Sprechstunde: Sonntagabend

In der Lindenstraße spielt Ludwig Haas seit 27 Jahren den Doktor Dressler. War ja klar, dass ihn die Leute ständig um Rat fragen. Die Frage ist nur: Kann er auch helfen?

SZ-Magazin: Herr Haas, dürfen wir »Doktor« zu Ihnen sagen?
Ludwig Haas: Bitte nicht. Aber ich verstehe Ihre Frage gut: Gerade in den ersten Jahren der Lindenstraße begrüßten mich viele Menschen auf der Straße mit »Hallo, Dr. Dressler!«

Wurden Sie schon oft von wildfremden Menschen um ärztlichen Rat gebeten?
Ja, natürlich. Beim Spazierengehen in einem Kölner Park kam einmal eine ältere Frau zu mir und sagte: »Ach, Herr Doktor, gut, dass ich Sie treffe, ich habe eine Frage: Mein Mann soll Stents eingesetzt bekommen. Ist das gefährlich?«

Was sind denn Stents?
Das sind Implantate aus Metall oder Kunstfasern, die kleinen Maschendrahtgeflechten in Röhrchenform ähneln. Sie werden von der Leiste aus in die Herzkranzgefäße geschoben, um sie offen zu halten.

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Also eine Art Bypass?
Nein, ein Bypass ist etwas anderes. Beim Bypass wird man aufgeschnitten. Da wird eine Arterie oder Vene aus dem Bein entnommen, um die Verengung an einer bestimmten Stelle im Herzkranzgefäß zu überbrücken. Deshalb heißt es ja auch »By-pass«.

Jetzt sind wir schon mittendrin im medizinischen Fachgespräch, Herr Doktor.
Ich kenne mich ganz gut aus. Früher hatte Dr. Dressler während der Dreharbeiten auch einen richtigen Arzt an seiner Seite, der ihm beigebracht hat, wie man zum Beispiel eine Spritze setzt oder wie man sich fachmännisch ein Röntgenbild ansieht.

Wie gut ist denn Ihre Erste-Hilfe-Kenntnis?
Ich traue mir zu, einem Unfallopfer ordentlich zu helfen.

Können Sie Blut sehen?
Kein Problem.

Und wie ging das dann weiter mit der älteren Frau im Kölner Stadtpark?
Ich sagte ihr: Liebe Frau, so ein Eingriff ist heute überhaupt kein Problem mehr, da ist Ihr Mann schon in wenigen Tagen wieder aus dem Krankenhaus raus. Ist nur ein kleiner Schnitt, nicht einmal einen Zentimeter groß. Danach wird Ihr Mann sich wieder viel besser fühlen, er bekommt wieder gut Luft und kann Ihnen mit schweren Einkaufstüten helfen.

Und die Frau hat Ihnen das abgenommen?
Ja, klar! Ich konnte ihr die Angst nehmen. Zum Schluss sagte sie: »Vielen Dank, Herr Doktor.«

2005 hat man Ihnen wegen einer Verengung der Herzkranzgefäße drei Bypässe gelegt. Wenn man als bundesweit populärer Fernseharzt zu einem richtigen Arzt in die Praxis geht, spricht der einen dann mit »Herr Kollege« an?
Nein, viele kennen Dr. Dressler gar nicht.

Es gibt Ärzte in Deutschland, die Dr. Dressler nicht kennen?
Sicher. Da muss erst die Krankenschwester kommen und zu ihrem Arzt sagen: Wissen Sie denn nicht, wer das ist?

Herr Haas, das Beispiel aus dem Kölner Stadtpark zeigt: Für viele sind Sie Dr. Ludwig Dressler, der Arzt, dem zumindest die älteren Frauen vertrauen. Hatten Sie in den vergangenen 27 Jahren manchmal das Gefühl, dass Sie für die Zuschauer als Privatperson hinter der prägenden Rolle Ihres Lebens verschwinden?
In dem Augenblick, wo ich die Tür des Studios hinter mir schließe, will ich eigentlich mit der Rolle Dr. Dressler nichts mehr zu tun haben. Wenn ein Schauspieler seine Rolle bis ins eigene Wohnzimmer fortführt, finde ich das unprofessionell.

Aber die Wechselwirkung zwischen Filmrolle und Privatperson können Sie nicht von der Hand weisen. Als Sie 1989 in der Serie von einem Auto angefahren wurden und danach im Rollstuhl saßen, waren Zuschauer, die Sie im wahren Leben trafen, immer wieder überrascht, dass Sie gehen können.
Das ist heute noch so. Ich höre sie rufen: »Hach, Sie können ja laufen!« oder: »Toll, dass Sie wieder gehen können, Herr Doktor!« Viele Zuschauer sind geradezu fassungslos, wenn sie mich laufen sehen.

Nervt das mit den Jahren?
Nein, ich nehme das niemandem übel, denn mir selbst ging es auch schon so: Ich dachte immer, der amerikanische Schauspieler Raymond Burr, der in den Sechzigerjahren den Anwalt Perry Mason und bis Mitte der Siebzigerjahre den im Rollstuhl sitzenden Chief Ironside in Der Chef spielte, sitzt wirklich im Rollstuhl. Als ich ihn dann später in einer anderen Rolle sah, war ich fast schon enttäuscht, dass er gehen kann.

Was viele nicht wissen: Sie sind ein begnadeter Stepptänzer. Haben Sie Zuschauern in solchen Situationen manchmal was vorgesteppt?

Früher ja. Aber mittlerweile bin ich nicht mehr der Jüngste. Da würde ein Stepptanz eher ulkig aussehen.

Mit Ihrer Rolle als Rollstuhlfahrer hatten Sie ja anfangs auch Gewöhnungsschwierigkeiten, weil man Ihnen versprochen hatte, Sie würden nur für ein, zwei Jahre im Rollstuhl sitzen.
Das ist jetzt 23 Jahre her.

Hat man vergessen, Sie wieder aus dem Rollstuhl rauszuschreiben?
Ich bin wirklich vergessen worden. Hans Geißendörfer, der Erfinder und Kopf der Lindenstraße, hat das auch einmal zugegeben. Das Interessante ist aber etwas anderes: Niemand weiß, woran Dr. Dressler eigentlich leidet. Nicht einmal ich.

Es hat nie eine Diagnose gegeben?
Nein. Das hat man immer offen gelassen – damals in der Voraussicht, dass er irgendwann mal wieder gehen kann.

Hoffen Sie darauf, dass man Sie wieder laufen lässt?
Dieser Zug ist abgefahren. Ich bin jetzt fest mit dem Rollstuhl verwachsen. Aber wer weiß: Ich hätte 1985 auch nie daran gedacht, dass die Lindenstraße 27 Jahre in der ARD läuft.

Die Lindenstraße startete im gleichen Jahr wie die Schwarzwaldklink.

Im selben Jahr wie die Lindenstraße startete auch die Schwarzwaldklinik, die noch heute als erfolgreichste Arzt-Serie im deutschen Fernsehen gilt. Haben Sie sich damals von Klausjürgen Wussow, dem deutschen »Godfather« des Schauspieler-Arztes, rein handwerklich etwas abgeschaut?
Von Klausjürgen? Nein, Wussow spielte ja die zentrale Rolle in der Schwarzwaldklinik. Aber die Lindenstraße ist völlig anders angelegt, sie war nie eine One-Man-Show: Es gab Ute Mora als Berta Griese, Till Schweiger als Jo Zenker, es gibt Marie-Luise Marjan als Mutter Beimer, Hermes Holodides als Vasily Sarikakis und es gibt eben mich als Dr. Dressler. Die Fixierung auf eine einzige Person wie bei der Schwarzwaldklinik hätte Geißendörfer nie zugelassen.

Als Dr. Dressler waren Sie nicht nur Arzt, sondern auch Witwer, geschieden, mit einer viel jüngeren Frau verheiratet, Alkoholiker, Vater eines Homosexuellen, Vater eines Junkies, Bösewicht, Samariter - Ihr Leben in der Lindenstraße war eine endlose Abfolge von Schicksalsschlägen und damit das personifizierte Gegenmodell zum alles überstrahlenden Professor Brinkmann, der kaum Brüche in seiner Vita hatte.
Da haben Sie wahrscheinlich recht. Aber ich habe nie bei der Schwarzwaldklinik eingeschaltet, um nachzusehen, wie macht das eigentlich der Brinkmann? Als Schauspieler - das habe ich vor allem am Theater vom großartigen Theo Lingen gelernt - muss man seine eigenen Unarten ausspielen, um eine Rolle unverwechselbar auszufüllen.

Welche Unarten meinen Sie?
Lingen hatte eine Zahnlücke und lachte deshalb nie aus vollem Hals und mit offenem Mund, sondern er kicherte vielmehr und stülpte seine Oberlippe über die vordere Zahnreihe. Oder Robert Mitchum. Der hat jede Bewegung immer so langsam ausgeführt, dass Kollegen am Theater früher oft sagten: »Mach es wie Mitchum.«

Und welche Unart haben Sie kultiviert?
Als Schauspielschüler hatte ich die Angewohnheit, meinen langen Hals zu strecken, wenn ich jemanden ansprach. Und mein Schauspiellehrer Eduard Marks sagte zu mir: »Wenn du schon ein Affe bist, musst du nicht auch noch ein Giraffe sein!« Meine Unart ist also, dass ich immer meinen Hals ganz lang gemacht habe.

Klausjürgen Wussow hat zwei Bücher geschrieben: Mein Leben als Chefarzt Dr. Brinkmann von der Schwarzwaldklinik und Professor Brinkmann und ich. Beides Bestseller. Er war der Auffassung: Ich kann den Brinkmann ebenso wenig verleugnen wie der Brinkmann den Wussow verleugnen könnte. Gilt das für Haas und Dr. Dressler auch?
Ich kannte Wussow gut, er ist ja nun auch schon ein paar Jahre tot. Er war ein sehr guter Schauspieler, ich selbst habe mit ihm gedreht und will auch nichts Böses über ihn sagen, aber Klausjürgen war ein sehr eitler Mensch. Und für einen eitlen Menschen sind solche Bücher und auch so eine Aussage bezeichnend.

Hat sich noch nie ein Verlag bei Ihnen gemeldet?

Nein, mich hat noch niemand gefragt, ob ich über mich und Dr. Dressler ein Buch schreiben möchte. Und ganz ehrlich: Das würde ich auch nicht machen.

Erzählenswerte Geschichten gäbe es sicher genug. Dr. Dressler war ja lange Zeit ein regelrechter Säufer. Wie haben Sie sich auf diese Facette Ihrer Figur vorbereitet?
Ich war bei den Dreharbeiten immer nüchtern, wenn Sie das meinen. Aber ich habe für die Rolle lange Zeit bei einer Selbsthilfegruppe recherchiert.

Gehörte zur Recherche auch ein anständiger Vollrausch?
Natürlich. Allerdings liegen diese Zeiten der Recherche noch vor der Zeit der Lindenstraße.

Als Sie noch am Theater spielten?
Ja, bei einem Theaterfest – der Name des Theaters tut nichts zur Sache – war ich mal sturzbesoffen, bin aus dem Gebäude gerannt, habe mich nackt ausgezogen und auf die Rückbank eines Cabrios gelegt. Es war nicht mein Cabriolet. Am nächsten Morgen weckte mich der Besitzer des Wagens, und ich habe mich so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht. Na ja, ich war sehr jung.

Dr. Dressler erhält bis heute sehr viel Fanpost. Was steht da eigentlich drin?
Ach, die Menschen kommentieren laufend meine Rolle. Sie beklagen sich auch über mich. Manchmal ist es verblüffend, wie ernst sie Dr. Dressler nehmen. Als er die um viele Jahre jüngere Tanja heiratete, schrieb eine Frau zum Beispiel: »Lassen Sie bloß die Hände von der!« Als Dr. Dresslers zweite Frau starb, habe ich eine Einladung einer Dame aus Sylt erhalten, die schrieb: »Lieber Dr. Dressler, ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich besuchen. Ich würde Sie auch gern trösten in dieser schwierigen Zeit« und so weiter.

Ein eindeutig unmoralisches Angebot. Sind Sie der Einladung gefolgt?
Natürlich nicht. Ich habe nicht geantwortet. Was soll ich dieser Frau auch schreiben? Dass ich nicht Dr. Dressler bin? Dass es sich um eine Verwechslung handelt?

Haben Sie es eigentlich je bereut, nicht aus der Serie ausgestiegen zu sein?
Nie. Ich habe eine Alterskarriere hingelegt. Immerhin besser als eine junge Karriere, die schnell verglüht. Ich war als Schauspieler nie arbeitslos, habe nie gestempelt. Darauf bin ich heute noch stolz. Außerdem war ich selbst auch immer neugierig darauf, was demnächst mit dem Dressler passiert. Und ich habe - das gebe ich gern zu - ein starkes Loyalitätsgefühl gegenüber der Serie.

Hans Geißendörfer ist im wahren Leben Ihr Trauzeuge, richtig?

Das stimmt. Wir sehen uns nicht so oft, aber zwischen uns herrscht eine enge Verbindung. Ich finde ihn schlicht genial.

Stört es Sie eigentlich, wenn man die Lindenstraße eine Seifenoper nennt?

Ich widerspreche da gern. Die Lindenstraße ist in meinen Augen sehr gute Unterhaltung mit einer sozialen und auch politischen Aussage. Denken Sie nur an den ersten Männerkuss im deutschen Fernsehen. Als der in der Lindenstraße gezeigt wurde, war die Empörung bundesweit riesig. Heute sieht man das fast täglich im Fernsehen.

2005 war das 20-jährige Lindenstraße-Jubiläum. Damals sagten Sie in einem Interview: »Dass ich den Dr. Dressler seit 20 Jahren spielen darf, empfinde ich als großes Geschenk. Ich drehe, bis ich umfalle.« Gilt dieser Satz heute auch noch?
Ja, dieser Satz gilt. Auch wenn man nie weiß, was das Leben für einen noch bereithält.

Sehen Sie sich eigentlich als Lindenstraße-Legende?
Die Lindenstraße ist vielleicht eine Legende. Ich bin nur ein kleiner Teil davon.

ZUR PERSON
Ludwig Haas, 1933 in Eutin geboren, absolvierte seine Schauspielausbildung zwischen 1951 und 1953 an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Bis in die frühen Achtzigerjahre stand er vor allem auf der Bühne, etwa am Schauspielhaus Hamburg, am Mannheimer Nationaltheater oder den Kammerspielen in München. Erst mit 52 Jahren nahm er 1985 die Rolle als »Dr. Ludwig Dressler« in der Lindenstraße an, er gehört zum Gründungsensemble der Serie. In internationalen Produktionen verkörperte Haas oft den »bösen Deutschen«. Adolf Hitler spielte er allein drei Mal, 1992 auch an der Seite von Michael Douglas in Wie ein Licht in dunkler Nacht.

Foto: Peter Hönnemann; Illustration: La Tigra