Raus damit!

Möbel aus Polyrattan beherrschen unsere Cafés und Gärten - über den erstaunlichen Erfolg einer Kunstfaser.

Es war ein schleichender Siegeszug, dafür aber unaufhaltsam. Jetzt im Frühling wird das ganze Ausmaß sichtbar: Möbel aus geflochtenen Plastikbändern haben die Welt erobert, und zwar in zig Varianten. Stühle in der Eisdiele in Regensburg, Tische vor der Imbissbude in Giesing, Betten am Teich der Nachbarn in Pullach, Hollywoodschaukeln hinter den Dünen von Sylt, Bänke in den Schweizer Bergen und den toskanischen Hügeln, Himmelbetten an den Pools thailändischer Hotelvillen. Gartenmöbelkataloge bieten Liegen in Yin-Yang-Form an, und im Baumarkt bekommt man die passenden Blumenkübel. Die Plastikmöbel sind unauffällig einmarschiert, passend zu ihren unauffälligen Farben, den harmlosen Braun- und Grautönen. Polyrattan nennt sich das Material, aus dem sie hergestellt sind. »Poly« bedeutet »viel«, aber erklärt das, warum die Möbel überall stehen? Die griechische Vorsilbe soll uns sagen, dass es sich um etwas Künstliches, etwas Innovatives handelt. Und »Rattan«? Da klingt Handwerk an, Exotik und Weltläufigkeit.

Vor ungefähr 15 Jahren ging es los: Der harte neoliberale Alltag verlangte nach einem Ausgleich im Grünen – Lungern, Wohlfühlen, Entspannen, aber alles möglichst ohne großen Aufwand. Wenn die Zeit für einen Kurztrip in die Karibik zu knapp war, sollte es wenigstens zu Hause auf der Terrasse wie in der Karibik aussehen. Es war auch zu anstrengend, den schweren Deckchair aus Teak vom Dachboden zu schleppen, wo er, vor den Widrigkeiten der Witterung geschützt, den Winter verbracht hatte. Da kam das Polyrattan gerade recht: Diese Möbel konnte man einfach draußen stehen lassen, wenn man sein letztes Glas Sprizz getrunken hatte und es zu nieseln begann. Polyrattan ist pflegeleicht: Chlor, Salz, Feuchtigkeit, UV-Strahlen – nichts kann der Kunstfaser etwas anhaben.

Der ehemalige belgische Profifußballer Bobby Dekeyser kam auf die Idee, Gartenmöbel aus Plastik zu flechten, und gründete 1990 die Möbelfirma Dedon. Er ließ ein spezielles Band entwickeln und nannte es »Hularo«, was besser klang als Polyrattan. Noch immer werden die Plastikbänder in Lüneburg hergestellt und zum Flechten auf die Philippinen geschickt, dort bauen Flechtspezialisten Gartenmöbel daraus, die in die halbe Welt verschifft werden. Heute gibt es unzählige andere Firmen, die Polyrattan herstellen. Der Umsatz allein von Dedon erreicht dreistellige Millionenbeträge. Ein Möbelstück kann mehrere tausend Euro kosten, billige Varianten bekommt man beim Discounter für unter hundert Euro.

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Als die Polyrattan-Möbel auf den Markt kamen, boten sie Gewohntes – sie verlagerten einfach den Lounge-Stil, den man vom Flughafen, von Bars und dem eigenen Wohnzimmer kannte, nach draußen. Manche Leute waren sich zwar nicht mehr sicher, ob sie noch auf den Anschlussflug warteten oder schon bei Freunden im Garten saßen – aber es ging ihnen gut. Uniformes, globales Wohlfühl-Design lag im Trend – und bildete nicht vielleicht Polyrattan das Möbelpendant zum Kaschmirhype?

Dass die tiefen Möbel gar nicht so bequem sind, wie sie aussehen, stört niemanden. Spätestens seit dem Lounge-Wahnsinn der Neunzigerjahre hatte man sich an seltsame Sitzpositionen gewöhnt.

Nur auf Fotos moderner Häuser berühmter Architekten ist Polyrattan bis heute kaum zu finden. Es gehört zur Tradition von Architekturfotografie, selten Dinge zu zeigen, die das Leben praktischer machen. Dem Erfolg der Möbel hat es bis heute nicht geschadet.

Zugegeben, es hat gedauert, bis unser hochgezüchteter Geschmack aufhörte, sich zu beschweren und wir das Geheimnis der Polyrattanmöbel entdeckten. Wir brauchten dazu einen eigenen Garten, aber jetzt haben wir verstanden: Sie schenken den Menschen Zeit. Den Teakholz-Tisch müssen wir nicht mehr ölen, um ihn vor Pilzen zu schützen, die gusseisernen Möbel nicht mehr jedes Jahr abschleifen, bevor wir uns reinfläzen können. Vor allem aber müssen wir nicht mehr die weißen Plastikstühle hinterm Haus stapeln, weil sie, wenn niemand draufsitzt, zu hässlich sind und die Aussicht versauen. Die weiße Plastikära ist vorbei, die braune hat gerade erst begonnen.

Zwar sehen unsere Gärten und Balkone dank Polyrattan aus wie die von zigtausend anderen, aber wir können jetzt endlich das tun, was wirklich glücklich macht: graben, jäten, pflanzen. Das könnte auch die schlechte CO2-Bilanz des Plastiks ausgleichen. Gut gelaunt wagen wir vielleicht mal etwas Neues. Bobby Dekeyser hatte schon wieder eine Idee und bietet riesige hängende Eichhörnchenkobeln an. Noch wissen wir nicht, wofür es gut sein soll, sich zu fühlen wie ein Nagetier bei der Brutpflege. Aber in zehn Jahren posten wir Bilder aus den schaukelnden Höhlen und grüßen unsere Freunde in den hängenden Nestern auf der ganzen Welt und werden es wissen, ganz sicher.

Foto: Hubertus Hamm