Der Rest ist Geschichte

Seit zehn Jahren lagern die Trümmer des 11. September in einer Halle in New York. Jetzt muss geklärt werden: aufheben oder wegschmeißen?

Ein paar Tage nach dem 11. September 2001, als der Schutt am Ground Zero noch dampfte, bekam der Architekt Mark Wagner einen Anruf von der New Yorker Hafenbehörde – ihr gehört das Gelände, auf dem das World Trade Center stand. Wagner hatte für die Behörde schon oft gearbeitet, er galt als belastbar und als einer, der sich mit Hochhäusern auskennt. Jemand musste in den Trümmern nach Gegenständen suchen, die aufbewahrt werden sollten, bevor Bagger kommen und alles wegschaffen würden. Vor allem Gebäudeteile wollte die Hafenbehörde haben, um den Zusammenbruch der Zwillingstürme zu untersuchen, aber auch ein paar Erinnerungsstücke für die Hinterbliebenen sollten dabei sein. Ihre eigenen Mitarbeiter seien zu traumatisiert für diese Aufgabe, viele Kollegen waren im World Trade Center ums Leben gekommen. Also stand Mark Wagner, ein breitschultriger Mann mit zurückgekämmten Haaren und Ohrring links, kurze Zeit darauf mit Schutzhelm und Kamera auf den Trümmern der ehemals höchsten Häuser Manhattans. Niemand hatte ihm gesagt, was genau er suchen sollte, darum markierte er mit Sprühfarbe alles, was ihm interessant erschien. Auf ein Überbleibsel der Radioantenne des Nordturms sprühte er »Save«, auf ein verkohltes Feuerwehrauto, auf Hunderte Teile verbogenen Stahls und einen Fahrradständer: Save, Save, Save.

»Neben mir haben Feuerwehrleute Leichenteile geborgen, und ich habe nach irgendwelchen Gegenständen gesucht«, sagt Wagner heute, »die haben mich für einen Plünderer oder Klatschreporter gehalten.« Mehrfach wurden ihm von Polizisten und Feuerwehrmännern Prügel angedroht. Bis sie begriffen: Er sammelte nicht für sich, er sammelte für die Nachwelt. Also halfen sie ihm. Wenn sie etwas fanden, wovon sie dachten, dass Wagner es gebrauchen könnte, riefen sie ihn herbei. Er sprühte sein »Save« auf zwei verschüttete Waggons eines Pendlerzugs, ein Taxi mit platt gedrücktem Dach und ein zehn Meter hohes Teil der Außenfassade.

Als Architekt kennt sich Wagner mit Statik und Beton aus, weniger mit Zeitgeschichte, darum hat er sich von Museen beraten lassen: »Seither weiß ich, dass Erinnerung markante Symbole braucht, wie die Uhr aus Hiroshima, die zum Zeitpunkt der Atombombenexplosion stehen blieb.« Acht Monate war Wagner in den Trümmern unterwegs, ein paar Kollegen haben ihn bei der Suche unterstützt, am Ende hatten sie so viel markiert, dass die Hafenbehörde den Reparaturhangar 17 am John F. Kennedy International Airport leer räumen musste, um alles unterzubringen. Der Hangar jedoch ist so zugig, dass für die besonders empfindlichen Teile klimatisierte Zelte herbeigeschafft wurden, aber es gab keinen größeren Lagerraum in New York, knapp 7500 Quadratmeter. Im Sommer 2002 war er voll.

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Heute ist dieser Hangar mit den symbolträchtigen Gegenständen selbst zu einem Symbol geworden. Denn am Umgang mit den Trümmern des 11. September lässt sich ablesen, wie schwer getroffen Amerika immer noch ist, zehn Jahre nach dem Terroranschlag.

Der Hangar steht nur Museumsmitarbeitern, Rettungskräften und Ermittlern offen. Journalisten durften erst über ein Jahr nach den Anschlägen dorthin, vielleicht weil vorher keiner verbreiten sollte, dass die Reste einer nationalen Tragödie in Schutzzelten aufbewahrt werden, wie Patienten in einer Quarantänestation. Solche Bilder passten nicht recht in die Zeit, als im US-Fernsehen ständig patriotische Reden gehalten wurden, in denen zwei Worte besonders oft vorkamen: Stärke und Stolz.

In Hangar 17 riecht es nach Staub und Rost, an den Wänden hängen zwei amerikanische Flaggen. Es sieht aus wie auf einem sehr gut aufgeräumten Schrottplatz, Hunderte Stahlträger liegen in einer Reihe, die meisten dick wie Baumstämme und völlig verbogen. An jedem Gegenstand hängt ein Zettel mit einer Ordnungsnummer. Das meiste ist so zerstört, dass man seine ursprüngliche Funktion nur erahnen kann. Ein brauner Klumpen, groß wie eine Regentonne, war wohl mal ein Fahrstuhlmotor; auf den dünnen, verknoteten Eisentrassen fuhr früher die U-Bahn-Linie 1. Von Computern sind nur verschmolzene Kabel übrig, sie lagern in aufgereihten Stahlkörben, gleich neben zwei Zugwaggons. In der Mitte steht ein bierzeltgroßer Pavillon mit Klimaanlage, darin, akkurat nebeneinander, sieben demolierte Autos, auf manchen kann man noch ein aufgesprühtes »Save« erkennen. In einer schwarzen Limousine, Objekt D-0025, vergilbt auf dem Beifahrersitz eine Zeitung vom September 2001. Eigentlich wäre diese Halle, so vollgestellt, wie sie ist, das beste Museum, um der Terroranschläge zu gedenken, nirgends sonst wird das Ausmaß der Verwüstung so augenscheinlich.

Aber vor zwei Jahren hat der Flughafen Bedarf an dem Hangar angemeldet, nun müssen die Relikte raus. Nur wohin? Da hatte die Hafenbehörde eine Idee: Im ganzen Land sollen Mahnmale entstehen, bestückt mit Überresten des World Trade Center. Jede Gemeinde kann so ein Erinnerungsstück beantragen, vorausgesetzt, es wird öffentlich und kostenlos ausgestellt. Mehr als tausend Anträge gingen ein, fast alle aus den USA, aber auch einige aus Europa. Weil viele Streben der Wolkenkratzer zu groß sind, um mühelos ausgestellt zu werden, haben Arbeiter in Hangar die Reste in 1183 Teile zersägt – manche lang wie eine Bierbank, andere klein wie ein Campingtisch. Die Gemeinden können bestimmen, wie groß und schwer ihr Stück werden soll, die Behörde weist ihnen eins zu. Die deformierten Relikte sind das Gegenteil der Heldenstatuen mit wehenden Fahnen, die bisher in den Städten stehen, aber sie haben eine ähnliche Funktion: Sie sollen ein besonders bedeutendes Kapitel amerikanischer Geschichte erzählen.

Die Amerikaner wollen ein Denkmal für 9/11 – auch wenn's weh tut.

Einmal in der Woche können Gemeindevertreter in den Hangar 17 kommen und ihr Erinnerungsstück mitnehmen. Ende Juli waren es Feuerwehrleute aus Vienna, Ohio. Acht Stunden sind sie mit ihrem roten Pickup hierhergefahren; einer trägt ein T-Shirt, auf dem steht: »Im Gedenken an unsere gefallenen Kameraden«. Sie unterschreiben Formulare, schütteln ein paar Hände und laden ein 480 Kilo schweres Stahlteil auf. Am 11. September soll es vor ihrer Feuerwache aufgestellt werden. Andere Gemeinden zelebrieren das Abholen: Der Stahlträger für Hopatcong, New Jersey, wird von der Bürgermeisterin und ihrer Delegation in Empfang genommen, in eine amerikanische Flagge gehüllt und in einem frisch polierten Lastwagen abtransportiert.

Auch eine Motorradgang ist gekommen: drei wuchtige Männer von den New York Fire Riders, im Hauptberuf Feuerwehrleute. Einer hat die brennenden Twin Towers auf seinen linken Unterarm tätowiert. Sie holen ein Stück Stahl für Kollegen aus Baltimore, es wird am Wochenende eine Prozession von New York dorthin geben, hundert Rettungskräfte auf Motorrädern, vorneweg ein Laster mit dem verbogenen Metall. Als einer der Fire Riders sich unbeobachtet fühlt, holt er die Tür eines Feuerwehrautos aus dem Hangar und legt sie in den Lastwagen. »Ich kenne den Onkel eines Feuerwehrmanns, der bei diesem Einsatz gestorben ist, ich will ihm das Teil mitbringen.« Kaum ist das Andenken verstaut, kommt eine junge Aufpasserin mit Klemmbrett angerannt, sie brüllt den Mann an: Diebstahl! Unerhört, sofort wieder her mit der Tür! Er will diskutieren, aber ihm fehlen die Argumente, die Geschichte mit dem Onkel hat keine Chance gegen Ordnungsnummern. Also gibt er die Tür zurück. »Früher konnten wir Feuerwehrleute hier nehmen, was wir wollten«, sagt er, »aber jetzt entscheiden die Behörden über Dinge, die doch eigentlich uns gehören – den Helfern von Ground Zero.«

Mittlerweile sind alle Stahlteile vergeben, bis Ende des Jahres sollen die letzten abgeholt sein. Nach Deutschland kommt auch eins, nach Oberviechtach in der Oberpfalz, knapp 5000 Einwohner. Der Ort pflegt seit Jahren gute Beziehungen zur New Yorker Feuerwehr, das hat dabei geholfen, Stahlträger H-0031a nach Deutschland zu holen.

Für andere Stücke hat die Hafenbehörde trotz jahrelanger Suche keine Abnehmer gefunden. Wer will ein ausgebranntes Rettungsfahrzeug? Oder einen Zugwaggon? Die Teile müssen professionell transportiert, gereinigt, gelagert und ausgestellt werden, das kann ein paar Hunderttausend Dollar kosten. Klar ist nur: Was einmal ausgesucht wurde, kann man unmöglich wieder wegschmeißen, das verbietet der Nationalstolz. Darum gibt es einen Arbeitskreis aus Kuratoren, der sich dafür einsetzt, dass Museen eins dieser Großobjekte bis Ende des Jahres aus dem Hangar holen. Aber auch nach einem neuen Zwischenlager wird schon gesucht – bisher allerdings vergeblich. Was also mit den Teilen passiert, die niemand haben will, ist noch unklar, sagt Mark Schaming, der Leiter dieses Arbeitskreises.

Und jetzt hat auch der größte Abnehmer für sperrige Exponate keinen Bedarf an noch mehr Objekten: Das National September 11 Memorial & Museum am Ground Zero hat bekannt gegeben, dass seine Sammlung vollständig ist. Es wird erst nächstes Jahr eröffnet, nicht schon zum zehnten Jahrestag im September, der Bau war komplizierter als gedacht. Geplant ist ein Tempel der Erinnerung, zwanzig Meter unter der Erde. »Wir durften uns aussuchen, was wir haben wollten, also haben wir die Teile mit der besten Geschichte genommen«, sagt Jan Ramirez, die Kuratorin des Museums. Ein Feuerwehrauto, ein Taxi und ein Krankenwagen werden dabei sein, auch die Antenne des Nordturms und der sogenannte Impact Steel, das Fassadenteil, in das der erste Jet einschlug. Die Gebäudereste waren derart stark mit Asbest, Dioxin und anderen Chemikalien verseucht, dass sie für eine Million Dollar gereinigt werden mussten. Kleinere Gegenstände werden so verdreckt konserviert, wie sie direkt nach dem Anschlag ausgesehen haben, sie kommen in luftdichte Plexiglaskästen. Der Umgang mit den Artefakten verlange Respekt, sagt Jan Ramirez: »Von 1122 Menschen ist nichts anderes geblieben als Asche, sie wurden in den brennenden Trümmern regelrecht pulverisiert. Das macht jedes der staubigen Teile zu einer Urne.«

Ihr Büro liegt im zwanzigsten Stock an der Liberty Plaza, keine zweihundert Meter von Ground Zero entfernt. Oftmals kommen Hinterbliebene vorbei und erzählen ihre Geschichten. Jan Ramirez hört zu und macht Notizen, alles wichtige Dokumentationsarbeit, sagt sie. Die Begleittexte für die ausgestellten Gegenstände schreibt sie anhand dieser Protokolle. Auf ihrem Tisch steht eine Packung Taschentücher, es wird viel geweint hier, »ich bin oft eher Seelsorgerin als Kuratorin«. Kaum jemand hat wohl mit so vielen Leidtragenden des 11. September gesprochen wie sie, oft ging es dabei um den Schock vieler Amerikaner, im eigenen Land angegriffen worden zu sein. Jan Ramirez möchte auch Teile der beiden explodierten Jets zeigen, aber die sind schwer zu bekommen. Die Hafenbehörde wollte sie damals nicht neben den Resten des World Trade Center lagern, erzählt Mark Wagner, der Architekt – die Passagiermaschinen seien schließlich schuld am Inferno, ohne sie würden die Twin Towers noch stehen. Die Flugzeugteile hat das FBI konserviert, sie werden im New York State Museum in Albany aufbewahrt, weit weg von Manhattan, gezeigt werden sie bislang kaum. Jan Ramirez meint, die Fluglinien – United und American Airlines – hätten etwas dagegen, dass Trümmer mit ihren Logos ausgestellt werden, das wäre schlecht für ihr Image.

Wenn das Museum am Ground Zero im September 2012 eröffnet, soll es ein Denkmal für die Opfer sein, aber es wird wohl vor allem eine Attraktion für Touristen werden. Der französische Historiker Pierre Nora hat vor über zwanzig Jahren erklärt, dass symbolische Plätze und Gegenstände bei der Verarbeitung kollektiver Traumata helfen können, weil sie Leid fassbar machen. Auf Nora geht das Konzept des »Erinnerungsorts« zurück, der ein Ersatz dafür ist, dass Menschen ihre Erfahrung mit tragischen Ereignissen nicht mehr von Generation zu Generation weitergeben. Sie besuchen lieber Orte, an denen so ein Ereignis stattgefunden hat. Und an denen es Relikte zu sehen gibt, die Leid und Tod bezeugen: die Koffer der Opfer in den Konzentrationslagern, die geschmolzenen Ziegel in Hiroshima, die Glocke des versenkten Kriegsschiffs in Pearl Harbor. Doch eine so umfangreiche Sammlung wie die zum 11. September 2001 hat es noch nie gegeben.

Wo früher das World Trade Center stand, kann man heute Souvenirs kaufen, Kühlschrankmagnete zum Beispiel, mit Fotos von den Zwillingstürmen, und T-Shirts mit dem Emblem der Rettungsteams. Es gibt ein Besucherzentrum dort, man erfährt etwas über die Geschichte des Gebäudes, auch ein paar Erinnerungsstücke werden gezeigt. Hinter Plexiglas liegen der Helm und der halbverbrannte Schutzanzug Jonathan Ielpis, eines Feuerwehrmanns, der im World Trade Center ums Leben kam. Sein Vater Lee Ielpi, ein gebeugter Mann von 67 Jahren, war früher selbst bei der Feuerwehr, heute führt er Besuchergruppen. Noch immer muss er weinen, wenn er am Plexiglaskasten mit der Uniform seines Sohnes vorbeikommt: »Am liebsten würde ich diesen Tag einfach vergessen, weil die Erinnerung mir so wehtut.« So wie Lee Ielpi geht es vielen Amerikanern: Sie würden den Schmerz des 11. September am liebsten verdrängen, wünschen sich aber trotzdem ein Denkmal für den Tag, auch wenn es wehtut.

Ende Juli fand in der Nähe des Besucherzentrums eine Art Trauerfeier statt, Lee Ielpi war eingeladen, er trug seinen dunklen Anzug. Ein zerstörtes Feuerwehrauto ist an diesem Tag von Hangar 17 zum Ground Zero zurückgekehrt, es wird ein zentrales Ausstellungsstück im unterirdischen National September 11 Museum. Jan Ramirez, die Kuratorin, hat das Auto ausgewählt, weil darin eines der ersten Einsatzteams zum brennenden Nordturm gefahren ist. Keiner der elf Männer hat überlebt. Für seine letzte Reise wurde der Wagen auf einen Laster montiert, jetzt hängt er an einem Kran, verpackt in weiße Schutzfolie und bedeckt von einer amerikanischen Flagge, wie ein Sarg. Der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg verneigt sich vor dem Auto, gemeinsam mit hundert Angehörigen und Gästen. Sie beten laut und schweigen dann. Sogar die Arbeiter, die am neuen World Trade Center bauen, legen ihre Helme ab und ihre Arbeit nieder. Bevor der Wagen langsam unter die Erde gelassen wird, stimmt das Musikkorps der Feuerwehr Amazing Grace an. Es ist eine Tradition unter Feuerwehrleuten, dieses Lied zu einem bestimmten Anlass zu spielen: bei der Beerdigung eines Kameraden.

Fotos: Timothy Fadek/Polaris/laif