sie noch nicht.

Totilas ist elf Jahre alt und kommt vom niederländischen Gestüt Moorland. 2006 bekam Edward Gal die Möglichkeit, das bis dahin kaum ausgebildete Pferd zu reiten. Drei Jahre später wurden die beiden Europameister in der Dressur in Windsor, 2010 erst Weltcupsieger und im Herbst dreifache Weltmeister bei den Weltreiterspielen in Kentucky. Wenn Totilas im Dressurviereck glänzt, kommen auch Leute, die mit dem Reitsport nichts zu tun haben, mit ihren Familien und Picknickdecken, um ihn zu sehen. Beim Aachener Reitturnier, dem größten der Welt, musste das Stadion im vergangenen Jahr wegen des Besucheransturms abgeriegelt werden.

Seit dem 30. November 2010 gehört der Hengst nun der deutschen Pferdewelt. Paul Schockemöhle, Ex-Springreiter und Multi-Unternehmer, und Ann Kathrin Linsenhoff, Ex-Dressurreiterin und Tochter der Dressurreiterin Liselott Linsenhoff, haben eine Besitzergemeinschaft gebildet und ihn gekauft. Wenn Schockemöhle gefragt wird, wie viel sie bezahlt haben, sagt er: »Ich hab den Kaufpreis vergessen.« Um die zehn Millionen Euro, steht überall. Das wird nicht dementiert, und das ist für ein Dressurpferd sehr, sehr teuer. Fast verrückt.

Aber wenn alles gutgeht, wird Totilas als Zuchthengst und Olympiasieger sein Geld wieder einspielen und das deutsche Dressurteam zurück an die Weltspitze bringen – zurzeit steht es an zweiter Stelle hinter Holland, ein Stachel, der schmerzt in diesem Land, das den Dressursport jahrzehntelang dominiert hat. Dazu hat das Ansehen der Sportart durch Dopingaffären gelitten, ein Star käme da gerade recht. Totilas könnte eine ähnliche Wirkung für den Reitsport haben wie seinerzeit Boris Becker für das Tennis, hofft Michael Mronz, dessen Agentur MMP Marketing und Öffentlichkeitsarbeit für das Pferd übernommen hat. Mronz, Organisator sowie Vermarkter großer Sportveranstaltungen und auch bekannt als Lebensgefährte von Guido Westerwelle, sagt: »Totilas hat die Ausstrahlung eines Hollywoodstars.« Er will Tassen mit seinem Konterfei bedrucken.

Der Applaus verklingt. Sobald Matthias Rath die Zügel lockert, weicht alle Spannung aus Totilas, er lässt den Hals fallen, dehnt sich, sieht plötzlich doppelt so lang aus wie vorher. Raths Gesicht ist knallrot unter der steifen Melone, die Dressurreiter tragen. Nach dem Auftritt steht Totilas angebunden in einer dämmerigen Stallgasse und wartet darauf, verladen zu werden. Der Hengst wirkt zufrieden mit sich. Als wüsste er genau, worum es ging. Und dann das: Wenn man sich vor ihn stellt und ihn anschaut, guckt er nicht weg, sondern hält es aus – im Gegensatz zu den meisten Tieren –, dem Menschen direkt ins Auge zu blicken. Ruhig. Stolz. Geradeaus. Als würden seine Augen sprechen.

Zur Pressekonferenz der Hengstschau in Vechta sind diesmal Journalisten gekommen, die sonst nie von Hengstvorführungen berichten. Einer traut es sich kaum zu sagen, aber er ist vom Kicker, er wird die erste Pferdegeschichte dort seit vielen Jahren schreiben. Paul Schockemöhle betrachtet die Wasserflaschen, die auf den Tischen stehen, verschwindet kurz, kommt mit Bier zurück. Es gibt Wurstbrote mit Gewürzgurken, schön rustikal, alle duzen sich, die Reiterwelt hier ist noch in Ordnung. Schockemöhle, mittlerweile weißhaarig, wird gefragt, ob er noch schlafen kann, seit er den teuren Hengst im Stall hat. »Besser«, ist seine Antwort. Gelächter. Die Besitzergemeinschaft mit Ann Kathrin Linsenhoff begründet er so: »Für einen kleinen Bauernjungen wie mich wäre das allein zu viel gewesen.« Wieder Gelächter. Der 65-jährige Mann, dem knallharter Geschäftssinn und auch mal Tierquälerei vorgeworfen wurden und der darum gar nicht gern mit der Presse sprach, ist geradezu geschmeidig geworden.

Rührend, wie stolz er auf Totilas ist. Ann Kathrin Linsenhoff neben ihm wirkt abgeklärter. Totilas’ neuer Reiter Matthias Rath, 26, der jetzt, ohne die unvorteilhafte Melone auf dem Kopf, mit strubbligen blonden Haaren lockerer und zugleich markanter wirkt, ist ihr Stiefsohn. Da hat die Häme nicht auf sich warten lassen: Seine Stiefmutter habe ihm Gold gekauft, hieß es. Und: Er könne nur verlieren, gewinnen werde immer Totilas. So hoch kochen die Emotionen, dass Holländer drohen, Rath mit Tomaten zu bewerfen, wenn er Totilas im Dressurviereck reitet. Und Edward Gal, der Holländer, der wochenlang um das verlorene Pferd trauerte wie um einen Gefährten, soll sogar überlegt haben, Deutscher zu werden, um Totilas weiter reiten zu können.

Matthias Rath wird es also nicht leicht haben, er muss sich ständig die Frage gefallen lassen, ob er überhaupt gut genug für das Pferd sei. Nach einer Pause sagt er, sehr vorsichtig: »Hm. Totilas ist ja nicht mein erstes Grand-Prix-Pferd. Aber er ist natürlich für jeden Reiter ein Glücksfall. Einmal im Leben bekommt man so eine Chance.« Dann lobt er die »Einstellung des Hengstes: ein Pferd, das alles dafür tut, seinen Reiter zu begeistern«.

Am Morgen nach der Hengstschau scheint eine fahle Sonne auf das platte Oldenburger Land. Hier in Mühlen stehen die Ställe Paul Schockemöhles. Windschiefe Kiefern, gefrorene Äcker, braungelbe Wiesen. Im noch kalten, kargen Frühling aber ist der rote Backstein, aus dem die Höfe gebaut sind, hübsch anzusehen. Christin Geske ist Totilas’ Pflegerin. Sie trägt Schirmmütze, Daunenjacke, braune Reithose. Mit schnellen Schritten und ein bisschen o-beinig, wie es sich für einen Reiter gehört, geht sie voraus. In der ersten Woche schlief sie in der Sattelkammer und stand beim kleinsten Muckser auf. Wie bei einem Baby. Aber es hat sich längst alles normalisiert.

Christin Geske schiebt die Boxentür auf. Da steht er nun, den schwarzen Körper bis zum Hals in eine Winterdecke gehüllt, und spitzt die Ohren. Da ist er wieder, dieser wissende Ausdruck in den dunklen Augen, als blicke Totilas einem tief in die Seele. »Er mustert jeden, der kommt«, sagt Geske. »Und wenn mehr als zwei oder drei Leute da sind, wirft er sich in Pose.« Jetzt stupst er einen an, zupft am Ärmel, sucht nach Äpfeln. Wenn ein Pferd vorbeigeführt wird, wiehert er freundlich. Man darf ihn anfassen, über das seidige Fell streichen, die Muskeln spüren. Er ist groß, stark, perfekt, berühmt, klug, ein Denker – ja, fast.

Aus Sicherheitsgründen ist seine Box rundum mit Gummimatten ausgeschlagen, über seinem Trog hängen zwei Plastikbälle zum Spielen. Sonst sieht alles so aus wie in den anderen Boxen. Früher wäre so ein Ausnahmetier wohl den Göttern geopfert oder als Gott verehrt worden. Hier steht der Star ganz profan auf Sägespänen. Interessant, wie emotional die Menschen einerseits von ihm sprechen und wie pragmatisch sie andererseits mit ihm umgehen, weil er eine so kostbare Ware ist. Schon ein Sehnenschaden würde reichen, es wäre vorbei mit dem Hochleistungssport, und Totilas könnte nur noch als Zuchthengst Geld verdienen. 4000 Euro zahlen Züchter für seinen Samen, und wenn eine Stute dann tatsächlich ein Fohlen erwartet, wird dieselbe Summe noch einmal fällig. Bei 200 Interessenten im Jahr kommt so gut eine Million Euro zusammen. Totilas müsste zehn Jahre decken, um seinen Kaufpreis wieder einzuspielen. Vorausgesetzt, er vererbt seine Fähigkeiten gut.

Bart Kools stammt wie Totilas aus Holland und ist Pferdewirtschaftsmeister mit Zusatz Besamungswart. Der große blonde Mann, dessen Tag in der Decksaison um halb vier Uhr früh beginnt, sitzt im Labor in Mühlen, das sich neben der Stallgasse mit den Hengsten befindet, und beschriftet Plastikröhrchen mit Pferdenamen und Zahlen. Um 10 Uhr am Morgen ist Totilas, von einer echten Stute animiert, auf das sogenannte Phantom gesprungen, das tatsächlich einem Pferd aus der Turnhalle ähnelt, und hat in die künstliche Scheide, die Kools ihm hinhält, ejakuliert. Der Natursprung wird in der Warmblutzucht nicht mehr praktiziert, dabei passieren zu viele Unfälle.

Totilas, sagt Kools, verhält sich auch beim Decken total professionell. Er neigt nicht dazu, Kräfte zu vergeuden, ist zu schlau: »Er ist eine Persönlichkeit.« Kools verteilt das Sperma, das er mit einem Verdünner zentrifugiert, damit sich gesunde und kaputte Samenzellen separieren, auf zehn Röhrchen. Es wird interessant, wenn Totilas’ erste Fohlen kommen. Kraft, Körperbau und die Bewegung geben Väter häufig weiter. Aber Ehrgeiz, Aura, Persönlichkeit sind nicht genetisch bedingt. »Wenn Totilas sich jetzt gut vererbt«, sagt Kools, »ist er ein Zuchterfolg. Sonst ist er ein sogenanntes Endprodukt.« Aber eines der Extraklasse.

Foto: Konrad R. Müller