Das Beste aus aller Welt

Wie wahrscheinlich ist es eigentlich, dass es uns überhaupt gibt? Also, jetzt nicht die Menschheit an sich. Sondern jeden einzelnen von uns: Sie, den Papst, Axel Hacke und Opa Krause von nebenan?

Bruno, mein alter Freund, machte mich auf den Blog eines in Amerika lebenden Autors namens Ali Binazir aufmerksam.

Ali Binazir hatte irgendwo gehört, Wissenschaftler hätten die Wahrscheinlichkeit, dass jeder einzelne Mensch genau als dieser Einzelne existiere, also mit seiner Haarfarbe, seiner Gehirnstruktur, seinen Erbkrankheiten und seiner Art zu gehen, dass also diese Wahrscheinlichkeit eins zu 400 Billionen betrage.

Ali Binazir hat das dann einmal nachgerechnet. Man müsse, schreibt er, die Vorbedingungen der Geburt jedes Einzelnen von uns bedenken: Zunächst einmal müssten die Eltern sich überhaupt kennenlernen, sie müssten zusammenbleiben, sie müssten bereit sein, ein Kind in die Welt zu setzen. Dann müssten aber auch noch die Richtigen unter den zwölf Billionen Spermien, die ein Mann im Laufe seines Leben produziert, und den 100 000 entwicklungsfähigen Eiern im Dasein einer Frau zueinanderfinden. Und das alles musste ja nicht nur bei den Eltern passieren, sondern auch unter den jeweiligen Groß-, Urgroß-, Ururgroßeltern und so weiter.

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Um es kurz zu machen: Dieser Ali Binazir berechnet die Wahrscheinlichkeit, mit der jeder von uns in seiner ganzen genetischen Besonderheit auf die Welt gekommen ist, mit 1 zu 102685000. Das sei, sagt er, nicht nur ungefähr, sondern ganz genau so, als ob zwei Millionen Menschen zur gleichen Zeit mit Würfeln spielten, die jeder eine Billion Seiten hätten. Und alle zwei Millionen würden die gleiche Zahl würfeln, sagen wir: 550 343 279 001.

Anders gesagt: Jeder von uns ist nicht nur einzigartig (das hatten wir ja schon geahnt, oder?), sondern es ist auch in extremster Weise unwahrscheinlich, dass er existiert. Es dürfte ihn eigentlich nicht geben. Es dürfte allerdings auch unseren Nachbarn nicht geben, das ist genauso unwahrscheinlich.

Was folgt daraus für unser Leben?

Ali Binazir sagt: »Ich habe dir nun gezeigt, dass du ein Wunder bist. Jetzt geh raus und fühle und benimm dich auch wie ein Wunder.«

Ich sage: »Das tun schon viel zu viele Leute.«

Bruno sagt: »Wenn man bedenkt, dass zurzeit weltweit pro Minute 153 Menschen geboren werden, dass also 153 Mal in jeder Minute etwas äußerst Unwahrscheinliches geschieht, dann heißt das doch nichts anderes als: Das Unwahrscheinliche ist das Wahrscheinlichste überhaupt.«

Ich sage: »Man könnte auch zu dem Schluss kommen: Jeder von uns ist ein Zufall. Es ist ein Zufall, dass sich meine Eltern seinerzeit irgendwo am Bodensee kennengelernt haben. Obwohl sie beide eigentlich weit entfernt vom Bodensee lebten. Mein Vater hätte auch einer anderen Frau begegnen können und meine Mutter einem anderen Mann, und dann wären sie nicht mein Vater und meine Mutter geworden – und so ist es bei praktisch allen anderen Menschen auch, nur dass nicht in jedem Fall der Bodensee eine solche Rolle spielt. Und nun, da ich euch gezeigt habe, dass ihr Zufälle seid, geht raus und fühlt und benehmt euch auch wie Zufälle.«

Na ja, das kann’s auch nicht sein, oder?

Letztlich ist es wohl einfach so, dass wir alle zufällige Wunder sind oder wunderbare Zufälle, also jeder von uns ist Zufall und Wunder zugleich, und wenn man offen spricht, muss man sagen: Bei dem einen dominiert der Zufall, beim anderen das Wunder.

Wirklich interessant wird es ja, wenn man mal Zusammenhänge in der Tiefe unserer Existenz herstellt: dass zum Beispiel diese Kolumne nicht existieren würde, wenn mein Vater damals nicht an den Bodensee gefahren wäre. Dass also im innersten Weltengrunde ohne Bodensee der hier vorliegende Text nie geschrieben worden wäre, ja, von niemandem hätte geschrieben werden können.

Ist das nicht unglaublich? Und ist es nun Zufall? Oder doch ein Wunder?

Illustration: Dirk Schmidt