Bei Marisa in den Abruzzen

Der Dalai Lama brach in Tränen aus, als er hier war – so schön ist es.

In den Höhenlagen gleicht die Majella dem Mond. Das Karstgestein leuchtet weiß auf den bis zu 2793 Meter hohen Gipfeln, die manchmal bis August schneebedeckt sind und im Oktober wieder. Und das eine gute halbe Stunde von den Badestränden der Adria entfernt. Manchmal riecht man das Meer sogar. Im Majella-Nationalpark gibt es steile Massive, dramatische Schluchten, weite Hochplateaus. Auf dem Campo Imperatore soll der Dalai Lama vor Freude über den Anblick geweint haben. Im vergangenen Sommer hat sich eine erfahrene Bergsteigerin im Teufelstal verirrt. Camillo Sanelli, 45, fand sie nach sieben Tagen, frierend, dünn, aber lebend. Der Mann kennt sich aus. Die Bergwacht kann sich auf ihn verlassen. Eigentlich ist Sanelli Bauer. Auf seinen Feldern wächst Solina, ein antiker Weichweizen, »die Mutter allen Getreides«. Camillos Vater Paolino, 85 Jahre alt, ehemals Schäfer, seufzt: »Majella, Majella, Majella, das sind die schönsten Berge der Welt.«

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Seine Frau Marisa lernte Camillo mit 25 kennen, beide waren Bergführer, sie fuhren zusammen Ski. Camillo traute sich jahrelang nicht, ihr sein Heimatdorf Decontra zu zeigen. Es liegt hoch über den schicken Dörfern wie dem Thermalquellen-Kurort Caramanico. Durch die Abruzzen streifen Braunbären. Manche wagen sich bis an die Dörfer heran, wenn sie Hunger auf frische Hühner haben, Wölfe lauern auf Schafe. Aber als Marisa vor zehn Jahren das leer stehende Haus von Camillos Großvater sah, verliebte sie sich in Decontra und änderte ihr Leben. Jetzt trägt sie einen geblümten Kittel, schneidet Pasta, indem sie den Nudelteig durch Drähte presst, die wie Gitarrensaiten aussehen; Marisa kocht socere e nore, schwarz-weiße Bohnen aus ihrem Garten; sie pflanzt Biogemüse an – für ihre Gäste in den fünf Zimmern, die Familie Sanelli heute vermietet. Da Opa Paolino nach seinem 80. Geburtstag immer öfter einschlief, wenn er die Schafe hüten sollte, und die Wölfe seelenruhig zwölf von ihnen auffressen konnten, verschenkte Camillo die verbliebenen zwanzig an Nachbarn. Dafür bekommt die Familie nun frischen Ricotta, so viel sie will. Die Gäste essen ihn zu Solina-Brot, das Marisa, Camillo und Paolino gemeinsam im alten Holzofen backen.
Dazu servieren sie scharfsüße Chilimarmelade oder schwarzes Traubenmus mit Wein: Montepulciano d’Abruzzo, den Camillo im Keller keltert.

Der süße Duft seiner Trauben begleitet die Gäste noch, wenn sie in die gemütlichen Holzbetten unter bunte Decken wollen, um sich auszuschlafen. Vor der Tür warten 700 Kilometer Wanderwege: spektakuläre für Bergfexe, aber auch behindertengerechte. Camillo nimmt einen mit zu San Bartolomeo, einer Einsiedelei bei den besten Freeclimbing-Felsen von Zentralitalien. Die sind ganz nah. Oder er führt zur Eremitage San Giovanni hoch über dem Bärental, in die man reinkriechen kann, wenn man schwindelfrei ist. Der alte Paolino kichert. Gern ließ er früher die Mädchen vor, weil er dann unter ihre Röcke gucken konnte. Seine Enkel Viola, 11, und Paolo, 7, klettern mit den Kindern der Gäste. Im Winter fährt die Familie Sanelli mit allen zusammen Ski. Marisa wollte nie allein sein. Jetzt ist in der Einsamkeit wieder was los.

Kontakt: Marisa und Camillo Sanelli, Agriturismo Pietrantico, c. da Decontra 21, Caramanico Terme, Tel. 0039/085/92 21 88, Übernachtung pro Person ab 40 Euro, mit Halbpension 65 Euro. Über die Majella und die schönsten Wanderwege lesen Sie hier.

Illustration: Serge Bloch