Die Pforte seines Lebens

Seit 60 Jahren leidet der Architekt Jochen Wilk an der Wartburg, genauer: an einem Eingang, der an der falschen Stelle sitzt.

Er steht hier und kann nicht anders. 1521 war Martin Luther Gast auf der Wartburg, Jochen Wilk will das Erbe des historischen Gemäuers retten.

Jeden einzelnen Tag feilt Jochen Wilk an seiner Beweisschrift. Er stellt Sätze um, spitzt Pointen an und tauscht Überschriften aus, jedes Detail könnte entscheidend sein. Wilk kann nicht anders. Das geschehene Unrecht muss beseitigt werden, und niemand außer ihm kümmert sich darum, seit 60 Jahren. Also setzt er sich mit Bleistift und Radiergummi an seinen Wohnzimmertisch in der Münchner Au und kämpft gegen die Wartburglüge oder das, was er die Wartburglüge nennt. Manchmal wacht er nachts auf, weil ihm etwas einfällt, was unbedingt geändert werden muss, »dann holt er sich Block und Bleistift ins Bett und schreibt an seinem Aufsatz«, erzählt Astrid Wilk, seine Frau, und rollt mit den Augen. »Es geht um die historische Wahrheit!«, ruft Jochen Wilk aufgebracht. »Ich weiß, Jochen, ich weiß doch«, sagt Astrid Wilk. Aber die Zeit drängt. Jochen Wilk, Diplomingenieur, Architekt und Stadtplaner, geboren in Eisenach, der Stadt am Fuße der Wartburg, wird im Februar 99 Jahre alt.

Der falsche Eingang zum Palas heißt sein Aufsatz, seine Beweisschrift, und es geht um die Wartburgrestaurierung 1953. Damals wurde der Eingang des Palas, des Hauptgebäudes der Wartburg, kurzerhand verlegt: Eine schmale, in den ersten Stock führende Außentreppe an der Westfassade wurde abgerissen und das Loch zugemauert. Stattdessen wurde an die Nordseite eine breite, flache Treppe gesetzt, mit Zugang zum Erdgeschoss des Palas. Begründet wurde der Eingriff damit, dass der Haupteingang des Gebäudes immer am Nordgiebel gewesen sei. »Das ist eine Lüge. Ein Verbrechen. Historisch völlig falsch! Über Jahrhunderte wurde der Palas von Westen betreten, über die prächtige Galerie ging es in den weltberühmten Sängersaal, so wie es sich gehört. Man schleicht doch nicht von hinten in den Sängersaal wie heute, kein Architekt würde so denken«, ruft Wilk durch sein Wohnzimmer, immer noch empört. Er sieht in dem Umbau eine ganz andere Motivation: »Die wollten einfach mehr Besucher durchschleusen können.« Mehr Besucher bedeuteten auch damals: mehr Devisen.

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Schon 1953 kämpfte Wilk gegen die Umbaumaßnahme, seine Protestbriefe hat er noch, sie sind säuberlich abgeheftet in einem seiner Wartburgordner. Aber zu DDR-Zeiten zählte das Wort eines Einzelnen wenig: Wilk wurde vom »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« gerüffelt, und damit war die Sache erledigt. Nun hat Wilk vor ein paar Jahren seinen Kampf wieder aufgenommen, seither arbeitet er jeden Tag an seinem Aufsatz, oft stundenlang, manchmal den ganzen Tag, und schickt ihn dann an Minister und Professoren, an die Wartburg-Gesellschaft, an Baugutachter, Architekten und vor allem an die Unesco.

Es werde Licht: Der Nebel im Herbst unterstreicht den Mythos der Wartburg. Und verschleiert, was Wilk als Schande sieht: Der Eingang zum Palas ist nicht dort, wo er sein sollte.

Man kann Wilk zwanghaft nennen oder besessen, beides trifft es irgendwie, jedenfalls hat er eine Mission: Der heutige Eingang muss weg, der sei-ner Meinung nach ursprüngliche Zustand des Palas wiederhergestellt werden.

Für ihn ist ein Eingang nicht nur die Öffnung einer Gebäudehülle, ein Loch in einem Gemäuer, sondern viel mehr: Der Eingang ist das erste Element, das ein Besucher betritt, der Eingang führt zum Kern des Gebäudes, und wie er dorthin führt – ob nüchtern, spektakulär oder prunkvoll –, das kann schon alles sagen über ein Gebäude. Der Eingang bestimmt, wie man ein Gebäude wahrnimmt, er bestimmt die Funktionen der Räume dahinter und den Eindruck der Besucher.

Kurz: Ein Eingang ist nicht nur ein Eingang. »Erst recht, wenn es um ein derart bedeutendes Bauwerk wie die Wartburg geht«, sagt Wilk. Deshalb kann Wilks Kampf – theoretisch – schwerwiegende Folgen haben. Sollte nämlich die UNESCO der Argumentation folgen, dass die Verschiebung des Eingangs 1953 die innere Ordnung der Burg gravierend verändert hat, müsste der Wartburg eigentlich der Titel »Weltkulturerbe« entzogen werden, jedenfalls auf Zeit. »Bis der eigentliche Zustand wiederhergestellt ist, darum geht es mir«, sagt Wilk. Er lächelt, die Vorstellung gefällt ihm.

Das Erstaunliche ist: Jochen Wilk hat fachlich sehr wahrscheinlich recht. So wahrscheinlich, wie man das heute eben noch sagen kann, wurde die Burg schon sehr früh von Westen betreten, darin bestätigen ihn die wenigen Experten, die sich intensiv mit der Baugeschichte der Wartburg befasst haben. Selbst der Erste Vorsitzende der Wartburg-Gesellschaft antwortet Wilk, er könne sich den Zugang am ehesten dort vorstellen, wo Wilk ihn wieder haben möchte – an der Westfassade.

Zwar wurde die 1953 dort abgerissene Außentreppe tatsächlich erst Mitte des 19. Jahrhunderts von Hugo von Ritgen an den Palas gestellt, aber an derselben Stelle stand seit 1628 schon eine andere, doppelläufige Treppe. Und davor wiederum führte ein hölzerner Treppenturm in den Palas, wohl spätestens seit Beginn des 13. Jahrhunderts. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls der führende Experte für Bauforschung an der Wartburg, Elmar Altwasser, in einer höchst aufwendigen Studie: Er untersuchte dafür das Gestein der Wartburg mit Ultraschall und bestimmte so das Alter der jeweiligen Steine.

Nicht einfach nur ein Eingang

Die Burg und ein Herr: Jochen Wilk hat sich mächtige Gegner ausgesucht: die UNESCO, die die Wartburg zum Weltkulturerbe erhoben hat, und das Land Thüringen - um nur zwei zu nennen.

Seit 1200 wurde der Palas der Wartburg also wohl von Westen betreten, die Besucher gelangten über die vorgelagerte Galerie in den Sängersaal. So funktionierte das Gebäude, bis der Direktor der Wartburg 1953 den westlichen Zugang als »unmittelalterlich« entfernen ließ.

Wilk verfasst seine Beweisschrift gegen diesen Eingriff mit der Autorität eines Stadtplaners, der über die Jahre viele Wettbewerbe und Ausschreibungen gewonnen hat, und vor allem in der absoluten Gewissheit, recht zu haben.

Das Problem ist: Es ist nicht klar, wen er eigentlich von seiner Wahrheit überzeugen muss. Das Land Thüringen? Die UNESCO? Deren deutsche Abteilung?

Am Ende verweisen ihn alle, die Denkmalpfleger und Bauforscher, das World Heritage Centre der Unesco, der Internationale Rat für Denkmalpflege und die »Permanent Delegation of Germany to UNESCO« immer wieder an die Zuständigkeit des Landes Thüringen und der Wartburg-Stiftung. Deren geschäftsführender Direktor Günter Schuchardt, der Burghauptmann der Wartburg, beharrt als einer der wenigen Experten darauf, dass der ursprüngliche Eingang zum Palas an der Nordseite gewesen sei. Während seiner Amtszeit wurde im Antrag für die Aufnahme der Wartburg in die Weltkulturerbe-Liste schlicht geschrieben: »Um den mittelalterlichen Charakter des Ensembles besser herauszustellen, hat man die Außentreppe, die 1855 errichtet wurde, von der Westfassade des Palas entfernt.«

»Das ist eine Lüge!«, ruft Wilk, nun schon etwas ermattet von seiner Empörung.

Steine des Anstoßes: Diesen Eingang mag Jochen Wilk nicht länger am Palas dulden.

Tatsächlich kann Schuchardt, der Burghauptmann, Wilk auch kaum zustimmen. Für ihn und die Wartburg-Stiftung wäre ein teurer Umbau des Palas höchst problematisch – und die Aberkennung des Weltkulturerbe-Titels eine Katastrophe. Im letzten seiner vier Schreiben an Wilk beendet Schuchardt den Briefwechsel mit der Formel: »Erwarten Sie bitte keine weiteren Ausführungen.«

So wird es Jochen Wilk wohl nicht helfen, dass er immer wieder hört, er habe recht. Denn genauso oft lautet der Nachsatz, man könne ihm leider nicht helfen und es gebe auf der Wartburg auch einfach wichtigere Probleme als den Eingang des Palas. Zum Beispiel die Windräder in der Umgebung, die der Wartburg zu nah kommen und so die Blickschneise ruinieren – die zu einem Weltkulturerbe dazugehört. Oder die Seilbahn, die der Burghauptmann gern bauen lassen würde, um mehr Besucher hinauf zur Burg zu bekommen. Solche Dinge seien Gründe, der Wartburg den Titel »Weltkulturerbe« wieder zu nehmen, sagen die Leute vom Internationalen Rat für Denkmalpflege (Icomos), sie überwachen gewissermaßen den Umgang mit Weltkulturerbestätten und schreiten ein, wenn sie das Ganze in Gefahr sehen. Das ist beim neuen Eingang des Wartburgpalas, der nun schon seit fast 60 Jahren so dasteht, wohl nicht der Fall. Auch wenn Icomos-Vertreter den Abriss der Treppe 1953 durchaus für einen Fehler halten.

Wilks Kampf gegen den neuen Eingang steht immer wieder still, oft wochenlang. In dieser Zeit überträgt Astrid Wilk, immerhin fast 30 Jahre jünger, die neuen Versionen seines Aufsatzes in den Computer. »Für sie ist es eine Qual. Es ist auf den ersten Blick ja immer dasselbe«, sagt er. »Ich bin auch nicht immer willig, wenn er mit der hundertelften Fassung daherkommt«, sagt sie, »ich bin generell eher dämpfend.« – »Sehr dämpfend«, sagt er. Beide lächeln.

Es ist aber nicht so, dass sein Einsatz für den Eingang, der die Welt nicht aus den Angeln heben wird, so oder so nicht, dem fast 100-Jährigen wertvolle Lebenszeit stiehlt. »Die Wartburg hält ihn am Leben«, sagt Astrid Wilk, sanft, »er hat eine Aufgabe.«

Ende November stürzt Jochen Wilk in seiner Wohnung fürchterlich, Oberschenkelhalsbruch, Krankenhaus. Als er in der Intensivstation aufwacht, gilt einer seiner ersten Gedanken dem Wartburgpalas. Und er hat es eilig. Am Telefon erklärt Wilk dann, das nächste große Luther-Jubiläum auf der Wartburg stehe an: 2021 würden 500 Jahre Bibel-Übersetzung gefeiert, bis dahin seien es kaum noch zehn Jahre, »die sind schnell rum, und 2021 sollte der Palas wirklich wieder so dastehen, wie er gehört«.

Als 1921 die 400-Jahr-Feier der Lutherübersetzung begangen wurde, war Wilk acht, es gab einen Sonderstempel der Deutschen Reichspost, die Menschen standen in Eisenach Schlange, nur für diesen Stempel. Schon damals war Wilk vernarrt in die Burg, als Kind stieg er wochenlang mit Schild und Lanze hinauf und bezog in einer Felsnische vor der Wartburg Stellung. Er wollte sie bewachen – auch wenn nicht ganz klar war, vor wem. Gegenüber, am Eingang der Burg, stand ein echter Soldat, mit Stahlhelm und Gewehr. Die Ehrenwache.

Im Grunde hat Jochen Wilk seitdem nie aufgehört, die Burg zu bewachen. Deswegen schreibt er.

Fotos: Tanja Kernweiss