»Woher stammt unser Schweigegelübde?«

Wenn Yuko sich mit Freunden trifft, dann tun alle erstmal so, als gäbe es kein Fukushima. Irgendwann reden sie aber doch über ihre Sorgen und Ängste. Was ist der Grund für die gestörte Kommunikation? Ein paar Erklärungsversuche.


Unser Schweigegelübde

Radioaktivität. Verstrahlung. Fukushima. Das sind ganz wichtige Themen für uns Japaner. Aber treffe ich mich in diesen Tagen mit Freunden, dann tun wir erst einmal lange so, als gäbe es das alles gar nicht. Irgendwann reden wir dann doch, man kann ja gar nicht anders, es muss an die Luft. Davor jedoch war es irgendwo in einer stickigen Ecke festgebunden. Und weil das nicht nur mir passiert, muss es einen triftigen Grund dafür geben. Daher nun ein wenig Ursachenforschung. Woher stammt unser Schweigegelübde? Liegt das an...

...unserer Umsichtigkeit?
"Es gibt so viele Meinungen und Sichtweisen auf die jetzige Situation. So viele Überzeugungen und Wahrheiten, die wir haben oder suchen. Und das Thema ist doch auch furchtbar ungeeignet für einen gemütlichen Plausch, findest du nicht? Und wir wollen doch nicht gleich alles so kompliziert machen."

...unserem Optimismus (den sich hauptsächlich kinderlosen junge Paare leisten)?
"Selbst wenn unsere schöne Stadt ein bisschen viel Radioaktivität abbekommt, was sollen wir da schon tun? Kopf in den Sand stecken ist nicht. Und auch nicht, sich heute den Kopf darüber zu zerbrechen, was eines Tages sein könnte, eines Tages in 25 Jahren. Also, warum so viel Lärm machen? Wenn du dich so sehr sorgt, du armes zerbrechliches Ding, würde ich die empfehlen, hier wegzuziehen. Wirklich!"

Meistgelesen diese Woche:

...unserer Nervosität?
"Würde es dir was ausmachen, wenn wir das eine Thema aussparen heute? Ich bin eh gerade ein Nervenwrack. Oh danke."

...unserem Gemeinschaftssinn?
Sie wissen vielleicht, bei uns Japanern ist ein Hang zum Kollektivismus so ein kulturelles Ding. Die Leute halten mit ihrer persönlichen Meinung lange hinterm Berg. Es gilt noch immer als ein wenig unhöflich, eine eigene Stimme zu haben, geschweige denn, sie laut zu erheben. Was für eine überzogene Rektion, wie hysterisch.

Vergleiche mit Tschernobyl

Ich erkenne diese Muster, ich habe sie schon einmal in einem Dokumentarfilm über Tschernobyl gesehen. Diese Russen, Weißrussen und Ukrainer in den verstrahlen Städten, sie alle wirkten auf mich so unfassbar ruhig. Ich verstand nicht, wie sie so ruhig sein konnten. Damals stellte ich mir vor, es sei schlichtweg der Charakterzug einer sozialistischen Nation, oder dass ihnen die Regierung strikt verboten hätte, sich in irgend einer Form zu äußern. Inzwischen aber glaube ich, dass sie sich ihr Schweigen selbst auferlegt hatten. Sie wollten über die Situation nicht reden, weil sie so schrecklich war und so entmutigend.

In dieser Nacht übrigens, in eben jener Sekunde, in der ich das hier schreibe, öffnet sich die Tür von Reaktor 2 in Fukushima. Und weil dort oben Durchzug herrscht, halte ich morgen meine Fenster geschlossen.