Der Knallkopf

Miguel Caballero ist kein Schneider wie jeder andere: Der Kolumbianer stellt schusssichere Mode her, auf die sich Politiker der ganzen Welt verlassen. Ein Werkstattbesuch.



Nach dem Frühstück macht sich der Firmenchef Miguel Caballero auf die Suche nach einem Mitarbeiter, auf den er schießen kann. Er schlendert erst durch die Entwicklungsabteilung: »Guten Morgen. Habe ich euch schon angeschossen?« Stummes Nicken. »Aha. Na, vielleicht im Vertrieb.«

Als er die Abteilung erreicht, sind die Büros leer. Es ist früh, und seine Fabrik steht jenseits der Stadtgrenze von Bogotá in Kolumbien. Vielleicht sind die Beschäftigten spät dran. Vielleicht haben sie sich auf Warnung der Entwickler verdrückt. Die Vorliebe Caballeros, auf das mittlere Management zu schießen, ist bekannt. Bleibt die Buchhaltung.

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Dort haben sich die Mitarbeiter schon auf einen Kollegen geeinigt. »Wusste doch, die Buchhalter hatte ich noch nicht alle durch«, sagt Caballero. Zögerlich folgt ihm der Kollege in die Fabrikhalle. Er ist neu im Betrieb, keine vier Monate dabei. Er wusste, was ihn erwartet. Aber nun befällt ihn die Angst. Wenn Caballeros Assistenten die  Waffen bringen, ist noch jeder neue Mitarbeiter nervös geworden.

Miguel Caballero ist Modefabrikant. Er ist 44 Jahre alt und brüstet sich, auf mehr als 400 Menschen geschossen zu haben. Seine Karriere begann mit einem Schuss auf seinen besten Freund, und seitdem hat ihn jede Kugel seinem Ziel näher gebracht, der weltweit bekannteste Schneider von schussfester Mode zu werden. Er hofft, dass sein Name eines Tages einen Klang haben wird wie Louis Vuitton oder Ralph Lauren. Auch Caballero fertigt Maßanzüge, allerdings sind seine gepanzert.

Caballero lässt sich eine Auswahl an verschiedenen Kalibern kommen, wenn er auf Mitarbeiter feuert: eine Maschinenpistole der Marke Uzi mit zwei Magazinen, eine Glock-Halbautomatik 9 mm Parabellum, eine Armeepistole des Typs Walther P1, einen Smith & Wesson-Revolver Kaliber .38 und eine Kiste Munition. Der Buchhalter zwingt sich zu einem Lächeln. »Entspann dich«, sagt Caballero.

Die Fabrikhalle liegt im Neonlicht, eine halbe Hundertschaft Frauen sitzt an surrenden Nähmaschinen. Hoch über der Fertigungsstraße hängt ein Dutzend Flaggen, darunter die von China und Großbritannien. Caballero lässt für jeden Absatzmarkt eine Fahne aufziehen. Die große Weltkarte am Rand der Fertigungsstraße pflegt der Chef persönlich: Jeder Ort, an dem seine Firma Geschäfte macht, ist durch einen Nagel gekennzeichnet - Mexiko-Stadt, London, Hongkong. Seine liebste Sammlung an Trophäen aber stellt er am Kopf der Halle zur Schau. Caballero lässt alle Zeitungsartikel, in denen er auftaucht, in Holz rahmen und an die Wand schlagen.

Es heißt, der amerikanische Präsident Barack Obama habe bei seiner Amtseinführung kugelsichere Kleidung von Caballero getragen. Auch die roten Hemden der Revolution, in denen Venezuelas Präsident Hugo Chávez seine Reden hält, sollen von Caballero stammen. Das spanische Königshaus, die Rapper der Band Wu-Tang Clan, Puff Daddy - alles angebliche Kunden. Caballero verweigert dazu die Auskunft. Das war nicht immer so.

Früher protzte Caballero gern mit seiner Kundschaft: König Abdullah II von Jordanien, der alternde Actionheld Steven Seagal, der ehemalige kolumbianische Präsident Álvaro Uribe. Dann aber hat Caballero den Fehler begangen, in einem Interview den Namen eines hochrangigen Politikers aus Mexiko zu erwähnen. Das schlug Wellen: Ausgerechnet ein Amtsträger, der betonte, dass sein Land trotz des Kriegs der Drogenkartelle sicher sei, traute sich nur in kugelsicherer Kleidung auf die Straße. Caballero musste nach Mexiko fliegen, um zu erklären, er sei falsch zitiert worden. Die Regierung hätte ihm sonst seine Filiale geschlossen. Seitdem schweigt sich Caballero über seine Kunden aus, auch wenn es ihm schwer fällt. Er liebt es, eine Show um seine Produkte zu machen.


Elegant und unauffällig

Lächelnd reicht er seinem Buchhalter eine Schachtel Patronen und sagt: »Wir sind in Kolumbien, wir respektieren die Menschenrechte. Such dir deine Kugel selbst aus.« Es spricht für den Geschäftssinn und die Menschenliebe Caballeros, dass er für sein Opfer das Kaliber .38 gewählt hat. Größere Kaliber haben eine höhere  Mündungsgeschwindigkeit. Dafür bräuchte es eine besondere Panzerung, und  kugelsichere Kleidung dieser Klasse ist teuer. Caballero nimmt fast 4000 Euro für eine Jacke, die Schüsse einer Maschinenpistole aushält. Ein solches Stück schießt er nicht einfach so kaputt, schon gar nicht, wenn ihm dabei ein Buchhalter in die Augen blickt. Caballero hat früh gelernt, dass im Geschäft nur eines zählt: Berechnung.

Sein Vater Jorge war Kompagnon einer Kette von Kaufhäusern für Herrenmode. Er erzog den Sohn streng und ansonsten im Sinne des Geschäftsmanns: Geschenkt gab es nichts, Taschengeld musste verdient werden. Provision war eines der ersten Prinzipien, die der kleine Miguel verstehen lernte: Wenn er sich gut betragen hatte, ließ ihn der Vater als Verkäufer in den umsatzstarken Filialen im Norden der Stadt  aushelfen. Wenn er ungezogen gewesen war, musste er in die Läden an den  Ausfallstraßen, wo die Kunden knausrig waren. Er war 13 Jahre alt.

Seine Mutter Mercedes handelte Mode en gros, im Auftrag eines Konfektionshauses. Wenn ihr der Sohn Ware ausfahren half, erzählte sie ihm, schon seine Großeltern hätten die Geschäftstüchtigkeit im Blut gehabt. Sie lehrte ihn, sich nie im Leben anstellen zu lassen, da nur der selbstständige Kaufmann seinen Gewinn nicht teilen müsse. Sie war es, die das erste Kapital vorschoss, als der Sohn den Entschluss fasste, nicht mehr für den Vater, sondern auf eigene Faust zu arbeiten. Es waren 10 000 Pesos, damals keine zehn Euro. Er war 16 Jahre alt.

Die Lederjacke, die das Leben seines Buchhalters retten soll, lässt sich Caballero vorlegen. Seine Hände teilen die Frontpartie wie einen Vorhang, fahren das Futter entlang, prüfen den Sitz der Panzerung. Caballero nutzt eine Eigenentwicklung. Das Gewebe ist Kunststoff, eine Mischung aus Nylon und Polyester, die genaue Zusammensetzung geheim. Eine einzelne Lage des Stoffs fühlt sich an wie das raue Material eines Rucksacks. Kugelfest wird es erst, wenn Hunderte Lagen kombiniert werden. Caballero schlägt die Jacke zu und mustert den Schnitt. Schwarzes Leder, geschwungene Teilungsnaht im Brustbereich, Hemdkragen. Ein feines Stück. Nicht zu extravagant. Nicht zu bieder. Niemand würde sich auf der Straße nach so einer alltäglichen Jacke umdrehen. So muss seine Mode sein, findet Caballero: elegant und unauffällig.

Die ersten Geschäfte auf eigene Rechnung machte der junge Miguel als Vertreter. Er verkaufte erst Bücher, dann Stoffe. Er begann, billig Leder aufzukaufen, und ließ daraus Jacken schneidern. Nach der Schule wollte er Betriebswissenschaft studieren. Als er Ende der Achtzigerjahre das Studium begann, glich Kolumbien einem Land im Krieg.

Guerilla, paramilitärische Einheiten, die Armee - jeder kämpfte gegen jeden, und dazwischen schossen die Drogenkartelle Marktanteile aus. Eine Kommilitonin, Tochter eines Senators, kam nur mit Leibwächtern in die Uni. Caballero fiel auf, dass die Männer ihre gepanzerten Westen immer im Auto zurückließen. Warum? »Junge, die sind viel zu schwer«, so erinnert sich Caballero an ihre Antwort. Und kugelsichere Kleider? Die Leibwächter dachten, er wolle sich über sie lustig machen. So was, sagten sie, gebe es nicht. Miguel Caballero hatte seine Marktlücke entdeckt.

Er bat seinen besten Freund um Hilfe, der Kontakte zu einer Firma besaß, die Autos panzerte. Sie beschlossen, einen Prototyp zu schneidern: eine Lederjacke, ausstaffiert mit schussfestem Material aus Luxuslimousinen. Das Stück war unbequem, sah aus wie ein Sack und wog über sieben Kilogramm. Aber es würde Kugeln widerstehen, da  waren sich die beiden Schneider sicher.

Um die Innovation bekannt zu machen, bestellte Caballero das Fernsehen zu sich und versprach, es gäbe eine Sensation zu filmen. »Ich sagte: ›Ich habe eine Story für euch - wir haben die erste kugelsichere Lederjacke der Welt produziert.‹ Der Journalist sagte nur: ›Fantastisch. Wer schießt auf wen?‹« Caballero versuchte noch, sein großspuriges Versprechen zu widerrufen, vergebens. Also feuerte er vor laufenden Kameras auf seinen Freund John Murphy. Er war 21 Jahre alt.

Als der Beitrag ausgestrahlt war, stellte Murphys Mutter Caballero schreiend zur Rede: Wie könne er ihrem Sohn so etwas antun? Vom Aufprall der Kugel hatte Murphy einen Bluterguss am Bauch, so groß wie ein Suppenteller. Aber er lebte. So schafften es die beiden Jung-unternehmer bis in die Nachrichten. »Jeder sprach über uns«, erinnert sich Caballero. »Über diese Verrückten oder diese Erfindung, egal - sie sprachen über uns.« Der Erlös der ersten Jacke finanzierte die Fertigung der zweiten. Sie war schon maßgeschneidert, für einen Schweizer Banker, der in Kolumbien arbeitete.


Der Armani der kugelsicheren Kleidung

Sie kauften eine alte Schneiderwerkstatt im räudigen Süden der Stadt. Anfangs hatten sie eine Sekretärin und ein Faxgerät. Bald zahlte Caballero seinen Freund und Geschäftspartner aus. Er wollte die Firma für sich. Am 5. Juni 1992 ließ er sie amtlich eintragen, einen Namen musste er nicht suchen. Sie sollte heißen wie er. Da war er
24 Jahre alt.

In der Fabrikhalle, in der Caballero auf seinen Buchhalter schießen will, treten nun mehr und mehr Mitarbeiter an den Rand der Fertigungsstraße. Das Spektakel will sich niemand entgehen lassen. Plötzlich läuft in ihre Mitte ein kleines Mädchen. Sie zieht ein Rollköfferchen hinter sich her. Juanita. Die Tochter des Chefs. Sie ist neun Jahre alt, und in ihrem Köfferchen hat sie eine handgemalte Preisliste sowie ihre Waren, ein Sortiment von Minzbonbons, Keksen und Limonade. Als Caballero sie entdeckt, dreht er sich schnell weg von den Waffen. Eigentlich fördert er es, dass seine Tochter so gern Kaufladen spielt: Er erlaubt ihr, an alle Mitarbeiter in der Fabrik zu verkaufen. Nur in ihre Preispolitik musste er eingreifen, als er merkte, dass sie an Arbeiter teurer verkaufte als an Angestellte. Nun aber bittet er sie, ihren Laden erst später zu öffnen. Sie soll es nicht sehen, wenn ihr Vater auf einen Menschen schießt. Nachdem eine Mitarbeiterin seine Tochter aus der Fabrikhalle geführt hat, entsichert Caballero die Maschinenpistole.

Die ersten fünf Jahre der Firma waren schwer. Caballero verkaufte seine Mode Stück für Stück. Wenn er Messen im Ausland besuchte, wollte niemand etwas von seiner Ware wissen. Er hatte noch kein Zertifikat über offizielle Beschusstests. Auch sein Alter  sprach gegen ihn. Einmal traf er einen neuen Kunden, der ihn sogleich abfertigte: Er wolle gefälligst mit dem Chef sprechen, nicht mit dessen Sohn.

Die Firma wuchs: eine neue Werkstatt, ein Ladengeschäft, Kollektionen statt  Einzelstücke. Caballero erweiterte sein Sortiment um Schutzwesten für Sicherheitsdienste und Motorradkleidung. Für das Wachstum brauchte er Geld. Da die Banken Caballeros Kreditwürdigkeit anzweifelten, bot seine Mutter an, ihr Haus zu verkaufen. Sie erinnert sich, wie ihr Mann tobte. Sie könne das Geld genauso gut in den Müll werfen, der Sohn verstehe nichts vom Geschäft. Sie verkaufte. Sie hatte den Eindruck, ihr Mann habe in erster Linie damit Schwierigkeiten, dass sein Sohn mehr Erfolg haben könnte als er selbst.

Als nach zehn Jahren Zeitungen anfingen, ihn »Armani der kugelsicheren Kleidung« zu nennen, wusste Caballero, dass er es geschafft hatte. Er war geschmeichelt, auch wenn er den Vergleich für wenig treffend hielt. Armani hatte es leicht. Armani konnte sich austoben, in allen Arten von Schnitten, Farben und Stoffen. Er, Caballero, musste sich anpassen. An jedes Land. An jede Kultur. Die Araber wünschten kugelsichere Abayas, die traditionellen Kaftane. Die Inder Westen, wie sie der legendäre Ministerpräsident Nehru trug. Die Afrikaner lange Tuniken, die Südamerikaner kurze Leinenhemden und die US-Amerikaner weite Kapuzenpullover. Einmal kam der Prediger einer evangelikalen Freikirche und erklärte, er werde von Satanisten bedroht. Caballero schuf eine schussfeste Soutane und panzerte die Bibel des Priesters.

Jedes Jahr verdoppelte Caballero damals seinen Umsatz, 2005 erwirtschaftete er  sieben Millionen Dollar. Er stellte seine Mutter an, die bis heute in seinem Geschäft die Kasse macht. Auch seinen Vater holte er in die Firma, ins mittlere Management. Sie hatten viel Streit am Anfang. »Heute«, sagt Miguel Caballero, »erkennt er an, dass ich der Chef bin und er der Angestellte. Wir haben eine gute professionelle Beziehung.«

2008 nahm das Londoner Kaufhaus Harrods die Produkte der Firma ins Sortiment, Caballero hatte eigens kugelsichere Trenchcoats entwerfen lassen. Sein Unternehmen war längst groß genug, sich auch an Ausschreibungen von öffentlichen Aufträgen zu beteiligen: Schutzwesten für Polizei und Militär. Die Angebote, die Caballero abgab, umfassten außer seinem Preis auch eine Forderung an die Konkurrenz: Wer außer ihm wage es noch, sich in seinem Produkt beschießen zu lassen? Er fand es interessant, dass kein Konkurrent versuchte, auf ihn zu feuern. Er schoss ständig auf Menschen. Auf ihn selbst hatte noch niemand geschossen.

Es erwischte Caballero in Venezuela. Das Fernsehen hatte ihn eingeladen, der  berühmte Schneider als Stargast. Der Moderator fragte ihn, ob er eigentlich selbst schon mal eine Kugel abbekommen habe. Die Frage war nicht abgesprochen. Caballero hatte kaum verneint, da halfen sie ihm schon in eine seiner gepanzerten Jacken. Vor laufenden Kameras sah Caballero einen Mann auf sich zukommen, der seine Waffe hob und abdrückte.

Das ist lange her. Die Erfahrung, selbst einmal Ziel gewesen zu sein, hat Caballeros Auftreten als Schütze verändert. Er macht weniger Witze als früher. Langsam lässt er die Patrone in die Trommel seines Revolvers gleiten. Er will sicher gehen, dass es die Buchhaltung mit dem Handy ihres Kollegen filmen kann, als Andenken. Dann weist er den Buchhalter ein. »Ich zähle bis drei, okay? Dann schieße ich.« Caballero steckt sich zwei Schallschutz-Stöpsel in die Ohren und gibt ein Zeichen. »Achtung!«, ruft der Waffenmeister, und alle Arbeiter halten sich die Ohren zu.

Der Knall des Schusses klingt schon durch die Halle, als Caballero gerade erst »eins« gerufen hat. Er feuert immer früher als versprochen. Mit einer Pinzette fingert er die Kugel aus dem Futter der Lederjacke. Sie ist noch warm.

Während die Waffen wieder verstaut werden, sucht Caballero nach seiner Tochter. Sie wartet im Empfangsbereich. Sie will in die Fabrik, endlich verkaufen. »Na los, mein Engel«, sagt Caballero, »an die Arbeit.«

Fotos: Luca Zanetti