Einfach laufen lassen

Weinen gilt am Arbeitsplatz als Tabu – vor allem für Frauen. Wir sollten das ändern.

Foto: Crowther & Carter / Getty

Neulich hätte es Hillary Clinton beinahe erwischt. Das Bild ging um die Welt: Sie und die anderen vom Team Obama sitzen im Weißen Haus und verfolgen, wie im fernen Abbottabad Osama Bin Ladens letztes Versteck gestürmt wird. Doch während die Jungs aussahen, als hätten sie sich zu einem Baseball-Abend verabredet, stand in Clintons Gesicht so etwas wie Entsetzen, sie hielt sich sogar die Hand vor den Mund. So jedenfalls schien es auf dem Foto. Doch die Außenministerin dementierte: Sorry, Leute, ich habe bloß gegen meinen Heuschnupfen gekämpft, wie in jedem Frühjahr. Die Botschaft war unmissverständlich: Von euch lasse ich mir ganz sicher keine Gefühle nachsagen.

Erfolgreiche Frauen haben keine Emotionen am Arbeitsplatz, nicht einmal, wenn der Erfolg sie verlässt. Freiherr zu Guttenberg darf beim Abgang zu Smoke On The Water eine Träne verdrücken; Silvana Koch-Mehrin, einst Hoffnung der FDP, verschickt dagegen eine nüchterne Pressemitteilung, niemand soll sie heulen sehen. Und Heidi Klum möchte dem Nachwuchs noch dringender als den richtigen High-Heel-Gang die korrekte Attitüde beibringen: Bloß keine Zicken und Klagen, der Kunde hat immer recht, und falls doch nicht, lass dir um Himmels willen nichts anmerken.

Denn das muss klar sein: Erfolgreiche Frauen haben am Arbeitsplatz keine Emotionen, und falls doch, allerhöchstens auf diese Angela-Merkel-Art, die sich mit formelhaften Behauptungen wie »mit Sorge zur Kenntnis genommen« begnügt. So stark, dass es für einen Gesichtsausdruck reicht, werden die Emotionen dann doch nicht. Mitunter sind selbst die Minimal-Gefühlsbekundungen Merkels mehr, als die Menschen verkraften können. Als sie äußerte, sie habe sich über die Tötung Bin Ladens »gefreut«, diskutierte die Republik ein paar Tage darüber, bis die Kanzlerin sich für ihr unangemessenes Gefühl entschuldigte.

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Nur eines dürfen große Mädchen noch weniger, als sich öffentlich zu freuen: weinen. Tränen sind unprofessionell und unter Garantie ein Karrierekiller. Das sagt jede einschlägige Umfrage, jeder Psycho-Coach, jeder Reißt-euch-zusammen-Frauenzeitschriften-Artikel. Die Einzigen, die bei der Arbeit heulen dürfen, sind Talkshow-Moderatorinnen und Schauspielerinnen, doch selbst die sollten sich vorsehen. Als die Schauspielerin Gwyneth Paltrow vor einem Jahr in einem Interview erzählte, sie sei bei Dreharbeiten manchmal so elend lang von ihren Kindern getrennt, dass ihr vor Sehnsucht hin und wieder Tränen kämen, erschien in der linksliberalen Tageszeitung Guardian unverzüglich eine Kolumne, die Paltrow vorwarf, sie erweise der Sache der arbeitenden Frauen einen schlechten Dienst. Weil sie heule! In ihrem Wohnwagen! Muss doch nicht sein, dass man so etwas ausplaudert! Und gleichsam den Kerlen die Kehle hinhält!

Selbstverständlich dürfen auch Männer im Büro nicht weinen, ohne als Weicheier zu gelten. Doch das Tränenverbot trifft die Frauen härter, weil Frauen nun einmal häufiger weinen als Männer. Das bestätigt einem nicht nur die Lebenserfahrung, sondern auch die Statistik.  Der »International Study on Adult Crying« zufolge, die seit 1996 weltweit die Tränenflüsse untersucht, weinen deutsche Männer im Durchschnitt 1,5 Mal pro Monat, Frauen 3,2 Mal. Eine »Wein-Tendenz« stellt sich bei Frauen 6,3 Mal alle vier Wochen ein, bei Männern beträgt der entsprechende Wert 3,9. Das Tränentabu am Arbeitsplatz mutet den Frauen also mehr zu als den männlichen Kollegen.

Woran das liegt? An einer Art Dreifachbelastung durch körperliche Voraussetzungen, Erziehung und gesellschaftliche Rollenerwartungen. Frauen haben von Natur aus kleinere Tränendrüsen, was dazu führt, dass das Wasser schneller raus muss. Außerdem produzieren sie, sobald sie geschlechtsreif sind, fünfzig bis sechzig Prozent mehr vom Milchbildungshormon Prolactin, das auch den Tränenfluss anregt. Mädchen werden nicht zur Gefühlsunterdrückung angehalten, sondern sollen im Gegenteil warme, empathische Wesen werden, die ihren Mitmenschen einen emotionalen Hafen bieten können müssen. Außerdem ist es Männern durchaus gestattet, Empfindungen von Ohnmacht und Überforderung etwa durch cholerische Anfälle abzureagieren, während sich Frauen in der Arbeitswelt Wutanfälle ebenso wenig leisten können wie Weinkrämpfe, schon weil ihre Stimmen dann so seltsam kieksen. Eine Frau, die nach oben kommen oder oben bleiben will, sollte am besten gar keine Gefühle äußern. Und sich lieber nachsagen lassen, sie sei ein kalter Fisch, noch männlicher als jeder Mann, ganz sicher kein Beziehungsmaterial, aber dafür sicher gut im Job.

Nichts spricht dafür, dass Tränen am Arbeitsplatz tatsächlich irgendeinen Schaden anrichten

Üble Nachrede ist der Preis des Erfolgs. Und nur Anfängerinnen vergießen ihre Tränen darüber auf den Damentoiletten, die man in der amerikanischen Arbeitswelt gelegentlich »crying rooms« nennt. Aber auch dort gibt es zu viele Zeuginnen, die einander hinterher zutuscheln, was sie gerade in der Nebenkabine gehört oder vor dem Schminkspiegel gesehen haben. Die wirklich professionelle Frau geht, falls es sich mal nicht vermeiden lässt, einmal um den Block und hypnotisiert sich mit schönen Gedanken irgendwie wieder fröhlich.

Wenn das Arbeitsplatz-Weinen denn wenigstens zu etwas nütze wäre! Doch der Glaube an die kathartische Wirkung von Tränen ist leider nur eine hartnäckige Illusion, das hat die Forschung ergeben. Nach Heulattacken geht es einem nur dann besser, wenn sie erstens im Schutzraum des Privaten stattfinden und zweitens in Anwesenheit eines einzigen vertrauten Menschen, der einem Trost spendet. Lässt man dagegen allein oder in der Öffentlichkeit den Tränen freien Lauf, fühlt man sich hinterher noch mieser. Weil man nicht getröstet wird, und weil man weiß: Jetzt denken die anderen, was sie immer denken, wenn eine Frau mal wieder über die Ufer tritt. Zu schwach, zu gefühlig, nicht belastbar. In der Arbeitswelt sind Tränen eine misstrauensbildende Maßnahme. Spätestens, wenn besprochen wird, wer den Führungsjob bekommen soll, wird man sich an sie erinnern. Und statt der Frau, die sich im Meeting mal gehen hat lassen, lieber den forscheren Kollegen nehmen, auch wenn der dann und wann zu schlechten Manieren neigt. Ist sicher nicht schön, aber auf Arbeit werden die Leute ja nicht fürs Wohlfühlen bezahlt, und der Mann steht wenigstens unter Strom. Statt unter Wasser.

Das Verrückte dabei ist: Nichts spricht dafür, dass Tränen am Arbeitsplatz tatsächlich irgendeinen Schaden anrichten. Wie auch? Sollen ein paar Heulanfälle dann und wann die Geschäfte stören? Die Gewinne schmälern? Die Hierarchien unterminieren? Oder gar eine strenge Organisationsstruktur der unkontrollierbaren Emotionalität ausliefern? Lächerlich. Das einzig Schlechte, was man über Arbeitsplatz-Tränen sagen könnte, ist der Umstand, dass sie ihre Zeugen zu Empathie nötigen. Und nötigen lassen sich Alphatiere bekanntlich nicht so gern, sie haben zu Hause schon genug Frauengedöns.

So könnte man leicht zu dem Schluss kommen, dass es sich beim Bürotränen-Verbot um keine vernünftige Regel handelt, sondern um ein bloßes Ressentiment aus einer Zeit, in der die Arbeitswelt einer eher militärischen als zivilen Etikette unterworfen war. Und das nur deswegen so hartnäckig überleben kann, weil sich niemand gegen die Folgen der Missachtung dieses Verbots wehren wird. Falls Vorgesetzte ihre Untergebenen zu schäbig behandeln, werden die am Ende ja doch beim Betriebsrat vorstellig oder sich sonstwie gegen das Mobbing auflehnen. Doch gegen die Geringschätzung, mit der Frauen rechnen müssen, denen einmal zu oft die Tränen kommen, kämpfen nicht einmal die Betroffenen. Sie schämen sich ja selbst. Es ist ein Teufelskreis: Weil Frauen häufiger heulen als Männer, kommen sie nicht weiter. Auch deswegen müssen sie öfter mal heulen, aus Ohnmacht. Was die Kerle nur mächtiger macht.

Der einzige Ausweg aus dieser Falle wäre logischerweise eine veränderte Arbeitswelt. Eine, die ernster machen würde mit den so oft beschworenen »soft skills« und sich nicht mehr fürchtet vor all den Gefühlen, die als weiblich gelten, als ob das gegen sie spräche. Die amerikanische Autorin Anne Kreamer hat genau das gerade gefordert, in einer intelligenten Kampfschrift namens - It’s Always Personal, in der sie mit einer Arbeitswelt abrechnet, die Männern irrationales Verhalten durchgehen lässt, während sie Frauen jede Träne als Schwäche auslegt. Doch leider haben auch solche Polemiken ein kleines Problem: Sie klingen notgedrungen ein wenig weinerlich. Es ist zum Heulen.