Ein Junge wartet auf den Tod

Das Gesetz der Blutrache: Vor 27 Jahren erschoss Visatis Großonkel einen Mann, der ihn gekränkt hatte. In Albanien bedeutet das: Irgendwann wird zurückgeschossen. Visati ist 17 Jahre alt und kann sich heute kaum auf die Straße wagen.

Für diesen Blick riskiert Visati sein Leben: der Zusammenfluss von Buna und Drin, dahinter Shkodër, die größte Stadt Nordalbaniens.

Am liebsten ließe er sich töten. Sollen sie ihn erschießen mit ihren Gewehren, wie es Schick und Brauch ist in diesem Land, das er hasst aus ganzem Herzen, Albanien, Arsch der Welt. Sollen sie. Damit ihre Rache, nach 27 Jahren, endlich vollzogen ist, ihre Ehre wiederhergestellt. Und Ruhe einkehrt.

Visati Kolndreu ist 17 und weiß nicht, ob er verrückt ist.

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Denn würden sie ihn erschießen, denkt er manchmal, könnte der Vater wieder aus dem Haus, das er vor zwei Monaten mit einer Mauer umgab, drei Meter hoch, unendlich teuer. Und die Stiefmutter hörte endlich auf zu weinen und ihn anzurufen, wenn er, zwar selten, sich in die Straßen von Shkodër wagt, links und rechts ein Freund: Visati, alles in Ordnung bei dir?

Vor drei Monaten lag ein Zettel im Hof, darauf in kleinen schiefen Lettern die Worte: Ndokas Sohn ist aus Italien zurück. Nehmt euch in Acht.

Die Rächer streuen Angst seit 27 Jahren, Ndoka und seine Söhne, Ndokas ganze Verwandtschaft. Sie streuen Zeichen und Gerüchte.

Wäre Visati tot, könnten seine Brüder, Edi und Josef, neun und elf, zur Schule gehen, bis sie groß sind. Sie müssten sich nicht verstecken, sobald sie zwölf oder 13 werden. Weil im Kanun, diesem verfluchten Buch, das jeder kennt und keiner liest, geschrieben steht, die Rache der Blutnehmer treffe alle Knaben und Männer der blutgebenden Sippe, die fähig seien, eine Waffe zu tragen.

Den Kanun, denkt Visati, schrieb ein Teufel. Es ging, vor 27 Jahren, um nichts und alles, um die Ehre eines Mannes – die Frau hat ja keine, ihre Ehre ist Teil der Ehre des Mannes, denn der Kanun, das jahrhundertealte Gewohnheitsrecht der albanischen Bergstämme, sagt: Die Frau ist ein Schlauch, in dem die Ware transportiert wird – es war ein heißer Tag in der Gegend von Tropojë, Nordalbanien, man feierte Hochzeit, Alkohol floss, dann Streit, und einer aus der Sippe von Ndoka schmiss ein Glas, gefüllt mit Wein oder Schnaps, ins Gesicht von Visatis Großonkel: Gott gab uns zwei Fingerbreit Ehre mitten auf die Stirn, sagt der Kanun. Ein entehrter Mann ist ein toter Mann, steht im Kanun.

Und Toten gebührt Rache.

Ein halbes Jahr später, bei einer Schießübung der kommunistischen Partei – alle Teilnehmer hatten Gewehre aus Holz, nur Visatis Großonkel, Leiter der Brigade, trug eine wirkliche Waffe – erschoss der Entehrte seinen Entehrer, der Blutnehmer den Blutgeber.

Seither ist Ndoka am Zug und alle Männer seiner Sippe, Brüder, Söhne, Cousins. Sie suchen den Tod dessen, der wiederum ihnen die Ehre nahm, Visatis Großonkel, oder den Tod von irgendeinem aus der Sippe der Kolndreu.

Gjak per gjak, Blut für Blut, Stamm gegen Stamm, hin und her, ein ewiges Pingpong.

Der Großonkel, ein glühender Kommunist, wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt und nach fünf Jahren entlassen. Als 1990 das Reich von Diktator Enver Hoxha, der, paranoid, sein Land mit 700 000 Einmannbunkern überzogen hatte, in Chaos zerfiel, floh der Großonkel nach Italien.

»Aber wir sind noch hier«, seufzt Visati Kolndreu am Gartentisch seines Vaters Sokol.
Hasst du den Großonkel?
»Ich kenne ihn nicht«, sagt Visati.
Aber er hat dein Leben zerstört.
»Ich weiß nicht, wer mein Leben zerstört«, sagt Visati und fährt sich übers Gesicht.

Visati bei einem seiner seltenen Ausflüge in die Stadt, in das Zentrum von Shkodër.

Der Kanun des Lekë Dukagjini, meist nur Kanun genannt, ist das bekannteste Gesetz, Gewohnheitsrecht, das in den entlegenen Tälern Nordalbaniens seit Jahrhunderten gilt, mündlich übertragen von Generation auf Generation, und alle staatlichen Normen bis heute überdauert hat, die Gebote der Osmanen und die der Kommunisten, erst recht jene der jungen schwachen Demokratie von 1991. Der Kanun bestimmt und regelt das soziale Verhalten der Menschen, Heirat, Tod, Erbschaft, Besitz, Gastfreundschaft, Kirche, er ist moralisches Richtfeuer und Strafrecht zugleich. Erstmals in seiner Gänze erfasst und zu Papier gebracht, 1263 Paragrafen, wurde der Kanun des Lekë Dukagjini – es gibt daneben noch andere, Kanun des Skanderbeg, Kanun des Priesters Julius, Kanun des Hohen Berglandes, Kanun der Laberia – 1913 vom Franziskanermönch Shtjefën Gjeçovi.

Eines Tages, als Visatis Vater Sokol das Haus noch ab und zu verließ, um als Schreiner zu arbeiten, als Schlosser, Schweißer, Maurer, brachte Sokol ein Buch nach Hause. Was das sei, fragte Visati.

Etwas wie eine Bibel oder ihr Gegenteil, sagte der Vater. Dann warf er den Kanun in den Ofen und sah zu, wie er verbrannte.

An manchen Tagen, wenn Irena, Sokols zweite Frau, stundenlang die gleiche CD hört, Lieder aus Deutschland, Schweden oder Frankreich, fährt er plötzlich auf und schreit durchs Haus: Mach endlich diesen Lärm aus, ich sitze hier und kann nicht raus, aber du, Frau, kaum kommst du fröhlich nach Hause, hörst ständig nur diese Musik, die ich nicht verstehe.

Irena schweigt und stellt das Gerät ab. Was kann ich für dich tun?, fragt sie irgendwann und weint.

Nichts, sagt Vater Sokol, rennt in den Hof, schlägt den Hund und erfindet sich eine Arbeit, um nicht verrückt zu werden, stapelt Steine um, trägt Steine von einer Ecke des Hofs in die andere.

Der Blutnehmer darf auf die Kinder des Blutgebers nicht schießen, nicht auf dessen Frau und dessen Vieh, nicht auf Haus und Hof.

So steht es im Kanun, aber wenige halten sich daran. Sie töten, weil der Kanun es will – und verstoßen, wie sie töten, gegen den Kanun. Der Kanun, denkt Visati, macht Killer. Der Kanun ummantelt so manches Verbrechen in diesen Zeiten, gewöhnliche Morde, Abrechnungen nach einem Verkehrsunfall, als Blutrache getarnt. Neulich erst, als könnten Frauen einen Mord ehrenhaft rächen, erschossen zwei Frauen einen Mann, weil es in ihrer Sippe keinen Mann mehr gab, der für die Tat infrage kam, was für ein Scheißland, dieses Albanien.

Eigentlich, weiß Visati, hat Sokol die Mauer so hoch gebaut, nicht nur, damit die Rächer nicht sehen, wer sich im Hof bewegt, vielmehr hat er sie gebaut, damit er nicht mehr sieht, was draußen geschieht, Papa will nicht wissen, wer draußen steht und vielleicht auf ihn lauert, er will nichts wissen und stapelt Steine und schneidet Gras, baut Betonsäulen und zerstört sie wieder.

Gestern Abend sagte Sokol zu Irena: Morgen geh ich raus, egal, ob sie mich erschießen. Wir brauchen dich, weinte Irena. Dann warte ich noch einen Tag, sagte Sokol.

»Es ist schwierig, in diesem Leben nicht verrückt zu werden«

Abschied vor dem Elternhaus: Nonnen des nahen Klosters gehören zu Visatis wenigen Kontakten zur Außenwelt.

»Vielleicht gibt es ein zweites Leben«, seufzt Visati am Rand der Stadt Shkodër, 120 000 Einwohner, Nordalbanien, der Gartentisch steht hinter dicken grünen Vorhängen, ein Esel schreit, irgendwo brennt Abfall. »Ein Leben ohne Angst.«

Visati Kolndreu, geboren am 7. Januar 1993 in Barbullush, zwanzig Kilometer südlich von Shkodër, war vier, da nahm ihn der Vater an der Hand, Oktober 1997 – seine älteste Erinnerung.

Wir fahren in die Stadt, du brauchst eine neue Hose. Darf ich mit?, fragte die Mutter. Du bleibst hier, befahl Sokol, das Geld reicht nur für eine Hose.

Sokol kaufte seinem Kind ein Spielzeugtelefon, gelb und teuer. Drückte Visati einen Knopf, erklang eine Stimme: Hallo, hallo, mit wem spreche ich?

Sie kamen nach Hause, stolz drückte Visati den Knopf, hallo, hallo, mit wem spreche ich?, und plötzlich hörte er die Schreie des Vaters, Visati rannte ins Zimmer der Eltern und sah die Mutter, blutverschmiert lag sie auf dem Bett, ein Gesicht, das keines mehr war, am Boden ein Gewehr, die Wände voller Blut.

Geh raus, schrie Sokol, geh raus. Visati rannte weg, rannte und fiel hin und kam im Zimmer eines Onkels zu sich, wo er eingesperrt blieb, zwei Tage lang. Er stellte den Stuhl auf den Tisch und auf den Stuhl noch einen kleineren Stuhl, schließlich erreichte er das Fenster und schlug die Scheibe ein, sprang ins Freie, drei Meter tief, rannte nach Hause, wo niemand war, rannte durch die Straßen von Barbullush und kam zum Friedhof. Menschen standen dort und klagten und weinten, und im Grab liegt ein Sarg ohne Deckel, darin Mama, sie trägt ein Brautkleid, Visati will zu Mama und springt ins Grab, ein Mann packt ihn am Hals und zieht ihn heraus, an diesen Schmerz erinnert er sich bis jetzt am Gartentisch hinter dicken Vorhängen hinter hohen Mauern.

»Es ist schwierig, in diesem Leben nicht verrückt zu werden«, sagt Visati, 17, braune Haut, kurzes Haar, grünes Textil am Leib, das Geschenk von Schweizer Nonnen, Seastore Speed North Shore Pier 54.

Erzählt Visati vom Tod seiner Mutter, die sich erschoss mit dem Gewehr seines Vaters, weil sie die Angst nicht länger ertrug, legt er das Gesicht in beide Hände und redet sich ein, ein Unfall habe Mama aus dem Leben geworfen, ein gottverdammter blöder Unfall, Mama habe aus Versehen Sokols Gewehr berührt, das geladen auf dem Kleiderschrank lag.

Das albanische Komitee der nationalen Aussöhnung NRC, eine Nichtregierungsorganisation in der Hauptstadt Tirana, weiß von fast 10 000 Familien, die im Lauf der vergangenen zwanzig Jahre in eine Blutfehde rutschten, gut tausend davon suchten und fanden, statt weiter zu morden, einen Ausgleich, Versöhnung. Laut NRC verlassen derzeit 1480 Familien, um der Rache der Gegner zu entgehen, kaum noch ihre Häuser und leben isoliert, geächtet, ständig in Angst, 298 davon allein in der Präfektur Shkodër. Die Zahl der Blutracheopfer, erschossen seit dem Zerfall der Diktatur bis heute, 1990 bis 2010, schätzt das Komitee auf 10 000, die Zahl derer, die sich in den vergangenen zehn Jahren aus Verzweiflung umbrachten, auf mehr als 2000.

Die Regierung der Republik, naturgemäß, sieht das anders und behauptet, die Zahl der Blutrachemorde sei ständig im Sinken begriffen, von 45 Fällen im Jahr 1998 auf einen einzigen im Jahr 2009, und Familien, die sich versteckten, gebe es landesweit nur rund 130.

Sokol, nun Witwer, floh mit seinen Kindern, Lili und Visati, drei Dörfer weiter, nach Torovicë, schloss sich ein und bat einen Freund, ihm eine neue Frau zu suchen. Der wurde schnell fündig: Irena, zehn Jahre jünger als Sokol, eine schöne, kluge Frau, deren Vater noch unter den Kommunisten ins Gefängnis gekommen war, acht Jahre Kerker, sechs Jahre Arbeitslager, weil er einen Satz verbrochen hatte: Das Brot in diesem Land ist so hart, dass man es nicht essen kann.

Einmal, vor vielleicht einem Jahr, hörte Visati sie heimlich flüstern, der Tag ihrer Verlobung, im Februar 1998, sei der traurigste Tag ihres Lebens gewesen, ein schlimmeres Los könne sie sich nicht vorstellen, als einen Mann heiraten zu müssen, der in Blutrache lebe, einen Mann zu ehelichen, der irgendwann im Blut liege.

Der Kanun sagt, ein Vater oder dessen Vertreter dürfe eine Tochter zur Heirat zwingen, nicht aber einen Sohn. Der Kanun sagt, am besten lege der Vater der Aussteuer eine Patrone bei, auf dass der Ehemann seine Frau erschieße, wenn sie zu fliehen versuche, die Gastfreundschaft verletze oder die Ehe breche.

Eine Patrone legte Irenas Onkel nicht bei. Irena war 25, längst fällig für die Heirat. Visati, wenn dein Vater erschossen würde, würdest du ihn rächen?

Visati zaust das Haar und schaut zu Irena, er schnaubt und schweigt und schüttelt endlich den Kopf: »Sonst hört das nie auf.« Am 21. April 1998 lieferten sie Irena in einem großen schwarzen Mercedes. Sokol sagte: Kinder, das ist eure neue Mutter. Visati sah sie von Weitem. Ich brauche keine neue Mutter, Papa, ich will keine andere Mama. Sokol sagte: Es geht nicht anders, ich kann nicht anders. Du kannst anders, schrie Visati. Ich kann nicht aus dem Haus. Jemand muss doch arbeiten für uns. Sokol weinte. Lass uns gehen, weit weg, schrie Visati. Umarme deine Mutter, befahl Sokol. Geh, umarme sie!

Irena trug ein weißes Kleid, wie Mama, als sie im Sarg lag, sie hat das gleiche Gesicht wie Mama, Mama ist hier, Mama ist zurück, sie lebt ja noch, Visati, fünf Jahre alt, begann zu schreien und zu tanzen, Mama ist hier, Mama ist zurück, sie lebt ja noch.

Sokol goss Visati kaltes Wasser ins Gesicht. Irena fragte: Wie heißt du, mein Kleiner? Visati schwieg. Darf ich dich umarmen?, fragte Irena. Wie heißt du?, fragte Visati. Wie möchtest du mich nennen? Ich werde dich nicht Mama nennen, sagte Visati. Dann nenn mich Irena, und komm zu mir, wann immer du mich brauchst.

In der Nacht, als Sokol bei Irena lag, verließ Visati das Haus und schlich zum Friedhof. Immer wieder riss er aus, oft tagelang, aß nur Äpfel, die er fand, und schlief in Ställen, einmal versteckte er sich auf der Fähre nach Tropojë, jenem Gebiet, aus dem der Vater stammte, weit hinter Shkodër und dem Grab der Mutter.

Zwei Fingerbreit Ehre

Visati verlässt das Haus nur in Begleitung, hier mit einem Freund der Familie.

Und irgendwann standen fünf Polizisten im Haus, warfen sich auf Sokol. Das war kein Selbstmord, schrie einer, du hast deine erste Frau erschossen. Sie schlugen Sokol blutig und bewusstlos, dann warfen sie ihn in ein Auto und fuhren davon. Visati rannte zu einem Onkel: Papa ist tot.

Noch am gleichen Tag verkaufte der Onkel Sokols Haus und gab das Geld den Polizisten. Sokol, sagten die Polizisten, habe seine erste Frau, wie sich zeige, nun doch nicht erschossen, aber die Waffe, die benutzt worden war – von wem auch immer –, Sokols Gewehr, sei nicht gemeldet gewesen: ein Jahr Gefängnis. Irena zog mit ihren Stiefkindern, Lili und Visati, acht und sechs, nach Shkodër in einen Pferdestall, der Regen drang durchs Dach, kein Ofen, kein Glas in den Fenstern. Manchmal kam ein Priester vorbei, brachte Mehl und Öl.

Visati, was ist dein Traum?
»Mein Traum?«
Wenn du wünschen könntest!
Er schweigt und wartet.
»Ich kann nicht wünschen.«
Visati sitzt am Gartentisch, den Kopf in eine Hand gestützt, er schnaubt, irgendwo brennt Abfall. Und dann ist da noch diese andere Erinnerung –

Visati ist neun, er darf hinaus, weil er noch zu jung ist, um erschossen zu werden, er steht mit seinem Freund Mondi am See und fischt, da kommt ein Fremder, vielleicht fünf Jahre älter, und verlangt Mondis Fische, der Fremde hat ein Gewehr bei sich, Mondi weigert sich. Da schießt der Fremde, einfach so, in Mondis Gesicht, das plötzlich schwarz ist, ein Schrotschuss, einige Kugeln fahren durch Visatis Hemd, und Mondi fällt stumm in Visatis Arm und stirbt und stirbt, das Hemd hat Visati noch heute, zuoberst im Schrank, voller Löcher und Mondis Blut.

Der Kanun sagt, man befestige das Hemd des Toten über der Tür, sichtbar für alle, und die Frau des Hauses, nach jedem Essen, frage die Männer, ob der Tote schon gerächt sei. Spätestens dann, wenn auf dem Hemd die blutigen Flecken bleich und gelb würden, sei es Zeit, die Rache zu begehen, dem Toten zur Ehre.

»Vielleicht ziehe ich das Unglück an«, seufzt Visati und schaut zu Sokol, dem Vater, dann zu Irena, der Stiefmutter, die lautlos weint.

Nur selten wagt sich Visati in die Straßen von Shkodër, ein Freund links, einer rechts. In der Hand hält er einen kleinen runden Spiegel, und alle dreißig Meter bleibt Visati stehen, hebt den Spiegel vors Gesicht, als wollte er sich darin betrachten, und schaut, ob einer ihm folgt.

»Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann, dass jemand mir sagt, ob ich verrückt bin.«

Am 8. September, als er durch die Straßen ging, vorbei an einem Café, sprangen zwei Männer von ihren Stühlen auf, einer trug Bart, einen Bart wie Ndoka, den Visati noch nie gesehen hat, Visati erschrickt vor Männern mit Bart, seit der Vater ihm erzählte, Ndoka, der Rächer, trage Bart. Zwei Männer sprangen von ihren Stühlen auf, Visati begann zu rennen, rannte über die breite Straße vor dem »Hotel Colosseo«, rettete sich in die Kirche des heiligen Franziskus und stellte sich hinter eine Säule, wartete, wartete. Aber vielleicht ist das nicht ganz wahr, denkt Visati, zwei Männer sprangen von ihren Stühlen auf, aber vielleicht nicht seinetwegen.

Visati weiß nicht, wer sie sind, die ihn suchen, er weiß nicht, wie sie aussehen, welches Auto sie fahren – sie aber, denkt er, kennen jede seiner Tränen.

Man starrt ihn an, denkt Visati. Alle starren ihn an, kommt es ihm vor, wenn er, zwar selten, durch die Straßen der Stadt geht, die er hasst. Als hätte er ein Mal auf der Stirn.

Gott gab uns zwei Fingerbreit Ehre mitten auf die Stirn, sagt der Kanun.

Manchmal denkt Visati, er sei einfach nur dumm und nur faul und nur blöd, nicht gemacht für dieses Leben.

Manchmal denkt er, eigentlich gehörte er erschossen, weil er so blöd und faul ist. Eines Tages lernte Irena eine katholische Nonne kennen, eine Deutsche aus dem Kloster Mutter der Barmherzigkeit, Kuvendi Nëna e Mëshirës, die Nonne gab ihr Kleider, Mehl, Geld, holte die Familie schließlich aus dem Stall am Rand von Shkodër und verhalf ihr zu einem Haus auf weitem feuchtem Feld, das Sumpf wird, wenn es regnet. Sokol kaufte zwei Hunde und baute eine Mauer um das Haus, zuerst nur anderthalb Meter hoch, Irena fand Arbeit im Kloster, sie putzte, kochte, wusch Kranke, half im Garten, 300 Euro im Monat.

Als Visati schließlich 13 Jahre alt war, verbot ihm der Vater die Schule, den Fußball, die Spaziergänge, das Leben draußen. Er blieb im Haus, spielte mit seinen kleinen Brüdern, Edi und Josef, stritt sich mit der Schwester, sah fern, schrie, manchmal riss er aus, tagelang, er schlief im Freien, stahl Brot und Obst, schlich sich auf die Fähre nach Bajram Curri, weit hinter Shkodër und seinen Mördern, weit hinter dem Haus im Sumpf, wo Irena in der Küche sitzt auf einem Sofa aus künstlichem Leder, an der Wand hängt ein Teppich, darauf der Gekreuzigte, Schwänchen aus weißem Porzellan stehen auf gehäkelten Deckchen, Irena, ihr Gesicht so dunkel, hört deutsche oder französische Lieder, ständig die gleichen, und der Vater, draußen im Garten, schleppt Steine, von einer Ecke zur anderen.

Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für extralegale Hinrichtungen, der australische Rechtsprofessor Philip Alston, warf im Februar 2010 der albanischen Regierung vor, sie leiste, wenngleich die Zahl der Blutfehden im Lauf der vergangenen fünf Jahre abgenommen habe, zu wenig für die Versöhnung verfeindeter Familien. Alston hielt fest, dass Familien, die in Blutrache lebten und sich deshalb selbst isolierten, ihren Zustand auch dann aufrechterhielten, wenn seitens der Gegner gar keine konkrete Bedrohung erfolge. Sich wegzusperren sei auch ein Gebot der Ehre. Ihnen genüge die bloße Vermutung, dass ein Angriff möglich sei, es sei denn, die Rächer böten eine Auszeit ein, eine sogenannte Besa, das befristete Versprechen, auf den Vollzug der Blutrache einstweilen zu verzichten.

Eines Tages fuhr die Nonne zu Ndoka, dem Rächer, Ndoka saß allein in einem leeren Raum, eine Waffe an der Seite, der alte Mann und das Gewehr, und die Nonne bat ihn zu überlegen, ob es nicht besser wäre für alle, das Leben zu suchen statt den Tod, das Gute statt das Böse. Ob es nicht besser wäre, kein weiteres Blut zu nehmen.

Und käme der Papst aus Rom und stiege Gott aus dem Himmel, schrie Ndoka, was ich tun muss, muss ich tun.

Im Kloster können Jugendliche sicher sein und sich zum Kochen, Trinken, Essen, Tanzen treffen – auch Visati nutzt die Möglichkeit.

Das Phänomen der Blutrache, findet unter anderen der österreichische Historiker Karl Kaser, Direktor des Center for the Study of Balkan Societies and Cultures an der Universität Graz, sei mehr als ein bloßes Rechtsinstrument, sondern Ausdruck eines Ahnenkults: Die Seele des Getöteten findet erst Ruhe, wenn sein Tod gerächt ist.

Vor wenigen Monaten starb Sokols Mutter. Sokol, wider jede Angst, reiste nach Torovicë zum Begräbnis. Seine fünf Brüder saßen dort, zu Alkoholikern geworden, die sich seit 27 Jahren in alte Häuser einschließen und Sokol verachten, weil er das Dorf verließ und sich ab und zu auf die Straße wagt. Und weil er jüngst, zu Lilis Hochzeit, eine Einladung schickte, unterschrieben mit Irena und Sokol. Wo es doch heißen müsste: Sokol und Irena.

Und am Sarg der Mutter stand einer von Ndokas Söhnen. Er trank Kaffee. Sokol gab ihm die Hand. An Begräbnissen mordet man nicht. So steht es im Kanun.

Nun wissen sie genau, denkt Visati, wie mein Vater aussieht, nun wissen sie, wen sie, wenn nicht mich, zu erschießen haben, Papa, der ein neues Haus besitzt, sogar ein Auto, eine mutige Frau, die einige Schritte vor ihm geht, damit die Kugel, wenn sie kommt, zuerst sie erwischt, Sokol, der nicht zum Alkoholiker wurde, trotz der Angst.

Eines Nachts, es war Neumond, stand Irena auf dem Dach ihres Hauses und schoss das Magazin der Kalaschnikow leer. Irenas Gesicht wird immer dunkler, ihr Lachen dünn. Sie lacht nur, wenn sie Gäste hat, die deutsche Nonne und ihre Schweizer Kolleginnen, die ab und zu kommen und fragen, wie es geht.

Sonst kommt niemand mehr. Sokol geht nicht mehr ans Gartentor und schickt, wenn jemand daran rüttelt, Edi oder Josef, beide zu klein, um Blutgeber zu sein. Zum Glück, denkt Visati, hat Sokol nun diese hohe Mauer, drei Meter hoch, die ihn davor schützt, ständig hinauszuschauen.

Immerhin entlässt der Vater ihn manchmal aus Haus und Hof, zwei Freunde holen ihn ab, die einzigen, die Visati noch hat, verheiratete Männer, die ihn in ihre Mitte nehmen. Oder eine Nonne fährt im Landrover vor und bringt Visati ins Kloster, Mutter der Barmherzigkeit, damit er dort, zusammen mit anderen, putzt und kocht, spielt und tanzt. Dann bringt sie ihn zurück in den Sumpf, auf Nonnen schießt man nicht.

Visati, was ist in zehn Jahren? Er stützt den Kopf und schaut zum Vater, zur Stiefmutter, er schnaubt und sagt: »Entweder oder.« Was heißt das?
»Wir werden versöhnt sein mit unseren Rächern. Oder tot, vielleicht mein Vater, vielleicht ich.«

Vorgestern lag wieder ein Zettel im Hof, Ndokas Sohn, war zu lesen, sei nun zurück in Italien. Eine Finte, hauchte Sokol, ein Schlich der Killer, um uns aus dem Haus zu locken. Am Morgen des 5. Oktober 2010, Dienstag, war Visati Kolndreu, 17 Jahre alt, in der Stadt und bat seine Freunde um einen Gefallen: fünf Minuten.

Fünf Minuten lang setzte er sich auf eine Bank, er allein, keiner daneben, Visati allein in der Mitte der verdammten Stadt Shkodër, umgeben von nichts als möglichen Mördern. Visati weiß nicht, was ihn dazu trieb, vielleicht war es Leichtsinn, vielleicht eine Mutprobe, vielleicht die Sehnsucht, getroffen zu werden von einer Kugel. Aber es war schön.

Fotos: Christian Lutz