Ein irrer Spaß

Schikanen, Schwachsinn, schaukelnde Nymphen: Warum sich unser Autor Cannes zum 29. Mal antut (womit er zusammengerechnet ein Jahr seines Lebens in dieser Kleinstadt verbracht hat). Ein Fazit mit den besten und schlechtesten Filme des Jahres.

Ein Anruf aus der Heimat.
"Hast Du Robert De Niro gesehen?", lautet die erste Frage, und noch bevor ich antworten kann, fährt die Gesprächspartnerin fort: "Der war ganz gerührt, als sich im Palais das ganze Publikum für ihn erhob." Die Antwort lautet Nein, die Szene spielte sich bei der Eröffnungsgala von Cannes ab, zu der man hätte geladen sein müssen, um sie verfolgen zu können. "Aber Du bist doch in Cannes?!", lautet die nächste, eher rhetorische Frage, denn die Anruferin weiß, wo ich bin. "Ja“, entgegne ich trotzdem und füge hinzu: "Selbst wenn das hier im Fernsehen live übertragen worden wäre, hätte ich es nicht sehen können. Ich stand nämlich gerade vor einem anderen Kino an, um in einen Kunstfilm über eine Studentin zu gehen, die ihren Körper verkauft." Die Bemerkung dazu war fast absehbar: "Da hätte ich mir an deiner Stelle aber lieber Robert De Niro angesehen.“

Der Dialog passt prima zu einem der ältesten Vorurteile der Festivalgeschichte und dazu, wie sehr sich der Eindruck von diesem Festival in der Heimat von der Realität eines in Cannes arbeitenden Journalisten unterscheidet. Das Klischee sagt, dass man in praller Sonne Stars sieht und Spaß hat und irre Filme sieht. Das stimmt alles und könnte dennoch kaum weiter von der Realität entfernt sein, vergleichbar ungefähr mit der Distanz zwischen Nord- zu Südkorea.

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Man sieht Filme, von denen viele so irre sind, dass nur wenige von ihnen in normalen Kinos rund um den Globus gezeigt werden. Man sieht auch die Stars, aber im Grunde aus noch größerer Ferne als sonst, und das ändert sich selbst dann nicht, wenn man sie in den berüchtigten Round-Table-Interviews trifft, bei denen fünf bis fünfzehn Reporter gefühlte fünf bis fünfzehn Minuten Zeit haben, um Fragen zu stellen – bevor manche von ihnen um Autogramme bitten. Und wenn abends der berühmte Gang über den Roten Teppich zur Gala ansteht, ist der professionelle Kinogänger laut Zeitplan aufgefordert, um die Ecke im Salle Debussy, dem zweitgrößten Kino der Stadt, die abendliche Pressevorführungen jenes Films zu besuchen, dessen Gala am nächsten Abend ansteht.

Zudem sind die meisten Teppichgänge, das muss endlich mal gesagt werden, längst nicht so aufregend wie man sich das wünschen würde. Idealerweise hätte man zwölf Oscar-Abende hintereinander. Aber in Wahrheit werden die Stufen zum Grand Auditorium Lumière zumeist von französischen Sternchen erklommen, deren Namen selbst Eingeweihten oft nicht bekannt sind. Immer wieder treten die Damen von L’Oréal an, darunter die stolze Jane Fonda. Und es kommt auch tatsächlich vor, dass Angelina Jolie auftaucht, um Brad Pitt zu begleiten. (Oder umgekehrt, so wie 2008, als Brad zu Ehren von Angelina anreiste.)

Die Diva fehlt
Aber es fehlt auch in diesem Jahr eine Konstante: eine große Diva, wie sie Emmanuelle Béart als Jury-Mitglied 2004 war; oder eine gnadenlose Selbstdarstellerin, wie sie 2002 bei praktisch jeder Gelegenheit perfekt von Sharon Stone verkörpert wurde. In diesem Jahr gibt es in der Jury zwei potentielle Kandidatinnen für die Rolle des Hinguckers. Martina Gusman ("Léonera“) ist freilich zu unbekannt. Und Uma Thurman ist zwar weiterhin ein Knockout. Aber erstens ist sie riesig – weshalb Jury-Präsident Robert De Niro so aussieht, als bräuchte er eine Leiter, um auf Augenhöhe mit seinem Co-Star aus "Mad Dog and Glory“ (1993) zu gelangen. Und zweitens ist sie ziemlich zurückhaltend. Das ist ein angenehmer Charakterzug, disqualifiziert sie allerdings für die Rolle der Selbstdarstellerin.

Der professionelle Festivalgast studiert derweil ohnehin nebenan das Programm des gleichen oder des folgenden Tages, immer auf der Suche nach der einen Entdeckung oder exklusiven Offenbarung. Man könnte sich auf die offiziellen Sektionen beschränken, das wären mehr Filme, als es irgendwer schaffen könnte. Aber das wäre ja weder gewagt noch abenteuerlich. Also sondieren viele die Listen der Marktvorführungen, die in den Kinos jenseits des roten Teppichs laufen. Einige von ihnen direkt unter oder über den illustren Sälen im Palais des Festivals; einige von ihnen in den eigens gebauten Riviera-Kinos hinter dem Palais des Festivals; und die meisten von ihnen mehrere Minuten entfernt in der Rue d’Antibes, die zugleich die wichtigste Shopping-Straße des Städtchens ist.

Es gibt mehr als genug Filme im Angebot: täglich mindestens zehn in den offiziellen Sektionen und weit über 150 im Markt. Darüber informieren täglich kostenlos vier ernstzunehmende dailies: die Branchenblätter Variety, The Hollywood Reporter, Screen International sowie – auf französisch – Le film français. Darin werden die neuesten Deals bekanntgegeben, ein paar Gerüchte gestreut und die neuen Filme rezensiert. In Screen und Le film français gibt es zum Abschluss eine täglich aktualisierte Liste mit Wertungen, über die selbst jene Kritiker diskutieren, die so etwas gerne als albern und unwürdig ablehnen.

Bevor es das Internet gab, erlebten diese Publikationen goldene Jahre. Einige Tagesausgaben waren in den 80er Jahren so dick, dass sie glatt als Mordwerkzeuge in Betracht gezogen werden mussten. Wenn man sie alle zusammen mitnahm, hatte man manchmal Angst, sich einen Bruch zu heben. Mittlerweile hat auch hier das Internet seine Spuren hinterlassen, und die Hefte sind deutlich dünner als noch vor zehn Jahren. (Inzwischen wird man ja auch per E-Mail mit "Breaking News“ über weitere Deals überhäuft.) Nach einer Woche und trotz aller Meldungen vom boomenden Markt sind die Dailies nun schon am Mittwoch wieder so dünn, dass sie nicht einmal mehr als Fächer taugen.

Die nervigsten Trends
Aber bis dahin gab es ohnehin zu blättern und zu sichten. Und zu kichern, über die neuen Trends. Vor zwei, drei Jahren wurde man mit Bollywood-Produktionen bombardiert. Das ist längst Vergangenheit. In diesem Jahr gibt es mehrere Trends, von denen deutsche Kinogänger hoffentlich nur wenige erleben müssen.

1. Es gibt so viele Animationsfilme wie noch nie. Bestimmt nur zufällig erinnern sie an "Rio“ ("Zambezia 3D“, "Leafie, a Hen into the Wild“) oder an "Drachenzähmen leicht gemacht“ ("Legends of Valhalla“) oder an "Findet Nemo“ ("Seafood“) oder an "Kungfu Panda“ ("Legend of a Rabbit 3D“, beworben mit der Zeile "This bunny doesn’t hop“). Hinzu kommen schauderhafte Plakate wie jene zu "Rorrim Bo & the Magic Goblet“, "Freddy Frogface 3D“ oder "Cucaracha“, natürlich ebenfalls in 3D.

2. 3D
Das enervierende neue Kinoformat gibt es auch jenseits von Animation für alles mögliche, sogar die Rückkehr von Softpornos ("Sex and Zen – Extreme Ecstasy“) erscheint lukrativ. Und wenn das nicht geht, dann kann man ja auch einfach nur alte Filme in 3D herausbringen ("Der Nussknacker“, "Battle Royale“).

(Foto: Schauspielerinnen von "Sex and Zen")

3. Asiatisches
Action, Horror, Kungfu. Komplett austauschbar. Kann jemand mit Bestimmtheit sagen, ob dieser oder jener Film nicht schon im vergangenen Jahr angeboten wurde?

4. Horrorfilme
Gehen ebenfalls immer. Und immer noch billiger. Die Top fünf der schlockigsten Ankündigungen: "The Toolbox Murders“ (Werbezeile: "If you can’t be something great, do something terrible"), "Snow Beast“ ("Bloodthirsty and hungry ... for humans!"), "The Howling Reborn“ ("When darkness falls, the moon will rise, and a legend will be reborn“), "Bong of the Dead“ ("There will be Bud!"), "Robin Hood – Ghosts of Sherwood in 3D“ (ganz ohne Zeile, aber mit einem Skelett als Robin Hood!?).

Was freilich schlimmer ist: Anzeigen für Filme, bei denen Menschen beteiligt sind, die man so nie sehen wollte, weil so der oft in jahrzehntelanger Arbeit erworbene Ruf gefährdet wird. Zum Beispiel die Komödie "The Big Wedding“, für die neben Vielfilmer Robert De Niro auch Katherine Heigl und Diane Keaton engagiert wurden. Klingt gar nicht so schlecht? Nun, die Produktion kommt aus dem Hause Nu Image/Millennium, das bislang kaum einen guten Film hervorgebracht hat. De Niros vergangene Nu-Image/Millennium-Produktion "Righteous Kill“ (Kurzer Prozess; 2008) brachte das Kunststück fertig, trotz der Beteiligung von De Niro und Al Pacino scheußlich missglückt zu sein. Weitere anstehende Geschenke von Nu Image/Millennium: "The Texas Chainsaw Massacre 3D“ (beworben mit der vielversprechenden Zeile: "Vom Produzenten von »Saw 3D: The Final Chapter«),"Hercules 3D“ (beworben mit: "Man. God. Hero.“)

Noch schauderhafter fiel das Wiedersehen mit anderen echt alten Bekannten aus, ob nun Rosanna Arquette ("Exodus Fall“), Christina Ricci ("War Flowers“), Heather Graham ("The Flying Machine“, selbstverständlich in 3D) oder dem Regisseur Roland Joffé, der vor 25 Jahren mit "The Mission“ (natürlich mit Robert De Niro) die Goldene Palme in Cannes gewann, nun aber bei einem Studio gelandet ist, das seinen neuen Kriegsfilm "There Be Dragons“ aussehen lässt wie ein Schülerprojekt. Man weiß, dass die Beteiligten für die nächste Zeit fürs Qualitätskino verloren sind, wenn sie in solchen Anzeigen (und solchen Filmen) auftauchen.

Manchmal hat man den Eindruck, irgendwer hätte sich einen teuren Scherz erlaubt und würde die Leser dabei filmen, wie ihnen bei manchen Ankündigen die Münder offenstehen. Unangefochtener Spitzenreiter der ersten Woche: das indische Drama "Dear Friend Hitler...“, das sehr lustig sein soll – allerdings vollkommen ungewollt.

Trotzdem fahndet man aus Tradition weiter, schließlich gab es hier über die Jahre genug Entdeckungen, selbst 2010 wurde man noch mit "Centurion“ belohnt. In den 70ern, als Mainstream-Filme wie "Pirates of the Caribbean 4“ noch nicht in der offiziellen Auswahl landeten, muss Cannes ein Eldorado gewesen sein.

In den 80ern, das weiß ich aus eigener Erfahrung, war es immer noch lohnenswert, nach Schätzen zu graben. In den 90ern begann die Ära, dass viele Filme schon vor Drehbeginn verkauft wurden und in Cannes immer weniger vorgeführt wurde. Und heutzutage ist das Angebot noch dünner. Man liest absurde Anreißer-Zeilen wie "The Shining meets a Vittorio de Sica film“ oder "Run Lola Run [Lola rennt] meets Taken“. Inhaltsangaben wie "Two Lost Souls meet and connect in ...“ kommen mit unterschiedlichen Städte- oder Ländernamen jährlich mehrmals vor, und auch hier wird man das Gefühl nicht los, dass man mitunter gerade veralbert wird. Zum Film "Bonsai“ heißt es zum Beispiel: "At the end of this film, Emilia dies and Julio remains alone. Actually, Julio had remained alone several years before Emilia’s death. What matters is at the end, Emilia dies and Julio does not die. Julio lives and Emilia does not live. The rest is fiction.“

Noch jemand Lust auf Kino?
Die französischen Organisatoren und Ordner lassen nichts unversucht, sie einem zu nehmen mit ihren Regeln und Vorschriften, die gerne von heute auf morgen, ach was: von einer Vorstellung zur nächsten geändert werden. Wer, wann, wo rein, sitzen und raus darf, ist je nach Uhrzeit unterschiedlich. Wenn man tatsächlich mal in eine Nachmittagsvorstellung ins Grand Auditorium Lumière muss, weil der Film nur dann und dort gezeigt wird, der muss eine absurde Reihe von Kontrollen und Umwegen in Kauf nehmen, die Zeit und Nerven kosten.

Da in diesem Jahr wegen des Internets und der Invasion der Blogger wieder mehr Journalisten akkreditiert wurden, sind die Säle wieder voller als in den vergangenen Jahren. Bei "The Tree of Life“ war der untere Teil im gut 2500 Menschen fassenden Lumière bereits 35 Minuten vor Beginn voll, bei der bezaubernden Hommage an Jean-Paul Belmondo bekam man 30 Minuten vor dem angekündigten Eintreffen der Stars keinen Platz mehr.

Dementsprechend früh muss man da sein, um einen guten Platz zu bekommen und nicht durch die Reihen laufen zu müssen mit den Fragen "Ist der Platz frei?“ oder "Ist der Platz reserviert?“, was je nach Fragestellung gerne zu Missverständnissen und unwirsch geführten Dialogen führt. Wer nun auch noch das Pech hat, nicht zu den drei brauchbaren Kategorien zu gehören – wer also nicht weiß, rosa mit Punkt oder rosa hat, sondern blau, gelb oder bräunlich –, der verbringt täglich fast soviel Zeit in Warteschlangen wie im Kino.

In diesem Jahr ist als neue Schikane verfügt worden, dass man keine eigenen Wasserflaschen mehr in die Kinos mitbringen kann. Das ist eigentlich eine Petitesse, ist aber nicht sehr erquicklich, wenn man von morgens von acht bis sechzehn Uhr im Kino sitzt oder vor dem nächsten Film ansteht. Abgesehen davon hat die Maßnahme nichts mit Terrorgefahren zu tun – sondern bloß damit, dass die Veranstalter keine Lust mehr haben, den Saal zwischen den Vorführungen groß aufzuräumen. Das ist nachvollziehbar, aber irgendwie unmenschlich.

Und was kommt nach dem Kino?
Wenn man Lust, Kraft und die passenden Einladungen hat, kann es jeden Abend abgehen. Ich habe meistens nichts davon, sondern lese lieber ein paar Tage später beschwingt, was es alles für tolle Parties gab. In diesem Mai klang bisher am spannendsten, was Canal+ zu bieten hatte. (Das ist ein Pay-TV-Sender, wie es in Deutschland Sky gerne wäre – mit dem sanften Unterschied, dass das französische Kinowesen ohne die Beteiligung von Canal+ längst nicht mal mehr die Hälfte wert wäre.) Die Canal+-Fete fand auf den Hügeln oberhalb von Cannes statt, mit einem hinreißenden Blick auf die Stadt, Bedienungen in Black-Swan-Kostümen sowie einer halbnackten Nymphe, die auf einer Schaukel über den Gästen schwebte und diese sanft mit Blumen bewarf.

Beschreibungen und Fotos zu dieser Party waren atemberaubend. Worüber allerdings gerne geschwiegen wird, ist der abenteuerlich komplizierte Rückweg nach Cannes, was ja insofern ein Problem darstellt, da um 8.30 Uhr morgens der erste Film ansteht, der zumeist der wichtigste des Tages ist. Und da in diesem Jahr wegen des Internets und der Invasion der Blogger wieder mehr Journalisten akkreditiert wurden ... ach so, das hatten wir ja schon. Es ist ein Teufelskreis, elf Tage lang.

Warum ich mir Cannes trotzdem zum 29. Mal antue
(... womit ich zusammengerechnet ein Jahr meines Lebens in dieser Kleinstadt verbracht habe), ist eine naheliegende Frage. Man kann Cannes zugleich lieben und hassen. Mehr aber noch lieben. Denn nirgendwo sonst auf der Welt kann man bei ähnlich sonnigen Rahmenbedigungen annähernd so viele interessante Filme am Stück sehen und in einem vergleichbaren Zusammenhang erleben. Es wirkt dann irgendwann nicht mehr wie ein Zufall, wenn morgens zunächst Terrence Malicks Schöpfungswerk "The Tree of Life“ gezeigt wird und danach Bruno Dumonts abseitiger "Outside Satan“. Wenn die komplett unterschiedlichen Paris-Filme "Midnight in Paris“ und "Polisse“ nahe zueinander terminiert werden. Wenn man aus dem Kindererziehungsdrama "We Need to Talk about Kevin“ herauskommt und das Pädophilendrama "Michael“ ansteht. Wenn sich das Thema der Vater/Sohn-Problematik wie ein Roter Faden durch eine Reihe von Wettbewerbsfilmen zieht. Wenn man Zeuge einer Hommage an Jean-Paul Belmondo wird.

Und außerdem gilt: Wenn die Franzosen soviele herausragende neue Filme liefern wie in diesem Jahr (auf "Polisse“ folgten noch der Stummfilm "The Artist“ sowie "Denen man nicht verzeiht“, der neue Film von André Téchiné; obendrein lief in französischer Sprache noch "Der Junge auf dem Fahrrad“ von den belgischen Dardenne-Brüdern), dann vergibt man ihnen alle Schikanen. Na ja, fast alle.