Der böse Geist des Bankenviertels

Vor 200 Jahren wurde Charles Dickens geboren, eigentlich könnte ganz London das Jubiläum feiern – aber den wenigsten ist nach Feiern zumute. Weil der Kapitalismus immer mehr Menschen Angst macht. Und keiner hat besser beschrieben als Dickens, wie sie aussieht, die Armut, die heute so vielen droht. Ein Stadtspaziergang durch eine Vergangenheit, die einiges über die Zukunft verrät.  

1 Threadneedle Street, Bank of England.
Drachen schützen die City of London, wo sich 500 Banken und Finanzfirmen auf gut zwei Quadratkilometern zwischen Tower und St Paul’s Cathedral, der berühmten Square Mile, ballen. Die gusseisernen Drachen stehen auf Steinsockeln und markieren das Gebiet, auf dem Kaufleute seit bald tausend Jahren mehr Rechte genießen als im Rest der Stadt London. Wirtschaftliche Freiheiten, die auch David Cameron, der englische Premier, gegen europäische Pläne einer Finanztransaktionssteuer zu verteidigen sucht. Die Königin muss sich traditionell anmelden, wenn sie aus der City of Westminster in die City of London fahren will, dem neben Hongkong wichtigsten Finanzplatz der Welt. Die ansässigen Banken, Finanzfirmen und Anwaltskanzleien wählen einen eigenen Bürgermeister. Es gibt nur mehr wenige Menschen, die sich in der City eine Wohnung leisten können, bei Quadratmetermieten bis zu hundert Euro. Tagsüber lenken Banker, Fondsmanager und Anwälte in der City Globalisierung, Finanzkrise und Hedgefonds, abends stehen sie in den Pubs. Nach elf ist die City wie ausgestorben. Die letzten Demonstranten der Occupy-Bewegung legen sich vor St Paul’s Cathedral ins Zelt. Mitten in der City zeigt das Museum of London eine große Ausstellung über einen Schriftsteller, der Banken verachtete: Charles Dickens. Die Drachen und David Cameron haben das nicht verhindert.

Dickens Walk, so heißen die Spaziergänge für Touristen, die Jean Haynes, 78, auf den Spuren des englischen Schriftstellers durch die City of London anbietet.

 
Eine Weihnachtsgeschichte, erschienen 1843.

Ein amerikanischer Fabrikbesitzer soll damals für seine Arbeiter einen zusätzlichen Urlaubstag eingeführt haben, nachdem er Dickens’ Weihnachtsgeschichte gelesen hatte. Karl Marx lobte: Dickens hat die sozialen Missstände deutlicher aufgezeigt als jeder Politiker. Dickens kritisierte die Kinderarbeit, die fehlenden Bildungsmöglichkeiten für die Armen, die Zustände im Gefängnis, die Korruption im Kapitalismus, die Geldgier der Banken, die Ungleichheit vor Gericht, die Inkompetenz der Regierenden, den Sensationsjournalismus und – nach seinen Lesereisen in den USA – auch die Demokratie, für die er die Menschheit nicht reif genug hielt. Die sozialen Reformen in England wären wohl auch ohne seine Bücher geschehen.

Meistgelesen diese Woche:

1 Fleet Street, Royal Bank of Scotland.
Die Londoner City fürchtet sich vor dem Toten. Eine Handvoll Banker haben wir um ein Gespräch über Charles Dickens gebeten. Nur einer wollte reden: ein Angestellter der Royal Bank of Scotland, der Freund eines Bekannten der Fotografin, der nur noch die Erlaubnis eines Vorstands einholen wollte, reine Formsache, sagte er. Aber die Royal Bank of Scotland wurde im Zuge der Finanzkrise verstaatlicht, die Nerven liegen blank, der Vorgesetzte verbot dem Banker das Interview. Dickens’ Name ist in der City of London zum Reizwort geworden.

Die Banker haben Familien und kleine Geschäfte verdrängt aus den Gassen, die immer noch so aussehen wie in der Zeit Queen Victorias.

150 London Wall, Museum of London, 9. Dezember 2011 bis 10. Juni 2012.
Natürlich lebt Dickens. Er hat das moderne englische Weihnachten geprägt, mit Tannenbaum und Truthahn. Jeder seiner 15 Romane spielt irgendwann in London, die Stadt hat alle seine Romanhelden magisch angezogen. London kommt heute gar nicht umhin, Charles Dickens zu ehren, mit großer Ausstellung, mit Radio- und Fernsehsendungen. London feiert seinen 200. Geburtstag – und fürchtet doch seinen Namen: »Dickens’sche Verhältnisse« sind ein geflügeltes Worte überall auf der Welt, ein Synonym für bittere Armut, für eine Gesellschaft mit großer Kluft zwischen Arm und Reich, für Manchesterkapitalismus. »Wie bei Dickens« kann auch bedeuten: aus dem Viktorianischen Zeitalter stammend, altmodisch, antiquiert, nostalgisch; man kann das Wort sogar im Sinn von sentimental gebrauchen, aber meist bedeutet es: hässlich. Der Ausdruck »Dickens’sche Verhältnisse« wird so oft benutzt wie selten in den 142 Jahren seit dem Tod des Schriftstellers. Eine ganze Reihe von Leuten warnt inzwischen vor der Rückkehr dieser Verhältnisse in London. Der englische Autor Tony Parsons sah sie bereits vor zwei Jahren wiederkehren. Das war vor den Unruhen und Plünderungen im August, vor der Kreditklemme in der Finanzwelt diesen Winter. Es muss schwierig sein für die Verantwortlichen im Londoner Rathaus und die zuständige PR-Agentur visitlondon.com: einen Dichter zu feiern, ohne zugleich an bittere Armut zu erinnern.

Tom Brown wurde Anwalt, nachdem er den Roman Bleak House von Dickens über das ungerechte Justizsystem in England gelesen hatte. Heute arbeitet er ganz in der Nähe von Lincoln’s Inn, dem Ort, an dem die Handlung des Romans spielt.

London-Hampstead.
Wer hat keine Angst, über Dickens zu reden? Tony Parsons, der Schriftsteller? Zwei Stunden nach einer E-Mail-Anfrage antwortet er:

Lieber Lars,
die Kluft zwischen Reich und Arm ist gewaltig in London. Ich wohne in Hampstead, in einer Straße mit privatem Sicherheitsdienst. Jede Nacht patrouilliert hier ein Ex-Soldat aus Nepal, zwei Häuser haben ihren eigenen Gurkha, der Hausbesetzer vertreiben soll (die beiden Häuser stehen leer, sind nach meiner Schätzung zwischen zehn bis 15 Millionen Pfund wert, je nachdem wie sehr sie der Frau irgendeines russischen Milliardärs gefallen werden). London ist ein Magnet für Geld.

Es ist immer noch eine großartige Stadt zum Leben, solange man nicht arm ist.
Die Stadt ist voll von prächtigen privaten Schulen und furchtbaren staatlichen, die man verlässt, ohne lesen oder schreiben gelernt zu haben, ohne mit der einen Million gut ausgebildeter Arbeitskräfte aus dem Osten konkurrieren zu können. Deswegen leben hier eine Million Jugendlicher zwischen 16 und 24 von der Wohlfahrt.
Dickens fände ganz bestimmt genügend Stoff zum Schreiben.
Die Polizei hat Angst, nach einer Prügelei vor ein Menschenrechtskomitee gezerrt zu werden. Mit den Unruhen im August wurden sie zu keinem Zeitpunkt fertig. Die Gangs behielten vergangenen Sommer vier Nächte lang das Kommando über die Straßen. Die Stadtverwaltung war nahe daran, die Armee zu Hilfe zu rufen, was niemals zuvor auf britischem Boden passierte. Es könnte schon bald so weit kommen. Die soziale Kluft ist ein Grand Canyon. Die Glücklichen spazieren in Parks und schicken ihre Kinder auf wunderbare Schulen, die Unglücklichen wollen uns den Hals durchschneiden und die HD-Breitbildfernseher stehlen.
Ich habe mir ein paar Leichtmetall-Schlagringe besorgt. Ich erwarte, dass ich sie früher oder später brauchen werde. Die meisten kaufen sich Baseballschläger – das sind die Kuscheldecken in Zeiten der Angst.
Beste Grüße, Tony

PS: Mein Lieblingsroman von Dickens ist »Große Erwartungen«, wegen der Charaktere, der sprachlichen Schönheit und weil es eine großartige Erzählung über soziale Mobilität ist, eine Obsession der klassenbewussten Briten.

145 Fleet Street, das Pub »Ye Olde Ceshire Cheese«.
Dickens ist stundenlang zu Fuß gegangen. Von Kindheit an. Mit zwölf ging er ein halbes Jahr lang jeden Tag von Camden Town im Norden Londons drei Meilen zu der Fabrik an der Themse, in der er zwölf Stunden Schuhwichse anrührte. Er musste die Schulden seines Vaters begleichen, den die Banken deswegen ins Gefängnis gesteckt hatten. Später, dann schon wohlhabend, verließ er manchmal seine Stadtwohnung um elf Uhr nachts und machte sich auf den Weg nach Kent zu seinem Landhaus, das er im Morgengrauen erreichte, es waren knapp fünfzig Kilometer. Dickens rannte eher, als dass er ging. Er litt an Schlaflosigkeit. Nachts schnappte er die vielen Dialekte seiner Romanfiguren auf, dachte sich die Handlung aus, merkte sich die Straßenzüge, folgte seinen Figuren in die ärmsten Stadtviertel und die verrufensten Lokale. Sie lagen außerhalb der alten Stadtmauer von Westminster City, dort wo die City of London entstand, das Bankenviertel. Im Pub »Ye Olde Ceshire Cheese« kennt man sogar Dickens Lieblingstisch: im Erdgeschoss neben dem Kamin. Jedes Pub, das nur alt genug ist, rühmt sich seiner regelmäßigen Besuche. Kaum ein Ort in der Stadt, den Dickens nicht kannte, den er nicht wenigstens gekannt haben könnte.

Kaum ein Ort in London, an dem Dickens nicht war, an dem er nicht wenigstens gewesen sein könnte: Aber der Old Curiosity Shop war definitiv nicht das Vorbild zu seinem gleichlautenden Roman, der echte stand weiter westlich.

U-Bahnstation Temple.
Touristen suchen Dickens’ Spuren heute auf sauberen Straßen. »Dickens Walk« heißen die Spaziergänge auf verschiedenen Routen durch die Londoner City vorbei an Banken, Büros und Kanzleien. Jean Haynes führt jeden Freitag eine Gruppe durch die Straßen, über die Dickens’ Romanhelden und er selbst liefen. Sie trägt auf der Tour stilechte Kleidung aus dem vorletzten Jahrhundert. Treffpunkt ist der U-Bahnausgang Temple, halb drei nachmittags. Haynes zeigt die Häuser jener Anwaltskammer, in der David Copperfield lebte, die Romanfigur, mit der Charles Dickens sich selbst beschrieben haben soll. Jean Haynes führt zur Kanzlei, in der Bleak House spielte, der Roman, in dem lediglich die Anwälte profitierten, wenn die Menschen vor Gericht zogen.

An einigen Stellen auf der Dickens-Tour stehen noch alte Gaslaternen, die bis 1981 jeden Abend per Hand entzündet wurden. Viele Seitenstraßen und kleine Gassen sehen noch aus wie vor 150 Jahren. Haynes spielt auf dem Spaziergang sogar einige berühmte Szenen vor wie den dramatischen Tod der jungen Nell in Der Raritätenladen.

Jean Haynes ist 78 Jahre alt, ihr Lieblingsbuch von Dickens: Eine Weihnachtsgeschichte, in der drei Geister den frühkapitalistischen Geizkragen Scrooge zum Weihnachtsfan bekehren. Haynes geht seit zwanzig Jahren auf Dickens-Tour durch die Londoner City. Sie sagt: »Dickens ist aktueller denn je, weil er uns Mitleid mit den Armen lehrt.«

Lincoln’s Inn Fields, ein Park nördlich von Fleet Street.
Am Rande des Parks steht das ehemalige Privathaus von John Forster, der für seinen besten Freund viele Partys nach Redaktionsschluss ausrichtete, auf denen Dickens aus seinen neuen Büchern las. Dickens half selbst als 15-Jähriger in einer Anwaltskanzlei um die Ecke aus, Oliver Twist und David Copperfield lebten hier, und Bleak House spielte in Lincoln’s Inn, der Roman ist Dickens’ Abrechnung mit dem ungerechten Justizsystem.
 
1 Pump Court, Rechtsanwaltskanzlei.

Tom Brown ist Anwalt geworden, nachdem er in seiner Jugend Bleak House gelesen hatte, seine Kanzlei liegt heute nur einen Steinwurf entfernt vom Ort des Romangeschehens. Tom Brown kennt die sozialen Nöte der Stadt aus seinem Gerichtsalltag, er sagt: »Trotz Kinderarmut, sozialem Druck, steigenden Mieten: Wir sind in London noch ein gutes Stück von Dickens’schen Verhältnissen entfernt, die Justiz ist gerechter geworden, auch Bildung, Gesundheitsversorgung und die Wohlfahrt. Aber das Gefühl sozialer Ungerechtigkeit ist sehr verbreitet, die Banker mussten eben nicht für die Probleme bezahlen, die sie verursacht haben. Die Medien verstärken das Gefühl. Deswegen glaubt jeder, dass wir auf dem besten Weg zu Dickens sind.«

Viele Gassen in der City sehen noch genauso aus wie vor 150 Jahren.

23 Orchard Street, Rose Club.
Tom Brown meint wohl auch Meldungen wie die im Evening Standard: Acht Hedgefondsbanker geben bei ihrer Weihnachtsfeier 71 000 Pfund für 24 Flaschen Wodka und sechs Magnum-Flaschen Dom Perignon in einem Nachtclub aus. Um die Nachbartische in Weihnachtsstimmung zu versetzen, werfen sie mit 50-Pfund-Scheinen um sich.

19 – 21 Great Marlborough Street, Court-house Doubletree.

Früher war das »Courthouse Doubletree« ein Gerichtsgebäude, heute ist es ein Hotel. In Zimmer 125 hatte Dickens 1835 seinen Schreibtisch stehen, auf dem er Gerichtsreportagen für den Morning Chronicle schrieb. Der Concierge, ein Italiener, hört Dickens’ Namen zum ersten Mal. Das Zimmer ist natürlich renoviert, Dickens’ Schreibtisch lange verschwunden, allein der Kamin könnte 150 Jahre alt sein, er ist stillgelegt. Wie soll eine Spurensuche funktionieren, wenn die Spuren doch lange verwischt sind? Die Fenster von Dickens’ altem Arbeitszimmer liegen zur Great Marlborough Street hinaus, gegenüber steht das große Luxuskaufhaus Liberty. Frühmorgens rollt ein Obdachloser auf der Straße seinen Schlafsack ein. Unweigerlich spürt man bei diesem Bild Dickens’ Atem hinter sich. Alles Einbildung, natürlich, aber darum geht es ja bei Literatur: um Fantasie, mit der man einen anderen Blick auf die Wirklichkeit gewinnt.

Tony Parsons, 58, schrieb früher einmal über Punkmusik, heute schreibt er wie ein Punk Romane und warnte als einer der Ersten vor Dickens’schen Verhältnissen.

1 – 3 Strand, die Büros der Immobilienfondsfirma Pramerica.
Jeder will nach London, damals wie heute. 1851 hatte London drei Millionen Einwohner, in jenem Jahr lebten erstmals mehr Engländer in Städten als auf dem Land, und London war die größte Stadt der Welt. Seit 2010 leben erstmals weltweit mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Nach London drängen Engländer und Immigranten aus den alten Kolonien und Schwarzafrika, ins East End, wo im nächsten Sommer die Olympischen Spiele stattfinden. Die schlechten Viertel liegen im Osten. Das ist mit wenigen Ausnahmen auf der ganzen Welt so, wegen des Westwinds, der schlechte Luft aus Fabriken und vom Verkehr in den Osten weht.

Georg von Hammerstein kauft europaweit Häuser. Der Deutsche arbeitet bei einer großen amerikanischen Immobilienfondsgesellschaft mit Sitz am Strand, der Straße, die in jedem von Dickens’ Romanen auftaucht. Gefragt sind bei ihm derzeit teure Immobilien in teuren Städten wie London und Paris, auch wenn deren Preise enorm angezogen haben und die Renditen geringer ausfallen. Das Kapital sucht Sicherheit. West End, Südwesten, ein paar Straßenzüge im Südosten und natürlich die City of London sind Londons gute Lagen, in denen Mieten und Preise weiter steigen. In Mayfair liegen die Ladenmieten heute bei tausend Euro pro Quadratmeter, das ist mehr als doppelt so hoch wie in der Münchner Maximilianstraße, bis zu 60 000 Euro kostet der Quadratmeter beim Kauf. Die Regel mit den teuren Westlagen und den günstigen im Osten stimmt nur mehr bedingt: Das exklusive Clapham grenzt direkt an das Einwandererviertel Brixton Hill.

Hammerstein kennt Dickens vor allem aus dem Musical Oliver!. Das ist eine Kinderversion von Oliver Twist, in der Rowan Atkinson sechs Monate lang die Rolle des liebenswürdigen Jugendbandenführers Fagin spielte. Hammerstein war mit jedem seiner vier Kinder in der Vorstellung, die Kinder kennen das Musical inzwischen auswendig. Das Reizwort Dickens verschreckt ihn nicht. Er sagt: »London hat bereits Dickens’sche Verhältnisse. In Stadtteilen wie Tottenham hätte ich Angst um meine Kinder. Es gibt immer weniger Arbeit für immer mehr Menschen. Die mit Arbeit müssen die ohne Arbeit immer stärker unterstützen. Bald wird sich zeigen, wie christlich wir wirklich sind.« Hammerstein erzählt auch, dass viele englische Banker nie BWL studiert haben, sondern Kulturwissenschaften und Dickens. »Ältere Banker mit humanistischer Bildung sind weniger irrsinnige Risiken eingegangen als die jungen Computerkids aus Harvard.«

Clare Pettitt hat ihr ganzes Leben lang Dickens gelesen, ohne sich zu langweilen. »Wir leben ja im Grunde immer noch im 19. Jahrhundert.« Der Blick auf einige Straßen der City gibt ihr recht.

142 Holborn, Waterhouse Square.
Die einzige Büste von Dickens in London zeigt einen Mann, der sein ganzes Leben lang älter aussah, als er war. Seine merkwürdige Frisur, die die Geheimratsecken zu kaschieren versucht, verrät ein gewisses Maß an Eitelkeit. Dickens war charismatisch, konnte Abendgesellschaften und Partys allein schmeißen. Er war witzig. Er war sexy. Man merkte, wenn er einen Raum betrat. Aber er war nicht unbedingt sympathisch. Der moralisierende Dickens verließ seine Frau, mit der er zehn Kinder hatte, wegen einer 27 Jahre jüngeren Schauspielerin. Er schickte seine erwachsenen Kinder fort, weil er meinte, sein Reichtum könne sie verderben. Dickens war nicht geizig, aber er war geldgeil und beschwerte sich über zu geringe Lizenzgebühren der Amerikaner. Er war reich und hatte Angst zu verarmen wie sein Vater. Dickens hatte Angst vor Dickens’scher Armut. Einer seiner Töchter hat er erzählt, er wäre gern so gewesen wie die guten Menschen in seinen Romanen, habe es aber nur zu einem der schlechteren gebracht.

Strand, King’s College.
An englischen Universitäten ist Dickens wieder in Mode. Die Vorlesungen sind voll. Sein Roman Bleak House gilt Literaturwissenschaftlern als wegbereitend für Kafkas Prozess, man hat den Dadaisten Dickens entdeckt. Clare Pettitt ist Professorin für Viktorianische Literatur am King’s College, mit Spezialgebiet Dickens. Nicht einmal sie glaubt, sein ganzes Werk zu kennen: »Viele journalistische Texte, die er unter Pseudonym schrieb, warten noch auf ihre Entdeckung.« Ihr Lieblingsroman: Little Dorrit, ein Frühwerk, in dem Dickens die Geschichte seines Vaters verarbeitet, der nach einer Pleite im Gefängnis saß, bis sein zwölfjähriger Sohn Charles seine Schulden abgearbeitet hatte.

Viele von Pettitts Studenten gehen in die Wirtschaft. Die Literaturwissenschaftlerin findet das auch nur allzu normal: »An Dickens kommt man nicht vorbei. Er hat ein Kompendium der modernen industrialisierten Welt geschrieben, die 1850 begann. Wir leben ja immer noch im 19. Jahrhundert.« Dickens revolutionierte die Medien seiner Zeit: Alle seine Romane veröffentlichte er in monatlichen Folgen, schon Die Pickwickier erreichten eine erste Auflage von 40 000 Stück, für damalige Verhältnisse eine riesige Zahl. Er kam als einer der allerersten Schriftsteller auf die Idee, auf Lesereisen zu gehen, die machten ihn reich. Er zeichnete gut, spielte leidlich Theater, arbeitete als Gerichtsreporter und politischer Kommentator. Ein Arbeitstier.

Georg von Hammerstein, Immobilienfondsmanager, kennt den Trend: nur teure Lagen im teuren London – auch bei geringer Rendite.

13 A Gerrard Street, Experimental Cocktail Club.
Dickens verbat sich ein Denkmal, er wollte allein durch seine Bücher weiterleben. Am lebendigsten ist er demnach in Indien, wo wirklich noch jedes Schulkind seine Romane liest. In London setzt man sich über Dickens’ letzten Willen hinweg, an seinem 200. Geburtstag wird ein Denkmal enthüllt.

Eine Bar in Chinatown serviert Ginpunch nach einem Rezept aus David Copperfield, und dass das Rezept von Dickens bestehen bleiben wird, da ist sich der Barbesitzer Xavier Padovani sicher. Vor fünf Jahren fiel ihm das Buch Drinking with Dickens in die Hände, geschrieben hatte es einer von Dickens’ Urenkeln. Das Buch listet sämtliche Drinks und Spirituosen auf, die der Urgroßvater entweder selbst trank oder in seinen Romanen trinken ließ. Der Franzose Padovani schimpft über den niedrigen Wasserdruck in London und die maroden Leitungen aus der Zeit von Königin Victoria. Gin trank man damals als Antidepressivum, und man verdünnte das schmutzige Leitungswasser damit.

Der Barmann wird am 7. Februar zu Ehren von Dickens das Wasser in seinem Club abschalten und stattdessen Gin durch die Leitung schicken.

Oben Platte, an den Seiten lang – Charles Dickens fand trotz seiner Frisur viele Verehrerinnen.

Fotos: Kate Peters