Die unbekannte Große

Sehnsüchtig wartet die Filmwelt auf eine neue Meryl Streep. Wir haben sie gefunden: Jessica Chastain. Obwohl die Frau noch kaum im Kino zu sehen war, wird sie schon von ganz Hollywood gefeiert. Zu Recht.


Kosmetikhersteller der Welt, beeilt euch: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Jessica Chastain sich die Werbeverträge aussuchen kann.

Kennen Sie Jessica Chastain? Nein? Und doch wird ihr Name in Hollywood derzeit unfassbar hoch gehandelt. Dass sie selbst noch beinahe unbekannt ist, ist eine Laune des Schicksals: Sie wurde von der Kritik schon als Filmstar gefeiert, ja, als größte Schauspielerin ihrer Generation, bevor das Publikum auch nur einen einzigen Film mit ihr hätte sehen können. Selbst in Amerika war sie noch nicht im Kino zu sehen, als sie in Interviews bereits gefragt wurde, was sie tun wird, wenn sie einmal zu alt ist, um Hauptrollen zu spielen.

Eine ganze Branche – vom Produzenten bis zum Regisseur – reißt sich um Jessica Chastain, während das Publikum noch nicht mal ihren Namen kennt.

Wie konnte das passieren? Nun, so viel Glück sie im Moment hat, so viel Pech hatte sie in den vergangenen Jahren, was ihre Filme anging: Überall, wo sie mitspielte, gab es irgendwelche Verzögerungen nach den Dreharbeiten, sodass die Filme nicht fertig wurden. Es kommt immer wieder vor, dass ein Film erst drei Jahre nach dem Dreh in die Kinos kommt, weil die Postproduktion so lang dauert, weil es Probleme mit dem Verleih oder mit weiß Gott was gegeben hat. Aber dass – wie bei Jessica Chastain – gleich neun Filme solche Probleme hatten, das wird man ungewöhnlich nennen dürfen. Vor allem, wenn es sich dabei um die ersten neun Filme einer Karriere handelt, ihr bisheriges Lebenswerk.

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Jessica Chastain, 30, kann also weiterhin unerkannt durch die Straßen laufen, und auf ihrer Facebook-Pinnwand posten Freunde und Familie aufmunternde Kommentare, auf die sie bisher sehr brav antwortet – als wäre sie eine schauspielernde Langzeitstudentin. Dabei hat sie mit Al Pacino, Helen Mirren, Ralph Fiennes, Brad Pitt und Sean Penn gedreht, sie ist mit ihnen über rote Teppiche spaziert. Erst kürzlich, bei den Filmfestspielen in Venedig, nannte Pacino sie »ein junges Genie«. Und wenn Pacino so etwas sagt, meint er das so; er ist zu alt und erfolgreich, um irgendjemandem zu schmeicheln, selbst wenn es eine so hübsche Frau ist wie Jessica Chastain:

Mit ihren großen Augen, den hohen Wangenknochen und dem langen roten Haar nimmt man Jessica Chastain das kalifornische Beach Babe genauso ab wie die klassische Leinwandschönheit aus einer vergangenen Zeit. Sie kann frostig und abweisend sein, leidenschaftlich lodernd, sie ist als Partygirl ebenso überzeugend wie als verschlossenes Mädchen. Gelernt hat sie ihr Handwerk an der Juilliard School in New York und anschließend gleich auf der Bühne als Julia in Romeo und Julia und als Desdemona in Othello. Dann folgten die neun Filme und Kritiken wie diese: »eine der heißesten schauspielerischen Leistungen des Jahres«.

Seit Sommer kommen ihre Filme nun endlich in die Kinos, einer nach dem anderen, wie orchestriert. Im Sommer lief The Tree of Life, und Chastain war als trauernde Mutter die Lichtgestalt des Films, der die Goldene Palme in Cannes gewann. Auch Take Shelter wurde in Cannes gezeigt, darin spielt sie eine Ehefrau, deren Mann durchdreht, weil er als Einziger von einem drohenden apokalyptischen Sturm weiß. Der Film, bereits beim Sundance-Festival 2011 umjubelt, wurde in Cannes mit dem Preis der Internationalen Filmkritik ausgezeichnet. Im März kommt er in die deutschen Kinos.
In Eine offene Rechnung, der gerade in den deutschen Kinos gelaufen ist, spielt Chastain eine junge Mossad-Agentin, und im Dezember startet The Help, mit Chastain in einer Nebenrolle; im Shakespeare-Drama Coriolanus, für Februar 2012 angekündigt, spielt sie mit Ralph Fiennes die Hauptrolle, ebenso in Al Pacinos Halbdokumentation Wilde Salomé (Trailer), der in Deutschland wie drei weitere ihrer Filme noch keinen Startermin hat.

Wenn man sie trifft, spricht Jessica Chastain mit dem Feuereifer einer Schauspieleranfängerin von ihrer Arbeit, wie man ihn später bei den Stars nicht mehr findet. Sie wirkt unverdorben, sie befindet sich noch nicht in den Fängen von Anwälten und Paparazzi: »Es geht mir nicht um Ruhm, es geht mir nicht um Geld«, sagt sie im Gespräch und lächelt entwaffnend: »Mir geht es darum: Mit wem werde ich arbeiten und was kann ich daraus lernen?« Sie spricht so von jedem Film, als habe sie eine Meisterklasse besuchen dürfen, von jeder Szene, als sei sie ein besonderes Abenteuer gewesen, von jeder Rolle als »Gelegenheit, mich selbst und die verschiedenen Facetten des Handwerks auszuprobieren«.

Bei alledem hat sie Angst, in Rekordzeit von the new hot thing zu ihrer eigenen Vergangenheit zu werden, ohne dass sich dazwischen je eine ernsthafte Karriere ereignet hätte. »Ich bin einfach besorgt«, sagt sie, »dass ich die Neue bin, von der man schnell genug hat, ohne sich ihren Namen richtig gemerkt zu haben. Die Leute fragen sich: Warum sieht man das Mädchen jetzt in jedem verdammten Film? Und dann haben sie es schnell satt, das Mädchen.«

Eine der schwersten Übungen für Hollywood-Schauspieler ist es, sowohl das breite Publikum als auch die kritischen Cineasten auf ihre Seite zu ziehen. Nun muss sich herausstellen, ob sie das ganz besondere Etwas, den »It-Faktor« hat. Aber wenn sie weiterhin hält, was sie verspricht, könnte sie die nächste, sehnsüchtig erwartete Meryl Streep werden.

Der Regisseur Terrence Malick, für seinen Perfektionismus vergöttert und berüchtigt, verfiel ihr auf Anhieb: Beim Casting für The Tree of Life sollte Chastain als Erstes einen langen Monolog halten, in dem sich der Schmerz der Mutter über den Tod des Sohnes ausdrückte. Danach sollte sie denselben Inhalt transportieren, ohne ein Wort zu sagen. Die Schauspielschülerin in ihr liebte diese Herausforderung, und als Malick sie spielen sah, war er begeistert, und begann sofort an ihrem Auftritt zu feilen: Er bat sie, sich im Metropolitan Museum in New York Gemälde der Gottesmutter Maria anzuschauen und bei jeder Gelegenheit so viele Filme mit Lauren Bacall wie möglich. Chastain sollte sehen, wie langsam und bedächtig Frauen in einer Ära sprachen, die gemächlicher war als unsere.

Darauf folgte Take Shelter, ein Film, der unter ganz anderen Bedingungen als The Tree of Life gedreht wurde: Miniproduktion, winziges Budget, wenige Drehtage, jede Szene musste sofort sitzen. Der Druck auf die Hauptdarsteller war enorm hoch. Jessica Chastain hielt stand.

Auf die viele Arbeit an neun Filmen folgte: nichts. Ruhe. Kein Filmstart. Kein neues Angebot. Das war der Moment, in dem sie sich wirklich Sorgen machte.

Ende September die Erlösung: Das Branchenblatt Variety meldete, Jessica Chastain sei aus einer Topriege junger, heißer Schauspielerinnen ausgewählt worden, an der Seite von Tom Cruise in Horizons zu spielen. Das war’s dann wohl mit dem Geheimtipp.

Foto: AP