Guter Stoff für Hollywood

Die Kostümbildnerin Lisy Christl gehört zu den Besten ihres Fachs. Für Roland Emmerichs Anonymous ließ sie die Mode der Shakespeare-Zeit wieder auferstehen. Jetzt darf sie auf einen Oscar hoffen.

Oben, ganz oben, da ist sie gerade. Im Flugzeug nach Los Angeles zur Oscarverleihung, ab Berlin-Tegel mit British Airways Flug 0269 um 11 Uhr, Ankunft L. A., 18 Uhr, heute, am Freitag, den 24. Februar. Übermorgen werden die Oscars vergeben, und vielleicht sieht die halbe Welt zu, wie Lisy Christl einen gewinnt. Sie ist nominiert in der Kategorie Kostümbild, sie hat die Kleider für Roland Emmerichs Shakespeare-Drama Anonymous entworfen.

George Clooney und Brad Pitt werden da sein, Martin Scorsese auch, aber die kennt sie ja schon vom Mittagessen. Vor drei Wochen waren nämlich alle Oscarkandidaten ins »Beverly Hilton Hotel« eingeladen, dort wo vor 13 Tagen Whitney Houston tot aufgefunden wurde. Bei dem Mittagessen jedenfalls hat ihr Meryl Streep, nominiert für Die Eiserne Lady, die Hand geschüttelt, aber das nur am Rande. Das Kleid, mit dem sie am Sonntag über den roten Teppich ins Kodak Theatre gehen wird, ist rosenholzfarben. Ihre Rede für den Fall des Sieges sitzt, sie »wird kurz und knapp«; sie konnte sie schon üben mithilfe einer DVD, auf der Tom Hanks allen Nominierten erklärt, was man beachten soll bei dieser Rede und was besser weglassen. Lisy Christl sagt, als ihr Vater erfuhr, dass sie für den Oscar nominiert ist, hat er vor Stolz geweint, daheim in München-Forstenried, da, wo sie aufgewachsen ist.

Mehr als 1300 Kostüme hat sie für Anonymous entworfen und anfertigen lassen, manche, für die Komparsen, auch gekauft. Wer den Film gesehen hat, ahnt, warum sie am Sonntag zur engsten Wahl gehört: weil die Kostüme opulent und historisch korrekt sind, handgearbeitet und aufwendig in Szene gesetzt, sicher – aber das wäre nicht genug. Sie besitzen den einen Funken mehr, jenen, der über alle Handwerkskunst hinausgeht, den einen Flügelschlag, den es braucht, damit aus einer schönen Frau ein It-Girl wird.

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Der entscheidende Anruf für den Auftrag kam 2009, sie hatte gerade den Deutschen Filmpreis gewonnen für ihre Kostüme in John Rabe, einem Film des Oscarpreisträgers Florian Gallenberger. Die Frau am Telefon verriet ihr nur, dass ein international bekannter Regisseur in Babelsberg einen Film drehen und sie treffen wolle. Und dass es sich um einen Film über Shakespeare handle, sagte die Frau auch noch.

Sie trafen sich im »Hotel de Rome« in Berlin und mochten sich vom ersten Moment, Roland Emmerich und sie, das war schon mal gut. Den Stoff mochte sie auch: ein Politthriller, würde man heute sagen, der in London um 1600 spielt, in den letzten Lebensjahren von Königin Elizabeth I, er handelt von Intrigen und den Machtkämpfen um ihre Nachfolge. Das ist der eine Handlungsstrang; der andere die sogenannte Oxford-Theorie, wonach nicht Shakespeare Romeo und Julia und Hamlet geschrieben haben soll, sondern der Earl von Oxford. »Diese Epoche«, sagt Lisy Christl, »ist der Traum jeder Kostümbildnerin. Die Kleider sind unglaublich interessant und aufwendig, und die Zeit ist in Gemälden und Büchern gut dokumentiert.«

Bei dem Gespräch war der amerikanische Co-Produzent dabei, den interessierte, ob man in Deutschland die Kostüme zusammenleihen könne. Ja, meinte sie, schon, es gebe in Ostdeutschland die Tradition des Märchenfilms und darum auch Kostüme, nur niemals 1300. Die Wahrheit ist: Wer Kostüme aus dieser Zeit will, der muss nach London, nach Paris und Rom, dort gibt es die berühmten Sammlungen, dort wurden die großen Historienfilme gedreht, dort arbeiten noch Schneider, Schuster, Goldschmiede, die in Handarbeit historische Kostüme anfertigen, »dort schlägt das Herz des Kostümbilds«.

Natürlich war ihr klar, dass es bei der Frage des Produzenten ums Geld ging, denn Filme wie dieser werden nicht in Babelsberg gedreht, weil es dort so schön ist, sondern weil es billiger ist als in Hollywood. Aber Lisy Christl wich nicht ab von ihrer Überzeugung, dass man keinen guten Film mit schlechten Kostümen drehen kann. Das war ein Glück. Sie bekam den Zuschlag.

Sie hatte bis dahin 21 Filme ausgestattet, darunter Marlene, Das Sams und Opernball, hat viermal mit Michael Haneke gearbeitet, mit Christian Petzold und Florian Gallenberger, dem Oscargewinner. Und mehrfach mit Hans-Christian Schmid, dessen neuer Film Was bleibt soeben bei der Berlinale lief. Florian Gallenberger hat Roland Emmerich von Lisy erzählt und sie empfohlen. So also kam Hollywood zu ihr oder sie nach Hollywood, je nachdem.

Was trug eine englische Königin damals zu einer Beerdigung?

Im September 2009 fängt Lisy Christl an zu arbeiten für Anonymous, ein halbes Jahr bleibt ihr für die Vorbereitung. Einig war sie sich mit Roland Emmerich, dass die Kostüme der Frauen zwar opulent und somit teuer sein dürften, dafür aber nur einmal angefertigt würden. Ein Risiko: Es könnte ja Kaffee drüberschwappen in einer Drehpause. Schon deshalb gibt es bei Hollywood-Produktionen immer drei identische Kleider für die Hauptdarsteller. Ihr Budget: eine knappe Million. Da hüpft deutschen Kostümbildnern das Herz vor Jubel – amerikanische aber weinen.

Jeden Monat kommen nun neue Mitarbeiter zu ihrem Team, die erste Assistentin, die zweite, Kostümhistoriker, Schneiderinnen, Garderobieren, bis ihr Team auf 20 Leute angewachsen ist. In Amerika sind 60 üblich. Und immer steht am Beginn dieselbe Frage: »Wo fange ich eigentlich an?« Womit fange ich an, wenn in sechs Monaten 1300 Kostüme fertig sein müssen?

Sie fängt bei Google an. Liest alles über die Personen, die im Film vorkommen und die es ja alle in Wirklichkeit gab; liest Bücher über Großbritannien, über die Gewohnheiten des Adels und des Militärs Ende des 16. Jahrhunderts; geht in Museen in Berlin, in München, in London. Auf den Gemälden studierte sie vor allem die Kleider: Welchen Schnitt hatten sie zu dieser Zeit, welche Farben, welche Stoffe? Sie geht in Archive und Bibliotheken wie die Lipperheidesche Kostümbibliothek in Berlin, die weltgrößte Fachsammlung für Kleidung und Mode aus dieser Zeit, und wenn sie nicht weiterweiß, ruft sie im Tower von London an und bittet einen Historiker um Rat.

Und sie stößt bei ihren Recherchen auf kleine, wahre Geschichten wie diese: Als Königin Elizabeth den spanischen Botschafter empfängt, zieht sie plötzlich die Nadeln seitlich aus ihrem Korsett, bis es halb herunterhängt, und fängt an, sich am Brustbein zu kratzen. Was kaum jemanden wunderte, denn damals hatten alle die Krätze. Auch Roland Emmerich kannte die Geschichte und baute sie leicht verändert in seinen Film ein: Elizabeth zieht während eines Theaterbesuchs die Nadeln aus dem Korsett und kratzt sich.

Nächster Schritt: Lisy Christl geht Zeile für Zeile das Drehbuch durch: Vanessa Redgrave, die Königin Elizabeth spielt, ist auf dem Weg zur Beerdigung von William Cecil, heißt es da. Beerdigung. Ein Wort nur, aber fünf Dutzend Fragen, die einer Kostümbildnerin durchs Hirn schießen: Was für ein Kleid trug eine englische Königin damals zu einer Beerdigung? Hatte sie Ohrringe, Armreife, Ketten an? Und wenn ja, waren es andere als bei einem Staatsbesuch? Waren die Schuhe rund oder spitz? Flach oder hoch? Einfarbig oder bestickt? Hatte ihr Unterrock die Form eines Kegels oder einer Tonne? Trug die Königin Strümpfe in der Farbe des Kleides oder der Schuhe? Brauchte sie Handschuhe? In welcher Farbe? Aus Spitze oder Seide? Endeten sie am Handgelenk, oder waren sie länger? Trug sie Orden bei einem solchen Anlass? Welche? Haarschmuck? Welchen?

Jede dieser Fragen stellte sich Lisy Christl mindestens 150 Mal – so viele Kostüme brauchten die etwa 100 Schauspieler. Dazu kamen noch die 1200 Kostüme für die Statisten, aber um die kümmerte sich immerhin die sogenannte Supervisorin.

Man kann nicht direkt sagen, dass Künstlerblut in Lisy Christls Adern fließt, ihre Eltern besaßen ein Autohaus in München-Forstenried, ihre Brüder führen es weiter. Sie wurde 1964 geboren und kleidete schon ihre Puppen in elegante Kostüme, die eine befreundete Schneiderin nähte. Sie ging auf die Münchner Meisterschule für Mode, machte Praktika an den Münchner Kammerspielen und fand dort »alles, was ich mir immer erträumte: Stoffe zum Lesen, Stoffe zum Nähen, Geschichte und Geschichten«. Ein Zufall brachte sie zum Film, ein Maskenbildner erzählte ihr, Joseph Vilsmaier suche eine Garderobiere für Stalingrad, den er in den Bavaria-Studios drehe. Mit Vilsmaier arbeitete sie noch für Schlafes Bruder und Und keiner weint mir nach. Sein damaliger Assistent wurde Assistent von Michael Haneke und empfahl ihm Lisy Christl.

1998 zog sie nach Berlin-Prenzlauer Berg, da wohnt sie bis heute. Sie ist eher klein und schmal, spricht ein herzhaftes Münchnerisch, und wenn man sie sieht mit ihren schwarzen Haaren und dunklen Augen, möchte man einen Moment lang meinen, Anton Tschechow habe an sie gedacht, als er Drei Schwestern oder den Kirschgarten schrieb. Wobei er vergaß, den drei Schwestern den Schalk mitzugeben, der in Lisys Augen blitzen kann.

Gegen die Geruchsentwicklung in den Kostümen hilft eine Sprühflasche mit Wodka

Auf dem runden Esstisch in ihrer Wohnung liegt aufgeschlagen eine Art schwarzes Ringbuch, groß wie ein Koffer. Darin auf jeder Seite eine Collage aus Bildern, Zeichnungen, Stoffproben; hier hat sie jedes Detail eines Kostüms für jeden Schauspieler in jeder einzelnen Szene dokumentiert, das war der nächste Schritt: Für Bild 24 und 25, bei dem sich die junge Elizabeth eine frühe Aufführung des Sommernachtstraums ansieht beispielsweise, hat Lisy sich für den Schnitt eines Kleides entschieden, das die echte Elizabeth auf einem Gemälde von 1557 trägt, sie hat das Bild aus einem Buch kopiert und aufgeklebt; der Stoff soll jedoch nicht rot sein wie auf dem Gemälde, sondern aquamarinblau, zur Verdeutlichung hat sie ein dreimal drei Zentimeter großes Stück blauer Seide mit einer Stecknadel angeheftet; das Mieder des Kleides bekommt ein Muster, das auf den Stoff aufgemalt wird, die Vorlage dazu stammt von einem anderen Bild, auch das klebt sie in Fotokopie daneben. Zum Kostüm der Königin gehören noch Unterrock, Schuhe, Strümpfe, Haarband und Kragen, auch dazu hat Lisy die Vorlagen aus verschiedenen Büchern kopiert. Dieselbe Prozedur: 150 Mal. Welches Maß an Organisation, Präzision, Konzentration und Fleiß ist da eigentlich gefordert, um den Überblick zu behalten? Auch den über das Budget? Jedes für die Königin angefertigte Kostüm kostete zwischen 3500 und 5000 Euro. Komplett, von der Krone bis zu den Schuhen. Lisy sagt: »Wenn du eine Königin ausstattest, kriegst du automatisch Respekt. Der kannst du nichts Billiges anziehen.«

In Südlondon, in den Werkstätten von Sands Films, lässt Lisy Christl die Kostüme der Frauen anfertigen. Es gibt dort ein Archiv und einen Fundus und Handwerker, die Kostümaufträge annehmen für alle Filme, die bis zum Jahr 1900 spielen; Schneider, die die Technik beherrschen, Kleider zu nähen, die aussehen, als sei es das Jahr 1590. Cosprop kann das auch, in deren Londoner Werkstätten wurden die Kostüme der »edlen Herren« geschneidert. Schuhe und Rüstungen ließ sie in Rom anfertigen, Uniformen für Soldaten lieh sie sich in Madrid aus.

Weil das 16. Jahrhundert eine schmutzige Zeit war, verabredeten Roland Emmerich und Lisy Christl, dass die Kostüme der Männer, kaum waren sie neu und fertig genäht, auf alt und dreckig getrimmt werden müssten. Also waren vier bis fünf Leute in Lisys Team damit beschäftigt, neue Rüstungen, neue Mäntel und neue Lederumhänge einem künstlichen Alterungsprozess zu unterziehen; Wachs und Säure bringen Patina auf Rüstungen und Stockflecken auf Amtsketten. Weiße Halskrausen wurden eingedreckt, Schuhe mit Schleifpapier abgeschabt, Kragen speckig gerieben, Manschetten ausgefranst.

Und tatsächlich, im März 2010 begannen die Dreharbeiten. Lisys Arbeitszeit fing nun dreieinhalb Monate um fünf Uhr morgens an und endete gegen 22 Uhr. Von ihrem Kostümbudget hat sie zwei Waschmaschinen gekauft und zu den anderen nach Babelsberg gestellt. Das ist erwähnenswert, weil es amerikanische Filmproduktionen gibt, die Waschmaschinen aus Amerika nach Babelsberg einfliegen: aus Misstrauen gegenüber deutschen Waschmaschinen. Des Weiteren hat sie acht Bügelbretter angeschafft, für die Statisten 100 Paar Socken und 300 Paar schwarze Espadrilles und 350 Kleiderstangen für die 1300 Kostüme. Am Ende mancher Drehtage, wenn 750 Statisten ihre Kleider auszogen, gab es »doch eine gewisse Geruchsentwicklung«. Um der Herr zu werden, hat jede Kostümbildnerin ihre eigenen Tricks. Lisys Trick: Sie gibt Wodka in eine Sprühflasche, sprüht ihn über die Kleider, so kommt sie ohne Chemie aus, und der Geruch wird neutralisiert.

Zwei weitere Filme hat Roland Emmerich seither geplant, Science-Fiction-Filme, wie man sie kennt von ihm. Werden sie gedreht, ist Lisy Christl wieder mit an Bord.

Aber jetzt geht es erst mal um den Sonntag und um die Oscarverleihung. Und ein wenig auch darum, ob Lisys Vater wieder vor Freude weinen muss.

Fotos: Markus Jans (1); Manfred Thomas (2); Retusche Jonas Holthaus c/o Shelter Of