Pssssst!

Man redet ja nicht darüber, aber: Finden Sie Ihre Stirn auch zu runzlig? Und Ihre Wangen zu schlaff? Von diesen Fragen lebt eine ganze Industrie – und gerade entdeckt sie völlig neue Wunder.


Über die calvinistische Arbeitsethik und den Schönheitsdiskurs

Mit dieser ersten Zeile wollten wir es Ihnen leicht machen. Das mag komisch klingen, aber machen wir uns nichts vor: Würde diese Geschichte mit dem Satz »Was Sie über Anti-Aging wissen müssen« beginnen, würden Sie diesen Artikel vielleicht nur heimlich lesen. Bei unserer Überschrift aber ziehen Sie vor Ehrfurcht bestimmt die Augenbrauen hoch – sofern Sie sie noch hochziehen können (dazu später mehr). Wenn Sie trotzdem verschämt in der Ecke sitzen, dann deshalb, weil Sie wegen des Bilds links Lunte gerochen haben und wissen, dass zumindest in Deutschland Anti-Aging als schmuddelig gilt – damit meinen wir alle medizinischen Eingriffe, die die sichtbaren Zeichen der Hautalterung vorübergehend beseitigen. Das liegt an unserer vom Calvinismus geprägten Arbeitsethik: Wir denken, Schönheit sei kein Wert an sich, aber wenn man sie schon wichtig nimmt, dann bitte todernst. Man muss sie sich erarbeiten mit Fleiß und Disziplin, also mit Sport und gesunder Lebensweise. Nicht mit Spritzen und Operationen – das sind unzulässige Abkürzungen, die obendrein noch viel Geld kosten! Außerhalb Europas denken die Menschen darüber anders. Damit sind wir mitten im Thema Anti-Aging, und haben mit unserer kleinen Tarnüberschrift noch nicht mal gelogen.

Wohin geht die Reise?

Der beste Ort, um alles über Anti-Aging zu erfahren, ist der »Anti-Aging Medicine World Congress«, eine Fachmesse, die jedes Frühjahr in Monte Carlo stattfindet. Zum neunten Mal haben sich dort auch dieses Jahr drei Tage lang über 6000 Mediziner und Pharmazeuten aus der ganzen Welt verabredet, um sich über alle Möglichkeiten auszutauschen, den Alterungsprozess aufzuhalten. Sie bieten ein bildgewordenes Klischee: Braun gebrannte brasilianische Schönheitschirurgen tragen große Armbanduhren, amerikanische Dermatologen gut geschnittene Anzüge, und die vielen Frauen, die an Messeständen in der großen Halle Cremes und Seren präsentieren, auffallend kleine Nasen. In einem Saal des Grimaldi Forums, das eingepfercht zwischen Reichtum und engen Straßen mitten in der Stadt liegt, steht der Stardermatologe Frederic Brandt aus Los Angeles, der aussieht wie eine Comic-Version von Andy Warhol und bekannt dafür ist, der Haut von Madonna zu einer erstaunlichen Jugend zu verhelfen. Zusammen mit seinem ebenso berühmten, ebenso in Los Angeles ansässigen Kollegen Raj Kanodia, von dem alle munkeln, er »mache« Jennifer Aniston und Cameron Diaz, hält er den Vortrag Wie man mit berühmten Gesichtern umgeht: »Niemals dürfen Stars auf normale Menschen in der Praxis treffen! Die Stars sollen abends kommen, falls sie keine gesonderte Eingangstür benutzen können!«, ruft Brandt den Kollegen zu. »Und nehmen Sie die höchsten Honorare! Nur die besten Ärzte bekommen die höchsten Honorare!« In einem anderen Raum zeichnet der belgische Hautarzt Koenraad De Boulle Linien auf das Gesicht von Jacqueline, 62, aus der er in den nächsten zwei Stunden Jacqueline, 42, machen wird: 27-mal spritzt er ihr dafür Injektionen ins Gesicht. Das ist die erste Lektion, die man hier lernt: Die Zeiten von Facelifts sind vorbei, kaum noch ein Arzt strafft das Gesicht mit dem Skalpell – außer bei Frauen jenseits der Siebzig. Heute spritzen Ärzte die Gesichter glatt.

Das gute Geschäft
Anti-Aging gilt als der am schnellsten wachsende Bereich in der ästhetischen Medizin: Die Hemmschwelle gegenüber einer Spritze ist im Vergleich zur Operation niedrig, die Behandlung kostet nur ein paar Hundert Euro und die Substanzen, die der Arzt spritzt, werden innerhalb von vier bis sechs Monaten wieder abgebaut. Ärzte können also fast sicher sein, dass ihre Patienten wiederkommen. So ist ein lukrativer Geschäftszweig entstanden. Zwar stellen Pharmaunternehmen hier unzählige Peelings und Laserbehandlungen vor – am Ende aber dreht sich alles um die zwei Erfindungen, die den Anti-Aging-Markt heute bestimmen: um Botox, das Nervengift, das Gesichtsmuskeln lähmt. Und um Hyaluronsäure, von den Profis kurz »Eitsch Ei« genannt, HA, englisch hyaluronic acid. Damit kann man Wangen formen und Lippen aufspritzen – also wieder Volumen in schlaffe Gesichter bringen. Botox und »Eitsch Ei«, diese zwei wirken zusammen auch gegen alle Gesichtsfalten, die Ärzte in dynamisch und statisch unterscheiden. Dynamische Falten entstehen durch Mimik: Lachfältchen um die Augen oder die steil aufragende Zornesfalte zwischen den Augen, auch »iPhone- oder Blackberry-Falte« genannt. Sie kommt immer häufiger vor, Dermatologen schieben das auf Smartphones: Wer dauernd auf einen zu kleinen Bildschirm starrt, bekommt steile Falten. Botox lähmt die dafür verantwortlichen Muskeln, die dynamischen Falten verschwinden. Statische Falten wie die zwischen Nasen- und Mundwinkel verlaufenden Nasolabialfalten polstert die Hyaluronsäure wieder auf. Eine komplette Anti-Aging-Behandlung für das Gesicht besteht aus einer Kombination von Botox und Hyaluronsäure. So was ist bei jüngeren Gesichtern mit ein paar Pieksern zu haben. Eine ältere Frau, wie Jacqueline, 62, muss um die 2000 Euro dafür bezahlen. Wer es sich leisten kann, wiederholt diese Behandlung alle paar Monate. Die Laune auf dem Kongress ist gut: Allein in Deutschland liegt der Jahresumsatz der ästhetischen Medizin bei etwa fünf Milliarden Euro, Hautpflegemittel bringen noch mal drei Milliarden.


Mundfalten, hier ein sogenannter Tabakbeutelmund, mit vielen senkrecht zum Mund führenden Falten.

Meistgelesen diese Woche:

Der Stoff, aus dem die Jugend ist
In der größten Halle des Grimaldi Forums preisen Pharmazeuten ihre Botox- und Hyaluronsäurevarianten an. Ein Mann winkt von seinem Messestand herüber: »Kommen Sie, wir haben ein Gewinnspiel, es gibt ein iPad – oder wollen Sie lieber eine Injektion? Können wir direkt hier am Stand machen, natürlich umsonst!« Dabei zeigt er auf einen Behandlungsstuhl, und wer Platz nimmt, bekommt unter den Augen des Messepublikums eine Botoxinjektion verpasst. Früher musste Botox aus den USA nach Deutschland importiert werden. Oft stand am Flughafen die GSG 9, wenn die Ärzte das Paket abholen wollten: Schließlich gilt Botox als das stärkste bekannte Gift der Welt. Menschenmassen damit zu töten aber wäre schwierig, weil es im Trinkwasser unwirksam wird. Die Sporen müssten über die Luft in die Atemwege gelangen, was technisch so gut wie unmöglich ist. Heute gibt es auch in Deutschland ein Botoxwerk, in der Nähe von Dessau. 18 Millionen Euro hat die Firma Merz investiert, 25 000 spritzfertige Einheiten produziert sie wöchentlich. Merz nennt seine Botoxvariante »Bocouture« – das klingt weniger nach Gift. Nur das amerikanische »Botox« der Firma Allergan hat die Endung des Wortes noch nicht geändert. Alle anderen Hersteller von Botox- oder Hyaluronsäureversionen verwenden Bezeichnungen, die zeigen, wohin die Reise geht, weg aus der pharmazeutischen Ecke, hin zum Lifestyle-Produkt: Vistabel, Perfectha, Juvederm, Restylane, Azzalure.

Fischlippen als Statussymbol?


Es gibt dynamische und statische Gesichtsfalten: Stirnfalten (dynamisch) entstehen durch Mimik, Nasolabialfalten (statisch) durch Verlust der Spannkraft.

Die Problemzonen des Alters: Hände, Knie, Ellbogen, Füße, Dekolleté, Hals
Im Gesicht funktioniert so eine Anti-Aging-Behandlung ganz gut. Andere Körperteile bereiten größere Probleme. Deswegen beschäftigen sich mehrere Kongressvorträge mit Füßen, Knöcheln, Ellbogen oder dem »Dekolleté bei Frauen über 50«. Anwesende Ärzte schauen zu, wie man faltige Haut an Ellbogen und Knöcheln mit Laserbehandlungen und Peelings abtragen, wegbrennen, abschleifen, wegätzen kann. Bei anderen Körperteilen funktionieren Spritzen: am Hals mit Botox, an Händen und Füßen mit Hyaluronsäure. Ein Arzt aus Dubai erklärt, wie er alternde männliche Geschlechtsteile mit Hyaluronsäure wieder aufpeppt. Nur beim Dekolleté muss die Frau noch unters Messer: Da hilft nur das Straffen der Brust.

Darf’s ein bisschen mehr sein?

Frederic Brandt, der Arzt von Madonna, hat eine Gesichtshaut so starr, als ob er eine Maske aus Porzellan trüge. Durchschnittlich spritzen Ärzte in den USA viermal so hohe Botoxdosen wie in Deutschland. Dahinter steckt die Logik des Kapitals: Der Eingriff hat Geld gekostet – und das sollen bitte auch alle sehen. Die eingefrorenen, in den USA frozen faces genannten Gesichter könnte man sich hier in einer Geisterbahn vorstellen. Auch in Russland gilt die sichtbar aufgespritzte Lippe, Fischlippe genannt, als Statussymbol. Für kaum sichtbare Behandlungen, wie in Deutschland erwünscht, sind Ärzte in den USA schon erfolgreich verklagt worden. Spritzt ein Arzt zu viel Hyaluronsäure, kann das Resultat aussehen wie ein Hamstergesicht, fat face genannt: Eine so behandelte Haut kann bis zu 1000-mal mehr Wasser einlagern.

Studien belegen das Suchtpotenzial von Botox- und Hyaluronsäurebehandlungen. In Deutschland halten sich die Menschen zwar zurück, aber auch hier gibt es Patientinnen, die alle zwei Monate einen Termin vereinbaren. Es komme auch vor, dass Patientinnen sich in ihren Arzt verlieben, sagt Gerhard Sattler, Chef der Darmstädter Rosenparkklinik. Ein Verhalten, das Ärzte auch aus der Psychotherapie kennen. Patienten betrachten ihren Arzt als Retter, der sie von einer Last befreit hat. Einmal musste Gerhard Sattler eine einstweilige Verfügung gegen eine Stalkerin erwirken. Eine andere Verehrerin hat ihm ein Foto geschenkt: Es zeigt ihren Oberschenkel, auf den sie sich den Namen »Dr. Sattler« hat tätowieren lassen, umgeben von Rosen.

Martina Kerscher, deutsche Professorin für Kosmetikwissenschaft an der Universität Hamburg, vertritt die Gegenposition: wenig, und zwar von allem. Nicht Schönheit oder Jugend stehen für sie im Vordergrund. Sie sagt: »Entspannung«. »Meine Patienten wollen weniger gestresst aussehen, trotzdem natürlich.« Natural look nennen die Profis diese Version.

Der Abend ist jung

In Monte Carlo ist es Abend geworden, ein Pharmahersteller lädt zu Häppchen und Champagner. »Natürlich führt ein faltenfreies Äußeres auch zu einem ausgeglicheneren Leben«, sagt Koenraad De Boulle, der belgische Dermatologe, und erzählt, dass es erste Studien gibt, die die Wirkung von Botox bei depressiven Menschen untersuchen. »Menschen begegnen einem verkniffenen Gesichtsausdruck mit Ablehnung«, sagt er. »Das wirkt auf Depressive wie ein Bumerang. Schon bald wird Botox bei der Behandlung von bestimmten depressiven Menschen eine Rolle spielen.« Dann erscheint seine Patientin Jacqueline, 62, die glücklich aus ihrem Gesicht, 42, herausstrahlt, und die Gläser klirren.

Es ist nichts Neues, dass Menschen ihr Aussehen verändern: Naturvölker kennen grausame Verschönerungstechniken wie Narbenzeichnungen, Tellerlippen, Giraffenhälse. Einige Frauen im 19. Jahrhundert ließen sich die Rippen brechen, um in ihr Korsett zu passen. Und schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts experimentieren Ärzte mit »Fillern«, auffüllenden Stoffen wie Paraffin, Silikon, Kollagen, die sie in Lippen und Wangen spritzen. Bis heute sind es größtenteils Männer, die das Bild der Frau formen – hauptsächlich Frauen zwischen Mitte dreißig und Ende fünfzig nutzen die Anti-Aging-Behandlungen. Nur zehn Prozent aller ästhetischen Eingriffe werden bei Männern vorgenommen.

Es wird noch viel geredet an diesem Abend, über Schönheit, Jugend, und was die Pharmazie noch hergeben wird. Dabei geht es auch um ein Thema: Bald schon könnte die Geschichte des Dorian Gray wahr werden. Die Filler der nächsten Generation, so hört man, sollen die Haut zu einer »Gewebeantwort« stimulieren. Was nichts anderes heißt, als dass sich die Haut dann von selbst verjüngen würde.

Foto: phunk/photocase.com; Illustrationen: Niklas Groschup