Bei Mathias in Chile

Unterwegs mit einem Auswanderer, der eine Autowerkstatt in Frankfurt führte – bis er den Mut fand, seinen Traum zu leben.


Plötzlich wollen sie alle nach Chile: der Schauspieler Leonardo DiCaprio oder die niederländische Prinzessin Máxima, zum Urlaub bei den Vulkanen im Süden. Die New-Age-Anhänger, um in der Atacama-Wüste das Ende der Welt zu überleben und Ufos zu sehen. Doug Tompkins, der amerikanische Millionär und Esprit-Gründer, um die Welt zu retten mit dem Kauf von Urwald in Patagonien, wo er gegen die geplanten Staudämme kämpft.

Mathias Boss kam schon vor 14 Jahren, als Chile noch nicht in aller Munde war. Der Frankfurter flüchtete vor der schlechten Laune aus Deutschland. Dort führte er eine Autowerkstatt. Heute verkauft er Abenteuer: eine Reittour vom Süden Chiles für ein oder zwei Wochen quer über die Anden nach Argentinien; mit Grillen am Lagerfeuer und Schlafen im Zelt oder in kleinen Berghütten.

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Fünfzig Jahre alt ist Boss; ein Bruce-Springsteen-Fan, der seine chilenische Frau immer mi amor nennt und es offenbar immer ernst meint. In Deutschland hat er sein Jurastudium abgebrochen und Kfz-Meister gelernt, in Chile ist er jetzt Selfmademan mit dem Motto: »Ist nicht so schwierig.« Haus bauen, ganz allein? »Nicht schwierig. Macht doch Spaß, wenn man weiß, von welchem Baum jeder einzelne Balken kommt.« Fünf Jahre hat er auf den Strom gewartet, das hat ihm allerdings keinen Spaß gemacht. Aber Apfelsaft pressen, Hühner schlachten, Satteltaschen nähen, Brot backen, Pferde beschlagen? Alles nicht schwierig. Blutwurst machen? »Habe ich drei Jahre lang gemacht. Das ist schon schwierig, die Schweine schauen einen nämlich beim Schlachten an. Mach ich nicht mehr.«

Sein Optimismus ist ansteckend, und ehe man sichs versieht, sitzt man auf einem Pferd, denn auch Reiten ist natürlich nicht schwer. Klappt wirklich mit ein paar Tipps von ihm. Mathias hat schon mehrmals blutige Anfänger auf seinen Pferden über die Anden geführt – über 2000 Meter hohe Pässe.

Das selbst gebaute Landhaus steht in der Nähe von Pucón, einer Kleinstadt 700 Kilometer südlich von Santiago de Chile, im Sieben-Seen-Land, dort wo Patagonien im Süden und die Anden im Osten beginnen. DiCaprio und die holländische Prinzessin besuchten den gefragten Ort, der amtierende chilenische Präsident und seine Vorgängerin im Amt haben am See nebenan ihre Ferienhäuser. Pucón ist der letzte Ort mit schicken Discos für junge Leute, die auf der Suche nach Abenteuern in der Natur sind: vom Kajakfahren über Rafting bis hin zum Snowboardfahren auf dem Vulkan. Über Pucón thront der Villarrica, ein aktiver Vulkan, 2850 Meter hoch, 2004 brach er zuletzt aus, auch ihn zu besteigen ist nicht ungefährlich. »Berg des Teufels« nennen ihn die Mapuche, die Indianer Chiles. Nachts kann man von Mathias’ Garten aus die Lava glühen sehen, deren Licht vom schneebedeckten Kraterrand reflektiert wird. Manchmal schießen Lavafontänen in den klaren Sternenhimmel.

Fünf Hektar gehören Mathias in diesem Paradies. Es ist ein kleines Grundstück für chilenische Verhältnisse, mitten in der Natur, direkt am Fluss gelegen. Drei Hunde toben herum, einer von ihnen dreibeinig, seitdem er unter ein galoppierendes Pferd geraten ist. In den Ställen an die vierzig Hühner und zwanzig Pferde. Die freilaufenden Gänse haben sie inzwischen weggegeben. Die Türen und der Gartenzaun bleiben dennoch geschlossen. Es ist zwar schon eine ganze Weile her, dass ein Puma in der Nähe gesehen wurde, aber Füchse gibt es zuhauf.

Zwei kleine Hütten hat Mathias für Gäste gebaut, die bei ihm Urlaub machen. Gegessen wird gemeinsam im Haus mit der Familie: Asado al Palo, Fleisch, das am Stock über dem offenen Feuer gegrillt wird, mit scharfer Sauce aus Zwiebeln, Tomaten und Koriander, Pevre genannt, Forellen aus dem angrenzenden Fluss, Seehecht aus dem nahen Pazifik. Man spricht Deutsch und Spanisch bei Tisch, manchmal auch Englisch, wenn Amerikaner in einer der beiden Hütten zu Gast sind. Mathias’ Frau Karin ist gebürtige Chilenin, aufgewachsen in Santiago, sie gab ihm Spanisch-Unterricht in Frankfurt, so lernten sich die beiden kennen. Pucón im Süden suchten sie sich aus, weil sie es für die schönste Gegend in ganz Chile halten.

Karin ist die Seele der Familie, immer gut gelaunt, verträgt kaum Alkohol, behaupten ihre beiden Kinder. Sie betreibt eine Sprachschule in Pucón. Im chilenischen Sommer kommen Amerikaner und Deutsche auf Südamerikareise, die in ein paar Wochen Spanisch lernen wollen; im Winter Chilenen, die im Fremdenverkehr arbeiten, zum Englischunterricht. Mathias Tochter Mara ist 14 Jahre alt und ein begeistertes Pferde-Mädchen. Remo, der 17-jährige Sohn, trägt zum Verdruss seiner Eltern ein Piercing in der Lippe, kennt sich schon recht gut aus auf dem Gebiet Pisco Sour, einem chilenischen Nationalcocktail, will das Partyleben von Pucón erkunden. Sechzehn Kilometer ist der Ort vom Haus entfernt, und Remo darf noch nicht Auto fahren. Also muss Mathias ihn am Wochenende abholen, um zwei Uhr nachts.

Es ist ein beneidenswertes Leben, das sich Mathias in Chile aufgebaut hat. Aber es ist auch ein hartes Leben, härter als sein altes in Frankfurt, wo er einfacher mehr Geld verdienen konnte. Mathias veranstaltete die ersten Jahre auch Rafting- und Kajaktouren. Irgendwann fühlte er sich zu alt, um sich zehn, 15 Meter hohe Wasserfälle hinunterfallen zu lassen – »Ich habe auch keine Lust mehr gehabt, im Wasser zu frieren.« Aber die Veranstalter von Reittouren liefern sich in Pucón einen Preiskampf. »Zwanzig Pferde fressen ganz schön was weg.« Mit den kurzen Tagesausflügen lässt sich kaum noch etwas verdienen. Und einiges ist ihm an der neuen Heimat immer noch fremd geblieben: »Die Menschen reden nicht über Politik. Das gehört sich hier nicht.« Selbst unter Freunden nicht. Von seinem direkten Nachbarn weiß Mathias gerade mal, dass er noch strammer Pinochet-Anhänger ist. Dabei gäbe es viel, worüber man reden könnte in der jungen Demokratie: Chiles unbewältigte Vergangenheit während der Diktatur, die gigantischen Baupläne in Patagonien mit 200 Staudämmen, die Studentenproteste in Santiago gegen zu hohe Studiengebühren und fehlende staatliche Unterstützung. An Mathias’ Auto klebt ein Aufkleber gegen das Staudammprojekt, und er macht sich Gedanken, wie er das Studium der Kinder bezahlen soll. Den Schritt, nach Chile auszuwandern, hat er dennoch bisher nie bereut.

In einer Gastfamilie lässt sich jedenfalls in relativ kurzer Zeit viel über ein Land erfahren. Zur erweiterten Familie gehören ja auch drei Viehtreiber, die Mathias und die Reiter auf den Touren begleiten. Der eine, Aldo, hat auf seinem Hof über den langen, harten Winter in den Bergen dreißig von vierzig Schafen verloren. Der andere, Luis, laut Mathias ein echter Pferdeflüsterer, hat beim Pferderennen gerade tausend Euro gewonnen, das sind in Chile fünf durchschnittliche Monatslöhne. Auch eine Frau, Alejandra, begleitet die Reitgruppen. Schließlich: Silvana, eine chilenische Hausfrau, um die sechzig, die beste Köchin von allen, auch sie hat ein Gästezimmer zu vergeben, mitten in Pucón, an die Sprachschüler von Karin.

Obwohl: In Pucón und auf Mathias’ Hof lernt man eher Chilenisch als Spanisch. Chilenen verschlucken oft die letzten Buchstaben eines Wortes, manchmal auch ganze Silben: No(s) vemo(s), sagen die Reiter von Mathias – wir sehen uns, oder porfa statt por favor, bitte. Im Chilenischen gibt es auch Wörter, die anders als im Spanischen gebraucht werden: Rico, reich, bedeutet in Chile eher: lecker, wobei auch Frauen oder Männer lecker sein können. Selbst die Natur. Das Leben am Villarrica mag mitunter hart sein, aber das Leben ist hier auch sehr rico.

Kontakt: Mathias Boss, Antilco – Horsetrekking Adventures in the Andes, info@antilco.com, Tel. 0056/997/ 13 97 58. Weitere Adressen für Reiterferien gibt es hier.

Fotos: Enno Kapitza; Illustration: Serge Bloch