Eine von uns

Sie hat ein paar Pfund zu viel, sie raucht, sie flucht – und ist trotzdem an der Spitze der Charts angekommen: eine Begegnung mit der wunderbaren Sängerin Adele.

Die meisten jungen Popsängerinnen sind wie die Zeit, in der wir leben: stets bemüht, aber nicht sehr spannend. Finalistinnen von Castingshows, Produkte wie aus einem Automaten, mit einer Persönlichkeit ausgestattet, die vom Medientrainer statt vom Leben geformt wurde.

Aber es gibt ja auch Adele. Sie hat zum Interview in ein kleines Fotostudio in Shoreditch im Osten Londons eingeladen. Das Erste, was einem auffällt, ist ihre ungewöhnliche Schönheit – Alabasterhaut und olivgrüne Katzenaugen. Ein Make-up-Mann arbeitet mit einer Wimpernzange an ihrem Augenaufschlag, ihre Hände sollen vor den Fotos noch eine Maniküre bekommen, aber sie schafft es einfach nicht, still zu sitzen. Nestelt in ihrer Chanel-Handtasche nach einer Zigarette, die sie höflich zum offenen Fenster hinauspafft, versucht, ihren Dackel Louie wieder einzufangen, der in den Kulissen wuselt, redet sich dabei einen Wolf. Ein Mensch, denkt man dankbar, endlich!

2008 wurde sie mit ihrem Debütalbum 19 – nach dem Lebensjahr benannt, in dem sie, wie sie sagt, »vom Mädchen zur Frau« wurde – innerhalb weniger Monate zum Weltstar. Das hatte viel mit ihrer stacheligen und gefühlsgetränkten Stimme zu tun, aber vielleicht noch mehr mit dem, wofür sie stand. Unter all den Sängerinnen, die dem britischen Mainstream-Pop eine neue Richtung gegeben hatten, konnte man sich mit ihr am ehesten identifizieren. Lily Allen hatte über Rache und miesen Sex gesungen, Amy Winehouse über Gin und Affären mit den falschen Männern. Adeles Welt war zugänglicher. Sie lotete die Einsamkeit aus, von der auch normale junge Frauen heimgesucht werden können, und veredelte sie mit Poesie. Zeilen wie »Was muss ich denn tun, damit du mich wirklich magst?« sagten: Sie gehörte zur selben Welt wie wir. Und sie sieht immer noch so aus: eine Frau, die Größe 42 oder 44 und ihr Herz auf der Zunge trägt, keiner dieser schweigsamen Hungerhaken. Eine Exzentrikerin ist sie nie gewesen. Zu Beginn ihrer Karriere hat sie einem Reporter erzählt, wie sie nach außen hin die Coole markierte, zu Hause aber Tränendrücker-Balladen hörte. Adele ist, wie wir wären, wenn wir uns für starke Gefühle nicht schämen würden.


Adele singt »Someone like you« in der O2 Arena in  London.

Adele Laurie Blue Adkins wurde im Mai 1988 in Tottenham im Norden Londons geboren, in eine Familie starker Frauen, denen die Männer abhandengekommen waren. Sie hat viel daraus gelernt, meint sie: »Bei ihnen war immer die Kacke am Dampfen, aber sie haben nie gejammert. Sie sagten immer: So etwas passiert nun mal, komm klar damit.« Ihre Mutter war erst 19, als Adele geboren wurde, ein von Musik besessener Teenager. Früh nahm sie ihre Tochter zu Konzerten mit, zu The Cure zum Beispiel, da war Adele fünf. »Wenn meine Mum nicht so einen guten Geschmack gehabt hätte«, sagt sie, »wäre aus mir nie eine Sängerin geworden. Alles ihre Schuld.«

Als Kind war sie so fasziniert von Popsendungen im Fernsehen, dass sie obsessiv zu singen begann, in Spraydosen statt in ein Mikrofon. Sie kann sich noch erinnern, wie sie eines Abends einen Ton so perfekt traf, dass ihr Stiefvater sie ganz entgeistert anstaunte: »Da wusste ich, dass ich es schaffen könnte.«

Die Musik, die ihren Träumen eine Richtung gab, entdeckte sie mit 13 beim Stöbern in einem Plattenladen – auf der Suche nach Frisurideen. Ihr fiel eine CD der Sängerin Etta James in die Hände. »Ich liebte den Ausdruck auf ihrem Gesicht. Leg dich bloß nicht mit mir an, sagte er. Dann hörte ich ihre Stimme und wäre fast gestorben.« Sie entwickelte ein Faible für starke Vokalistinnen mit starken Persönlichkeiten wie Jill Scott, Peggy Lee, Erykah Badu, nahm sich vor, eines Tages selbst eine zu werden. Doch ihre Mutter war zu arm, um Gesangsunterricht bezahlen zu können. Dann bekam Adele mit, dass der Bruder eines Schulfreundes die BRIT School besuchte, eine staatliche Institution, der viele englische Jungstars ihre ersten Karriereschritte verdanken, und schaute am nächsten Tag der offenen Tür vorbei. Von da an war sie auf dem Weg.

In der BRIT School, die in England als uncool gilt, weil man Pop angeblich nicht in der Schule, sondern nur vom Leben beigebracht bekommen kann, lernte Adele nicht nur Gesang, sondern auch Songwriting, Klavier, Gitarre und Klarinette (Letzteres hat sie wieder aufgegeben, »ich rauche einfach zu viel«). Als sie 16 war, stellte ein Freund einige ihrer Lieder auf seine MySpace-Seite. Er war gut vernetzt, und so kam es, dass Adele kurz danach eine Mail des renommierten Labels XL Recordings bekam, das unter anderem Radiohead, die White Stripes und M.I.A. vertrat. Ob sie schon einen Plattenvertrag habe? Es dauerte ein paar Mails, bis sie verstand, dass das kein Jux war, sondern völlig ernst gemeint.

Hat es sie je belastet, dass sie üppiger ist als andere junge Popstars? »Nicht wirklich«, sagt Adele, und obwohl man einen Rest Selbstzweifel spürt, glaubt man ihr. »Ich habe mir noch bei keinem Zeitschriftencover gedacht: So muss man aussehen, wenn man erfolgreich sein will. Und selbst wenn ich eine Figur wie Katy Perry hätte, würde ich mich nicht in Unterwäsche fotografieren lassen. Ich möchte mir nicht vorstellen, dass die Leute denken könnten, ich würde nur wegen meines Körpers gut ankommen.« Dabei hat Adele ihre Berühmtheit auch ihrem Aussehen zu verdanken. 2009 hatte Anna Wintour, die Chefredakteurin der amerikanischen Vogue, sie für ihre jährliche »Shape«-Ausgabe fotografieren lassen – ein Heft, in dem auch Frauen auftauchen, die keine Modelmaße haben. »Anna hat immer wieder über dickere Frauen Dinge gesagt, für die manche sie am liebsten hängen würden, aber zu mir war sie nett«, erinnert sich Adele an die Fotosession, bei der Annie Leibovitz nur zehn Minuten statt der reservierten neun Stunden brauchte.

Bis zu ihrem Vogue-Moment, der sie zur Ikone machte, war Adele eine ehrgeizige junge Künstlerin auf der Suche nach sich selbst. Ihre Plattenfirma hatte ihr Zeit gegeben herauszufinden, was sie tun und wer sie sein wollte. 2006 und 2007 hatte sie in aller Ruhe die Songs für ihr Debütalbum geschrieben, und als es fertig war, hatte sie ganz zufällig den besten Zeitpunkt erwischt: Die britische Popindustrie war verrückt nach jungen Sängerinnen mit Persönlichkeit. So gewann Adele, schon einen Monat ehe die Platte auf den Markt kam, bei den wichtigen Brit Awards den erstmals vergebenen Kritikerpreis. Ein perfekter Einstand, aber es nervte sie, ständig mit anderen Sängerinnen verglichen zu werden, mit Duffy etwa, deren Album Rockferry im selben Monat auf den Markt kam wie 19. »Ich habe sogar in der Zeitung gelesen, dass wir beide uns in irgendeinem Club auf der Toilette geprügelt hätten. Dabei hatten wir uns bis dahin kein einziges Mal getroffen. Es war grotesk: Alle taten, als wäre es die allergrößte Neuigkeit, dass es gute Sängerinnen gab. Als ob es nie Joni Mitchell oder Janis Joplin gegeben hätte. Die Journalisten haben aus unserem Geschlecht so etwas wie ein Genre gemacht.« Das Album 19 setzte sich in England sofort an die Spitze der Charts und verkaufte sich 600 000 Mal. Dann nahm Columbia Records Adele für Amerika unter Vertrag, und nach einem Fernsehauftritt in der Saturday Night Live Show war sie auch in den amerikanischen Top Ten.

Das Video zu Adeles »Chasing Pavements«, einem ihrer ersten Hits.

Die Songs auf ihrem aktuellen Album 21 handeln von einer Erschütterung. Adele hatte sich unsterblich in den Londoner Schauspieler und Musiker Slinky Sunbeam verliebt, doch das Glück zerbrach nach kurzer Zeit. »Es war grauenhaft, wieder allein zu sein. Ich fühlte mich wie eine Versagerin, weil ich es nicht geschafft hatte, dass diese Beziehung funktioniert. Wahrscheinlich höre ich mich naiv an, aber für mich war er die Liebe meines Lebens. Und jetzt habe ich so viel Bitternis in mir. Andererseits freue ich mich schon darauf, den Mann kennenzulernen, der mir hilft, über das alles hinwegzukommen.«

Rolling in the Deep, die erste Single aus 21, hat sie am Tag nach dem Ende der Beziehung geschrieben. »Mein Herz schlug rasend schnell, das Tempo des Liedes folgt ihm«, sagt Adele. »Ich wollte keine Ballade schreiben, sondern ein Lied, bei dem die Leute denken: Oh, verdammt, sie will ihn umbringen.« Die Wut hält nicht lange, in dem Lied Rumour Has It träumt ein Mädchen davon, dass der Junge, der ihr das Herz gebrochen hat, zu ihr zurückkehrt.

Adele hat sich den Popstar-Lifestyle, den sie sich nach dem phänomenalen Erfolg ihres Debüts gönnte, längst wieder abgewöhnt. »Ich geh nicht mehr mit Lily Allen ins ›Bungalow 8‹«, einen teuren Londoner Club, ihre Lieblingslokale, »Kai«, ein chinesisches Restaurant in Mayfair, und die »Satay Bar« in Brixton, sind für Normalsterbliche erschwinglich. Sie macht sich Gedanken, ob sie sich genug um ihre Freundinnen kümmert: »Ich habe Angst, sie zu enttäuschen, wenn ich mich nicht an all die Details über ihre Dates und Boyfriends erinnere. Ich will nicht zu jemandem werden, der in ihrem Leben keine Rolle mehr spielt.«

Adele ist wieder bei ihrer Mutter eingezogen, in das Haus in Battersea, das sie ihr gekauft hat. Ihr eigenes Apartment in Notting Hill machte »ohne Mum keinen Spaß. Ich mag es, wenn ich sie herumtapern höre.« Wenn der Rummel nach dem Erscheinen von 21 abgeklungen ist, will Adele sich weiterbilden. »Nicht an der Universität, aber ich würde gern nach Austin oder Nashville gehen, nach Manchester oder Birmingham, an all die Orte, die Musikgeschichte geschrieben haben. Ich finde, man kann über sein Handwerk nie genug wissen.«

Irgendwann, sagt sie, möchte sie »die britische Bette Midler« sein. »Sie erinnert mich jedes Mal, wenn ich sie sehe, an Menschen, die ich kenne, und genau das will ich auch schaffen. Ich möchte, dass sich die Menschen auf der Stelle zu Hause fühlen, wenn sie mich sehen.«

Foto: AP