Vom Zahn zum Wahn

Seit wir wissen, dass Zähneputzen allein nicht reicht, ist das Leben um eine große Herausforderung reicher - und um ein kleines Utensil: die Zahnzwischenraumbürste. Ist die nur eine gute Geschäftsidee, oder bringt sie wirklich was?

Es beginnt mit einer Beschämung. Vor der Zahnreinigung färbt die Dentalhygienikerin meine Zähne ein, ich spüle aus, und überall dort, wo es in meinem Mund jetzt noch lila ist, ist Zahnbelag.

Ich liege auf dem Rücken und schaue in den leuchtenden Spiegel über mir. Der Blick in die eigene Mundhöhle ist der Blick in den menschlichen Abgrund: schmutziger Mann! Je tiefer es zwischen die Zähne geht, desto dunkler wird das Lila. Ich dachte, ich hätte gut geputzt, aber wieder war es: nicht gut genug. Vielleicht würde ich mich entschuldigen, aber der Absaugschlauch hindert mich am Sprechen.

Seit etwa zwölf Jahren gehe ich zur Zahnreinigung und Prophylaxe, und so, wie sie mit Schande beginnt, endet sie jedes Mal damit, dass ich mit zwei oder drei Packungen Interdentalbürsten nach Hause gehe. Um endlich zu putzen, was ich sonst ignoriere. »Der Zahnzwischenraum wird gebildet durch zwei benachbarte Zähne, die am Kontaktpunkt zusammenkommen, und durch das Weichgewebe, also das Zahnfleisch«, sagt die Zahnärztin Ilona Kronfeld, die bei der Zahnärztekammer Berlin/Brandenburg für die Fortbildung von Dentalhygienikern zuständig ist: »Unterhalb des Kontaktpunktes und oberhalb des Zahnfleisches gibt es einen Freiraum, und den gilt es zu pflegen.« In diesem Bereich bilden sich Karies und Zahnfleischentzündung oder sogar Parodontitis, die »Entzündung des Zahnhalteapparats«, wie Frau Kronfeld sagt, und das klingt elementar und alarmierend, denn: der Zahnhalteapparat, bin das am Ende nicht ich?

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Hamburg und München waren die ersten deutschen Städte, in denen die schwedische Firma TePe Ende der Neunzigerjahre Zahnarztpraxen mit ihren bunten Zahnzwischenraumbürsten in verschiedenen Größen belieferte. Seitdem breitet die Interdentalbürste sich langsam in Deutschland aus, und es dürfte viele Badezimmerschränke geben, in denen aufgerissene Packungen mit roten, blauen oder grünen Bürstchen liegen. Sie sind ein farbcodiertes schlechtes Gewissen, viele dürften sich dasselbe fragen wie ich, wenn sie mir mal wieder entgegenfallen: Warum benutze ich die Dinger nicht?

Früher oder später sagt einem die Zahnärztin oder Prophylaxehelferin: »Sie putzen nur zwei Drittel Ihrer Zähne.« Weil ungefähr 40 Prozent der Zahnoberfläche für die Zahnbürste unerreichbar zwischen den Zähnen liegen. Im Grunde bricht einem in diesem Moment eine Welt zusammen: Der Zahnzwischenraum ist der vernachlässigte Hinterhof der Körperpflege. Man ist ja nie vorm Zubettgehen ins Bad gegangen mit den Worten: »Ich putz mir noch schnell zwei Drittel meiner Zähne!« Man dachte: Zähneputzen ist Zähneputzen. Aber das ändert sich, sobald man den Zahnzwischenraum in sein Leben lässt. Man könnte Zahnseide benutzen, Zahnband, gewachst, ungewachst, eine Munddusche, und überhaupt müsste man die Frage »elektrisch oder manuell?« mal abschließend klären. Elektrisch, rotierend-oszillierend? Manuell, mit weicher Bürste und in Kombination mit Solo-Bürste? Und dazu kommen dann noch die Interdentalbürsten, in all ihren Farben und Größen.

Kein Wunder, dass wir damit zu Hause, überm privaten Waschbecken, überfordert scheinen. Zwar sind die Bürstchen ein an und für sich sympathisches Produkt; es passt, dass sie inzwischen in Zeitschriften wie Gala auf ganzseitigen Fotos als Lifestyle-Artikel inszeniert werden. Aber es geht mir auf die Nerven, vor dem Spiegel zu stehen und in meinem seltsam verzerrten Gesicht herumzuwerken. Ich möchte nicht den halben Abend in meiner Mundhöhle verbringen.

Damit sich die Bakterien nicht allzu kommod fühlen, schieben wir bunte Bürsten zwischen unsere Zähne.

Werden Zähne als Statussymbole und Glücksbringer vielleicht ein bisschen überhöht? Selbst der amerikanische Regisseur David Lynch, der die Welt mit düsteren Meisterwerken wie Blue Velvet oder Twin Peaks verstörte, widmet seine Kunst inzwischen der Zahnpflege: Im Zentrum seines gerade erschienenen Musikalbums steht ein siebeneinhalbminütiger Monolog über Seelenheil und Transzendenz, der darin gipfelt, dass Lynch Dentalhygiene zu einem »zentralen Glücksbaustein« erklärt. Weil erst die Abwesenheit von Zahnfäule es einem ermögliche, sich auf die persönliche Erleuchtung zu konzentrieren.

Andererseits, man will ja kein Feigling sein. Ja, die Verwendung einer Interdentalbürste nach längerer Abstinenz ist wie der Titel eines brutalen Goldgräberdramas mit Daniel Day-Lewis: There Will Be Blood; es wird blutig werden, weil man vermutlich eine Zahnfleischentzündung hat. Wolfgang Dezor von der Firma TePe sagt dazu: »Das Bluten ist für uns Fluch und Segen zugleich: Das Bluten ist die größte Barriere, aber derjenige, der weitermacht und sieht, dass das Bluten nach einer Woche aufhört, den haben wir für immer.« Ich habe es nie so lange geschafft, bis das Bluten aufhörte. Es reicht, dass Bakterien mir den Erfolg ihrer Zerstörungsarbeit zeigen, und schon strecke ich die Waffen und sage: Na gut, dann macht mal weiter.

»Wenn Sie mir die Pistole auf die Brust setzen und mich fragen: Muss ich Interdentalhygiene betreiben, ja oder nein?, dann müsste ich antworten: Es kommt darauf an«, sagt Ralf Rößler, Paradontologe an der Uniklinik Marburg. Ich denke: Das ist mein Mann, gleich wird er mir sagen, ich kann die Zahnzwischenraumbürsten rauswerfen, aber er sagt: »Vor allem Patienten mit Karies und Parodontitis müssen eine möglichst starke Keimreduktion betreiben, optimalerweise mit elektrischer Zahnbürste und Interdentalbürsten. Mundhygiene ist eine sehr individuelle Angelegenheit.« Rößler empfiehlt, sich von seinem Zahnarzt ein »individuelles Risikoprofil« erstellen zu lassen, gibt aber zu bedenken: »Natürlich wird es mehrheitlich darauf hinauslaufen: Zweimal täglich Mundhygiene ist sinnvoll. Die zahnärztlichen Empfehlungen sind eindeutig. Aber wir wissen, dass etwa neunzig Prozent der Deutschen keine Interdentalhygiene betreiben.« Vermutlich aus den gleichen Gründen, aus denen ich es an neunzig Prozent aller Tage bleiben lasse: Bequemlichkeit, Ungeschicklichkeit, latente Überforderung im Mikromanagement alltäglicher Vorgänge. Das Wichtigste, sagt Rößler, ist deshalb das Gespräch »mit dem Behandler«. Statt wie ich einfach nur zu nicken und die Bürsten einzustecken, um möglichst schnell aus dem Stuhl verschwinden zu können, soll man »dem Behandler ganz differenzierte, individuelle Auskünfte abverlangen«.

Es stimmt, ich habe ja nie gesagt: »Vielen Dank, aber ich hab noch, bei mir zu Hause stapeln sich eure Bürstchen, denn ich komme damit nicht klar.« In meiner Welt macht man beim Zahnarzt nur den Mund auf, damit die Fachleute ihre geheimnisvolle Arbeit verrichten können, und nicht, um mit ihnen zu reden. Wenn sich allein das durch die Zahnzwischenraumbürsten ändert, dann hätten sie nach all den Jahren tatsächlich doch noch was gebracht.


Die Welt der Körperhöhlenhygiene hat neben der Zahnzwischenraumbürste noch weitere kuriose Produkte zu bieten. Eine kleine Auswahl in Bildern.

Illustration: Grafilu