Der König dankt ab

In München geht eine Ära zu Ende: Dieter Dorn hat das Theater der Stadt geprägt wie kein anderer. Jetzt hört er auf. Ein letzter Besuch hinter den Kulissen.

Noch ist er ja da, der Dorn. Steht fast jeden Abend auf der Bühne in seiner eigenen Inszenierung, dem Käthchen von Heilbronn. Doch die Zuschauer trauern schon, als wäre die Zeit mit ihm bereits Erinnerung. Trampeln und jubeln seit der Premiere im Februar bei jeder Vorstellung, als wäre es die letzte, und wollen seine Schauspieler und ihn nicht gehen lassen. Schon hat eine Art Thomas-Gottschalk-Effekt eingesetzt: Ungläubigkeit und Wehmut, dass einer, auf den so viele in den letzten Jahren eingedroschen haben, nun wirklich aufhört.

Am 9. Juli, am letzten Abend der Intendanz von Dieter Dorn am Residenztheater, wird natürlich auch das Käthchen von Heilbronn gespielt. Am Ende vom Ende, gegen viertel nach zehn, wird dem Kaiser das allerletzte Wort gehören, den Kaiser spielt Dorn. Er wird dann an die Rampe gehen und rufen: »Aus!« Ausgerechnet – doch so steht es im Text von Heinrich von Kleist. Aber keiner wird da sein, der das »Aus« nur für das Schlusswort im Text hält. Am 9. Juli um viertel nach zehn wird viel mehr verhandelt: das Ende einer Ära, die insgesamt 35 Jahre dauerte und in der Dieter Dorn das Theater in München geprägt hat wie kein Zweiter. Es geht ja nicht nur Dorn, es gehen fast alle seine Schauspieler, manche freiwillig, die meisten nicht. Auch Lucy Wirth, dieser umjubelte Glücksfall eines Käthchens, wird gehen, nach Augsburg. Das so hoch gerühmte Ensemble wird bald Geschichte sein.

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Und dann? Ist erst mal Sommerpause, neue Zeiten, neuer Intendant: Martin Kušej. Der stellt alles auf null, Tabula rasa. Er darf das, seine eigenen Leute mitbringen, um seine Handschrift, seine Art, Theater zu machen, zeigen zu können. Er probt längst die neuen Stücke mit neuen Schauspielern, anderen Regisseuren, anderen Dramaturgen. Candide von Voltaire wird eines der Stücke sein, Das weite Land von Schnitzler und Der Weibsteufel von Karl Schönherr. 26 Premieren will er in seiner ersten Spielzeit stemmen, ein Gewaltakt.

Dorn selbst hält seinen Nachfolger für einen der Besten, und das ist er, zweifellos; ein Glück, dass München ihn Hamburg wegschnappen konnte. Kušej hat Theater, aber auch Oper an den ersten Häusern inszeniert, war Spielleiter bei den Salzburger Festspielen. Seine Art, Theater zu machen, ist anders: kraftvoller, schneller, heftiger, auch moderner. Kušej ist 50, Dorn 75. Aber das Alter sagt ja nur wenig darüber aus, wie gern einer geht.

An einem Sommerabend Ende Mai aber scheint es, als habe Dieter Dorn allmählich seinen Frieden gemacht mit seinem eigenen Abschied. Er sitzt in seinem Intendantenzimmer, zwei Umzugskisten stehen schon da, und sagt: »Ich verspüre einen Zustand merkwürdiger Gelassenheit.« Eben noch stand er auf der Bühne, dem Kaiser, also ihm, gehören beim Käthchen nicht nur die letzten Worte, sondern auch die ersten. Jetzt hat er vier Stunden Pause bis zu seinem Schlussauftritt und kann auf einem Flachbildschirm die Vorstellung sehen, die zwei Stockwerke unter ihm gerade gespielt wird; eine Kamera überträgt sie live in sein Büro. Er trägt sein Bühnenkostüm, schwarze Hose, Stehkragenhemd aus Seide. Mit 75 bewegt er sich wie ein 40-Jähriger, die grauen Haare reichen bis zum Kinn.

Vielleicht kommt ein kleiner Teil seiner Gelassenheit auch daher, dass nicht nur die Zuschauer seine letzte Inszenierung lieben, sondern auch die Feuilletons. Die FAZ schrieb nach der Premiere: »Die fünf Stunden der Aufführung haben Anmut, Zauber und Grazie, Witz und Würde. Man wird solches Theater auf solch humanem poetischen Niveau in München so schnell nicht wieder sehen.« Da klingt Wehmut durch, plötzlich.

In den letzten Jahren hatten sich die Theaterkritiker oft auf Dorn eingeschossen: Sein Theater sei altmodisch, seine große Zeit vorbei, ihm gehe die absolute Texttreue über alles, seine Inszenierungen erstürben in Schönheit, er ertrage keinen Gott neben sich. Das war hart, das hat ihm zugesetzt. Natürlich konnte er sich trösten damit, dass das Publikum ihm immer treu geblieben ist. 900 Plätze jeden Abend, die muss man erst mal füllen, dazu die zwei Nebenbühnen, den Marstall und das Cuvilliés-Theater. All die Jahre wurden 80 Prozent und mehr der Eintrittskarten verkauft. Zahlen, von denen viele Theater nur träumen können, und kein unwesentlicher Aspekt, bedenkt man, dass das Residenztheater jährlich knapp 25 Millionen Euro aus Steuergeldern erhält. Doch selbst aus der hohen Auslastung wurde ihm ein Strick gedreht: Das Publikum sei überaltert, hieß es.

Der Dorn. Es nennt ihn ja keiner »Dieter« oder »Herr Dorn«. Nur Dorn. Der Dorn also weiß seit 2007, dass er im Juli 2011 aufhören wird, doch wie soll einer über seinen eigenen Abschied nachdenken, wenn er Chef ist und jeden Tag einen Dampfer wie das Residenztheater bewegen muss? 450 Menschen arbeiten dort, Schreiner, Schneider, Schlosser, Maskenbildner, Kostümbildner, Maler, Einlassdiener, Dramaturgen, Souffleure, Bühnenarbeiter, Verwaltungsangestellte, Garderobieren, Beleuchter, Tonmeister – jeder ein absoluter Könner auf seinem Gebiet. Dazu 48 Schauspieler, die fest im Ensemble sind, viele Gastschauspieler dazu. Und das alles nur für ein Ziel: dass abends der Vorhang hochgeht. Oder wie Dorn es ausdrückt: »Wenn es die Bühne nicht gäbe, gäbe es uns nicht.« Aber es gab sie jeden Abend bis auf Karfreitag, den 1. Mai und Heiligabend, 35 Jahre lang.

Wenn einer der Theaterkönig von München ist, dann er: Seit 1976 Oberspielleiter an den Kammerspielen, seit 1983 deren Intendant, 2001 dann wechselte er die Straßenseite, als Intendant des Residenztheaters, seine besten Schauspieler im Schlepptau. Jetzt, wo man ihm plötzlich wieder Kränze windet, wird er eine »Legende« genannt. Da ist was dran, so einen gibt’s nicht wieder, allein, weil heute Intendanten so schnell wechseln wie Fußballtrainer. Dorn wird für München also das gewesen sein, was Alex Ferguson für Manchester United ist.

Kein Wort hat Dieter Dorn aus dem »Käthchen« gestrichen.

Mit seinem Käthchen hat er ja nicht nur einmal mehr gezeigt, für welche Art Theater er steht und was sein Ensemble kann, sondern auch, was Theater alles kann: Da brennt auf der Bühne lichterloh Theaterfeuer, bis das Haus zusammenkracht, da reiten Schauspieler auf lebensgroßen Papppferden über Brücken, da fährt der Boden weg, und aus seinen Tiefen steigen Männer in Kettenhemden. Keine Zeile hat Dorn aus diesem so großen, so sperrigen Text gestrichen, und doch rennen die Zuschauer ihm die Bude ein, obwohl es fast fünf Stunden dauert. Da muss man sich nicht wundern, wenn bei einem, der heute noch so eine Inszenierung hinlegt, keine Freude aufkommt, wenn er gehen soll, 75 Jahre hin oder her. Da ist der Adrenalinpegel noch zu hoch, der Geist noch zu gut geölt.

Gleichwohl, eine Ahnung davon, dass seine Zeit am Residenztheater sich dem Ende zuneigt, konnte man vielleicht zum ersten Mal spüren bei seinem 75. Geburtstag im Oktober, der zugleich der zehnte und letzte Jahrestag seiner Intendanz war. Ob er das auch gemerkt hat oder nur die Zuschauer, lässt sich schwer sagen: Ein unglaubliches Programm haben ihm da jedenfalls seine Schauspieler und Freunde auf die Bühne gezaubert, Sunnyi Melles sprang aus einer rosa Torte und hauchte »Happy Birthday, Mr. Dieter Dorn«, Gerhard Polt, als Papst verkleidet, sprach ihn selig: »Das ist das erste Mal bei einem Heiden«, und eine Sängerin zitierte aus der Süddeutschen Zeitung, die unter ein Bild von Mick Jagger schrieb, er sehe Dieter Dorn immer ähnlicher.

Drei Monate später, im Januar, mitten in den Proben zum Käthchen von Heilbronn, wischt er jeden Gedanken an Abschied weg. Muss er auch, er will schließlich keinen Abschied inszenieren, sondern ein Theaterstück. Er sitzt im Wintergarten des Theaters, einem riesigen Saal mit ungeheurem Blick über den Residenzplatz, und wirkt ein wenig fassungslos: Bei der Probe vorhin ist eine Szene, »die ich schon mal hatte, die schon mal da war, verloren gegangen«, und er weiß nicht, warum. Außerdem hat ihm ein Schauspieler, einer, mit dem er »einen ganz langen Weg« gegangen ist, abgesagt. Das heißt, nicht ganz: Er wäre bereit gewesen, die Premiere zu spielen, ein Zweiter hätte dann die Rolle übernehmen müssen, er selbst habe Verpflichtungen an einem anderen Theater.

Alle, die Dorn kennen, sagen, kein Verhalten treffe ihn mehr als dieses: Untreue. Er selbst kämpft um seine Schauspieler wie eine Löwenmutter um ihre Kinder, arbeitet Jahrzehnte mit ihnen, mit Cornelia Froboess zum Beispiel seit seiner ersten Inszenierung an den Münchner Kammerspielen 1976, mit Rudolf Wessely, jetzt weit über 80, auch seit dieser Zeit, mit Jennifer Minetti und Helmut Stange sogar schon seit Ende der Fünfzigerjahre, da war Dorn selbst noch Schauspieler in Hannover. Alle vier spielen natürlich auch im Käthchen mit. Diese Treue fordert er auch ein von allen. Er hoffte, sie würden sie ihm halten bis zum Schluss. Einige haben ihn enttäuscht. Helmut Stange nicht.

Er hat Schmerzen in der Hüfte, Arthrose, aber er spielt in vier Stücken mit. »Die Hüfte muss operiert werden«, erzählt er in seiner großen Garderobe, in der man ihn kaum findet, so drängt er sich in eine Ecke, auf seinen Auftritt als Diener wartend. Die Operation hat er auf den Sommer verschoben. Bis dahin geht er auf Krücken bis zur Bühne, legt sie kurz vor seinem Auftritt zur Seite und humpelt dann, so gut es eben geht, durch seine Rolle. Merkt keiner, denn dass ein alter Diener ein Bein nachzieht, könnte ja leicht Teil der Inszenierung sein. Helmut Stange ist 82, er ist ein bescheidener Mensch.

Zu den vielen Geschichten, die es in einem Theater und über ein Theater gibt, gehört wohl auch diese: Dieter Dorn hat besonders oft Shakespeare, Botho Strauß und die großen Dramen der Antike inszeniert. Helmut Stange sagt: »Ich war in allen Griechen vom Dorn der Bote.« Das klingt ein wenig, als müsste man Mitleid haben mit denen, die nur immer stumm etwas überbringen oder holen müssen, nie nach Liebe dürsten dürfen oder den Tod fürchten. Aber dann beginnt Dorn zu schwärmen von den wunderbaren Chargen, die sein Ensemble schmückten: »Charge will ja heute keiner mehr sein. Dabei sind das die schwierigsten Rollen. Ein Schauspieler in einer Hauptrolle hat viel Zeit, sein Können zu zeigen, sich von Szene zu Szene zu entwickeln. Chargen nicht. In ihren kurzen Auftritten haben sie nur wenige oder gar keine Sätze zu sagen. Sie müssen die ganze Rolle, ihr ganzes Können in eine Minute legen.« Oft bekommen gerade sie Szenenapplaus.

Auch zu diesem Wintergarten, in dem Dorn im Januar nach der verunglückten Probe sitzt, gibt es eine kleine Geschichte: Dorn erzählt, dass noch jeder Intendant des Residenztheaters, auch er, diesen prachtvollen Raum mit diesem Blick öffnen wollte für alle, ein Café sollte es werden, eine Bar, was auch immer. Wie alle vor ihm ist auch er gescheitert: Fluchtwege, feuerpolizeiliche Verordnungen, diese Art. Von seinem Nachfolger hört man, dass auch er hier unbedingt eine Bar eröffnen wolle.

»Kušej ist eine Art Urgewalt«

An einem sonnigen Mittag im Mai düst Martin Kušej, der Nachfolger, mit einer riesigen Sonnenbrille um die Ecke, stoppt, setzt sich, bestellt einen Espresso und beantwortet sehr höflich und sehr allgemein die Frage, wie es ihm hier gefällt: gut. Als gebürtiger Kärntner stelle er fest, dass ihm die südliche Art zu denken doch sehr nah sei, dass seine Inszenierungen, die er in München gemacht hat, den Woyzeck am Residenztheater oder Rusalka nebenan in der Oper, viel enthusiastischer aufgenommen wurden als die in Hamburg. Kurz, er sei »entdeckungswütig«. Nicht sehr viel konkreter wird er bei der Frage, ob der kleine Streit zwischen dem Intendanten des Wiener Burgtheaters und ihm denn nun beendet sei: »Ich bin dieses Themas leid.« Kušej hatte nämlich angekündigt, wichtige Schauspieler des Burgtheaters würden künftig seinem Ensemble und nur seinem angehören. Matthias Hartmann, der Intendant des Burgtheaters, erwiderte darauf, ihm sei von Kündigungen nichts bekannt. Kušej sagt, man solle einfach sehen, wer im Herbst in München auf der Bühne steht. Bleibt noch die Jokerfrage: Wie sieht es aus mit der Genehmigung für den Wintergarten? Da lacht Kušej kurz und sagt: »Im Herbst, wenn wir eröffnen, werden wir auch eine Bar haben. Da können Sie sicher sein.« Und schon ist er wieder weg.

Wo er wohl beim Espresso den »Kraftlackl« versteckt hat? So hatte Toni Schmid, ein gebildeter Herr, ihn nämlich erst ein paar Tage zuvor bezeichnet. Schmid, Ministerialbeamter im bayerischen Kulturministerium, hat sowohl einen Fernsehfilm über Dorns Probenarbeit beim Käthchen von Heilbronn gedreht – am Pfingstmontag im Bayerischen Fernsehen – als auch Martin Kušej für das Residenztheater gewonnen. Er verehrt beide. Und weil das so ist, bedauert er, dass der eine geht, und freut sich, dass der andere kommt. Der Unterschied zwischen beiden? »Dorn hat eine Textgenauigkeit, eine handwerkliche Brillanz, eine Tiefe, eine Sensibilität und ein Gefühl für Rhythmus und Timing wie kein Zweiter. Außerdem kann niemand so gut Frauenrollen inszenieren wie er: Immer sind die Frauen eine Spur klüger als die Männer.« Über Kušej sagt er: »Er inszeniert die ganz wuchtigen Dinge, die unter die Haut gehen, die einen umhauen können, er ist eine Art Urgewalt, aber eine mit Fingerspitzengefühl.«

Im Februar dann also die letzte Premiere Dorns. Stehende Ovationen. Der Jubel hatte was Ergreifendes. Im Vorstellungsbuch, das bei der Inspizientin neben der Bühne aufliegt und in dem jeden Abend die Aufführung und besondere Vorkommnisse dokumentiert werden, steht über den 12. Februar: »Zahl der Vorhänge: ungezählt, ein Jubel! Szenenapplaus – mehrfach«. Anschließend, bei der Premierenfeier, geht Dorn von Stehtisch zu Stehtisch. Loben aber darf man ihn nicht, das mag er nicht. Das hat nichts mit dem heutigen Tag zu tun, der als besonders gelten könnte, er mag es nie.

Es wird April, und immer noch keine Zeit, über den Abschied nachzudenken: Umbesetzungsproben. Sunnyi Melles, die bisher im Käthchen die Kunigunde gespielt hat, rasend komisch und so hysterisch scharf an der Kante, hat ab Mai Verpflichtungen in Berlin, Dreharbeiten mit Helmut Dietl. Lisa Wagner kommt für sie, ein ganz anderer Typ: jünger, direkter, gradliniger.

Und obwohl jetzt nur diese eine Szene mit drei Frauen geprobt wird, sind mindestens 20 Leute nötig, damit sie gelingt: Dorn und sein Regieassistent Sebastian Linz, die Inspizientin, die durch ihr Mikrofon allen Technikern, Bühnenarbeitern und Schauspielern ihre Einsätze gibt: »Einen schönen guten Morgen, für die Umbesetzungsproben bitte die Damen Geist, Minetti und Wagner auf die Bühne.« Der Souffleur ist da und Garderobieren, Licht- und Tonmeister, Putzfrauen, die den Bühnenboden wischen, Requisiteure, die leise und schnell Sofa und Kerzenständer aufstellen. Dann treten die drei Schauspielerinnen auf, Lisa Wagner, die neue Kunigunde, verwechselt in einem Satz zwei Wörter, Dorn merkt das als Einziger, sofort. Als Zuschauer begreift man da erst, welche Präzisionsmaschine Theater ist. Theaterleute nennen so was anders, sie sagen: Theater ist eine ununterbrochene Folge von Verabredungen. Die Zuschauer jedenfalls scheinen Sunnyi Melles nicht zu vermissen, sie bejubeln ein paar Wochen später Lisa Wagner ebenso. Auch sie wird nach zehn Jahren am Theater nicht zu Martin Kušejs neuer Truppe gehören, sie sagt, sie lässt alles auf sich zukommen.

Es gibt nur eine, die richtig vom Leder zieht und schimpft über ihre Kündigung und das nahe Ende: Corina Zuber. Sie sitzt im künstlerischen Betriebsbüro, der Schnittstelle, oder wie Dorn es ausdrückt: »dem Herzschlag des Theaters«. Sie ist zuständig für die komplette Organisation des Riesenhauses: Wer wann wo probt, wann welches Stück gespielt wird, wann nicht, weil ein Schauspieler verhindert ist – und alle Abonnenten müssen auch drankommen. Und wenn mittags ein Schauspieler anruft, er sei krank oder stecke im Zug fest, muss sie versuchen, bis abends eine Ersatzvorstellung zu organisieren. Ohne vollkommen ruhige Nerven geht da gar nichts, ihre beiden Telefone klingeln immer. Kein Wunder, dass sie sich vorstellen könnte, Olympische Spiele zu organisieren – nach dem Job, den sie im Theater machte, klingt das eher einfach.

Warum sie gekündigt wurde, weiß sie nicht, aber die Kündigung sei rechtlich korrekt. Um sich selbst macht sie sich keine großen Sorgen, sie sei ja noch jung, aber: »Wir haben hier viele 80-Jährige, die nach Dieter Dorn nichts mehr zu tun haben werden, für die kommt nichts mehr als der Tod.« Natürlich könne man mit einem Achselzucken sagen, so ist Theater eben, so sind die Verträge, doch »man muss die Ängste sehen, die dahinterstecken, das ist nicht lustig, keine Arbeit mehr zu haben«. Und irgendwie möge jetzt bitte mal die Zeit des immerwährenden Abschieds zu Ende gehen, »das nervt ein bisschen, das ist ja wie sterben«.

Vier Wochen also noch. Dieter Dorn sitzt in seinem Intendantenbüro, unten auf der Bühne ist gleich zweite Pause, das sieht er auf dem Fernsehschirm. Er wird dann hinuntergehen, schauen, ob die hoch komplizierte Szene mit dem brennenden Haus, das einkracht, auch heute klappt, dann folgt bald sein Schlussauftritt. In seinem Vorzimmer löst Annette Fiebelkorn, seine persönliche Assistentin, seit Tagen bis spät in die Nacht das Büro auf, sichtet Akten, schreddert sie, wirft weg. Eine Frage noch an Dieter Dorn: Was macht er, wenn der letzte Vorhang gefallen ist? »Dann bereite ich den Ring des Nibelungen vor.« Alle vier Teile, 14 Stunden Wagner insgesamt, soll er an der Oper von Genf inszenieren. Der erste Teil, Das Rheingold wird 2012 Premiere haben, der letzte 2014.

Auf den Treppen hinunter zur Bühne sagt er den versöhnlichen Satz: »Ich denke, der Weg ist ausgeschritten.« Aus.

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Er geht

Dieter Dorn, 1935 in Leipzig geboren, war Schauspieler in Hannover, bevor er einer der ganz großen Regisseure Deutschlands wurde. Während seiner Zeit als Intendant haben etwa 7,2 Millionen Menschen seine Aufführungen gesehen.
Foto: Getty


Er kommt

Martin Kušej, 1961 in Kärnten geboren, bislang Theater- und Opernregisseur, ist in München erstmalig Intendant. Wer nicht bis zu seiner Spielzeiteröffnung im Oktober warten möchte, kann in der Münchner Staatsoper seine Inszenierung der Dvořák-Oper Rusalka sehen (im Juli zweimal) oder sich einlesen in seine Gedanken und seine Welt auf seiner Webseite.
Foto: laif

Fotos: Thomas Dashuber