Stell dir vor, du hättest den Hintern von Montserrat Caballé

Gesangsstunden? Fand unsere Autorin völlig abwegig. Bis sie selbst welche nahm. Ein Lob in den höchsten Tönen.

Im Grunde besteht das einzige Glück des Älterwerdens darin, in sich selbst immer weitere Sümpfe von Dummheit zu entdecken und, wenn möglich, trockenzulegen. Mein Verhältnis zur Musik war ein solcher Sumpf. Nicht zur Musik an sich, nur zur selbst gemachten. Ich war eine engstirnige Verfechterin des klassischen deutschen Geniekults. Auf der einen Seite die Sterne am Firmament: Dirigenten, Pianisten, Geiger, Sänger, denen gottgleiche Anbetung gebührt. Auf der anderen Seite die Scharen fröhlicher Dilettanten, die, wenn sie schon nicht anders können als selber zu singen oder auf Instrumenten herumzustümpern, dies bitte in schalldichten Bunkern tun mögen, ohne die empfindlichen Ohren der Gesellschaft damit zu belästigen.

An diesen hochfahrenden Ansprüchen ist auch mein Klavierspiel gescheitert. Da es mir nicht gelang, im formbaren Kindesalter ein Niveau zu erreichen, das mir akzeptabel schien, ließ ich es lieber ganz. Ich beschuldige bis heute meine Mutter, das Klavier zu spät angeschafft zu haben. Es ist ja immer bequem, andere Gründe zu finden als die eigene Talentlosigkeit. Aber inzwischen finde ich beides feige, die Sündenbock-Konstruktion genauso wie die wehleidige Selbstermächtigung, aufzuhören, nur weil aus mir nicht nur kein Lipatti, sondern nicht einmal eine mittelmäßige Bar-Pianistin werden konnte.

Denn dass das eine mit dem anderen, die begnadeten Götter mit dem laienhaft musizierenden Volk etwas zu tun haben könnten, ist mir erstaunlich spät aufgegangen, und zwar in einem etwas skurrilen Selbstversuch.

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Denn eines Tages fand ich mich in einer fremden Schöneberger Wohnung mit der Nasenspitze dicht vor einer weißen Wand »uuoouuh« machen.

In meinem Rücken saß eine Frau am Klavier und schlug gelegentlich eine Taste an, ich glaube, es war ein F.

Pling! - Uuoouuh!

»Viel weniger Luft«, sagte die freundliche Stimme hinter mir, »stell dir vor, die Wand singt dir den Ton zu, nicht umgekehrt.«

Pling! - Uuuuoooouuuh!

»Genau! Hast du das gehört?«

Ich drehe mich um, hochrot, und sage voller ehrlichem Selbsthass: »Nein.«

Irgendetwas Erfreuliches ist passiert, aber ich habe es gar nicht gehört. Ich singe, wie ein Blinder malt. Ist ja wieder typisch. Eine Szene wie aus einem Albtraum. Wie bin ich hierher gekommen? Was ist in mich gefahren?

Es gibt, aber das wurde mir erst später klar, eine Zwillingsszene dazu. Ich bin zwölf, ich singe seit zwei Jahren im Schulchor, der jedes Jahr im Frühling am Wiener Chorwettbewerb »Jugendsingen« teilnimmt und dort so erfolgreich ist wie der 1. FC Kaiserslautern in der vergangenen Saison.

Aber im Jahr 1982 wurde unser Musiklehrer, den wir hier Professor Koranda nennen wollen, unversehens von Ehrgeiz durchpulst. Er muss davon geträumt haben, wenigstens ein einziges Mal nur Vorletzter zu werden, oder sogar Drittletzter. Er ließ die Kinder einzeln vorsingen. Und da stehe ich ängstlich vorne neben dem Flügel, schräg hinter mir die auf Versagen lauernde Meute. Korandas Zeigefinger hackt auf eine schwarze Taste ein, ich glaube, es war das Gis. Hier lag offenbar der Fehler in der Liedzeile, die ich gerade gesungen habe. Ich versuche es noch einmal, saftlos wie ein tuberkulöser Spatz. Koranda hebt beide Hände, als würde er mit aller Kraft ein unsichtbares Tablett vor seinem Gesicht hochstemmen. »Giiiis!«, ruft er in Gis. Ich hebe sein Tablett offenbar nicht hoch genug. Er schließt die Augen, wie im Schmerz, dann schüttelt er langsam den Kopf. Ich bin draußen.

Warum ist Gesang eigentlich mit so besonders viel Peinlichkeit verbunden? Zumindest bei Kindern lächeln wir nachsichtig, wenn sie am Klavier danebenhauen, wir zucken vielleicht, wenn sie eine Geige malträtieren und dieses Geräusch erzeugen, das man sonst nur aus der metallverarbeitenden Industrie kennt. Aber jemand, der sich hinstellt und falsch, oder nicht ganz richtig, oder auch nur nicht besonders gut singt, der ruft körperlich messbare, aggressive Verachtung hervor. Deshalb wird Troubadix auch jedes Mal gefesselt, geknebelt und auf den Baum gezogen.

Davon leben die Castingshows. Deren gelungenste Momente sind ja immer die, wo das johlende Fremdschämen bruchlos in den Gottesdienst am Klangwunder übergeht, wie damals, als die unansehnliche schottische Arbeitslose Susan Boyle in einer Art goldenen Wursthaut auf die Bühne von Britain’s Got Talent gestapft kam und die grässliche Kitschnummer I Dreamed a Dream derart herzergreifend sang, dass den Konfektionsgröße-Null-Tussis im Publikum vor Rührung die falschen Wimpern abfielen. Millionen Klicks auf Youtube, ein Plattenvertrag und eine Kosmetikerin, die Susans buschige Augenbrauen zupfte - a star was born.

Vom »Singen im Sterntaler-Stil«

Der Hass auf den schlechten Sänger ist wohl vergleichbar mit dem auf den falschen Propheten. Denn umgekehrt vermag uns nichts so tief anzurühren wie die Schönheit einer menschlichen Stimme, kein Instrument, das der Mensch zu ihrer Nachahmung oder Begleitung gebaut hat: kein Klavier mit seinem riesigen Tonumfang und keine Orgel, auch wenn sie die Wucht von Gottes Atem nachahmt. Und die innigsten Stellen in der Orches-termusik sind oft jene, wo die »singenden« Instrumente dominieren, Celli, Oboen oder Klarinetten, die ja wirklich klingen können wie lachende oder schwatzende Menschen. Aber dennoch geht nichts über den Moment, wo eine Stimme einsetzt. Die Komplementärfigur zum zappelnden Troubadix ist deshalb Odysseus, der den übermenschlich schönen Gesang der Sirenen hören wollte, ohne daran, wie alle seine Vorgänger, zu sterben. Offenen Ohres ließ er sich am Mast festbinden und seine Matrosen, Wachs in den Gehörgängen, steuerten ihn am Sirenenfelsen vorbei.

Das Jahr, in dem ich vierzig wurde, war aus verschiedenen Gründen kompliziert und schmerzhaft. Nur deshalb, aus einer Art existentiellem Trotz, tat ich etwas, was mir gleichzeitig völlig abwegig schien: Ich vereinbarte eine Gesangsstunde. Die Lehrerin gefiel mir, weil sie auf ihrer Webseite vom »Singen im Sterntaler-Stil« schrieb: »Man öffnet die Arme und es regnet Klang.« Das klang ganz anders als alles, was ich bisher mit Musikunterricht verbunden hatte, nämlich Peinlichkeit und harte Arbeit. Es klang verlockend niederschwellig, aber es klang auch, für eine Geniekult-Anhängerin, ein wenig anrüchig: nach der Wohlfühlnummer für stümpernde mittelalte Frauen.
Na gut, aber schließlich bin ich genau das. »Andere in meinem Alter gehen aquarellieren, töpfern oder zum Yoga«, erklärte ich grimmig meinen Freunden, »ich lerne jetzt halt ein bisschen singen.«

Inzwischen kann ich sagen: Ich habe in den letzten zwei Jahren unglaublich viel gelernt, durchaus auch singen, aber vor allem, dass es in jedem Alter möglich ist, etwas ganz Neues über sich selbst zu erfahren. Ich habe mich in fast jeder Hinsicht zum Trottel gemacht und dabei mehr Spaß gehabt als je zuvor - jedenfalls bei etwas, das »Unterricht« heißt. Ich habe mit meiner Lehrerin, der großartigen Veronika Böhle, einen zufälligen Volltreffer gelandet und mich ihr, aus Sympathie und Vertrauen, völlig ausgeliefert. Wenn sie mich auffordert, mich beim Singen blond zu fühlen, so blond und hysterisch, wie ich nur kann, dann komme ich ihrem Wunsch so gut es geht nach. Wenn sie sagt, ich solle durch das Zimmer gehen und dabei so tun, als wäre mein Hintern größer als der von Montserrat Caballé und Jessye Norman zusammen, bemühe ich mich redlich. Sie spricht vom Innenraum meines Schädels: Ich solle mir vorstellen, dass von den Ohren blanke Drähte abgingen. Wenn sie sich in der Mitte berühren, sprühen Funken. Sie sollen sich ständig berühren, es sollte in meinem Kopf also britzeln wie in einem Umspannwerk. Und plötzlich hörte ich, dass der Ton, den ich mit diesem Bild im Kopf sang, anders klang, gefährlicher.

Als ich mich wie ein störrisches Kind weigerte, bestimmte hohe Töne zu versuchen (»Das ist mir viel zu hoch! Meine Stimme ist dafür nicht gemacht!«), lachte sie nur, denn sie hörte besser als ich, wofür meine Stimme theoretisch gemacht ist. Sie ließ mich rückwärts gehen, singend, mit geschlossenen Augen, und bei der bestimmten Stelle (es war »nur« ein hohes E), musste ich mich auf ihr Sofa fallen lassen. Beim dritten Versuch stand es da, das hohe E, wie ein silberner Strahl mitten im Raum, denn beim blinden Fallen hatte ich vergessen, mich darauf zu konzentrieren, was ich angeblich ganz bestimmt nicht konnte.

»Metall«, ruft sie inzwischen nur noch, während sie mich am Klavier begleitet, denn sie hat mich abgerichtet wie einen Hund, »Ingwer und empfindliche Zahnhälse!« Ich lache und singe, und ich höre die Unterschiede längst, die wispernden Obertöne, die Zacken, die Schlacken, die sanft gewellten Ebenen, die Engstellen. Stimmen sind wie Landschaften, man muss sie umgraben und kann sie gestalten. Die Stimmgabel, das Maßband meines Mißtrauens, brauche ich beim Üben nur noch selten, obwohl die das Tablett stemmenden Hände immer noch gelegentlich im meinem Kopf herumgeistern.

Der proskynetische Glaube an die Unfehlbarkeit

Vor Kurzem habe ich im Konzert eines sehr bekannten Sängers gehört, dass seine ersten hohen Töne durchaus ein paar Koranda-Millimeter gebraucht hätten. »Normale Anfangsunsicherheit«, befand in der Pause eine Frau, die, wie sich herausstellte, immerhin Klavierprofessorin am Mozarteum ist. Ihre Gelassenheit war ein weiterer Beweis dafür, dass der proskynetische Glaube an die Unfehlbarkeit der Meister einfach nur dumm ist und direkt in Rache und Fundamentalismus führt - während der mündige Liebhaber hört, schweigt und verzeiht.

Stimme und Gehör sind eben nicht nur angeborene Geschenke, Auszeichnungen des Schicksals oder des Genmaterials. Weniges im Leben ist ganz unveränderlich. Zumindest kann man das Singen und Hören üben wie andere Dinge auch, wie Vokabeln, Kochen oder Küssen. Der eine hat halt ein bisschen mehr Talent dazu, der andere weniger. Oft hat der mit dem kleineren Talent mehr Biss, weil ihn die Unvollkommenheit antreibt. Meine Schulfreundin C. zum Beispiel hatte nach Meinung aller, die sie je singen gehört haben, eine Riesenstimme. Bei Professor Koranda musste sie nicht einmal vorsingen, sie war eine der Stützen des Chores. Zehn C.s, und wir hätten das Jugendsingen gewonnen. Aber hat ihre Stimme, ihre stupende Musikalität sie selbst je interessiert? Nicht die Bohne. Sie raucht seit fünfundzwanzig Jahren Kette, hat einen ganz anderen Beruf ergriffen und singt wahrscheinlich nicht einmal in der Dusche. Also könnte der Neid doch langsam aufhören, mich zu fressen.

Ich blättere durch meine Noten und Notizen: »Gebärkurs, leiernd« steht über der langsamen Passage einer Arie, »mechanische Spieldosen-Figur, endgültig übergeschnappt« über jener dritten Wiederholung in Glucks Orpheus-Arie, die er dann gnadenhalber mit einer Verzierung ausstattet - die Verzierung des vor Schmerz wahnsinnig Gewordenen.

»Warum, zum Teufel, schreibt er das in C-Dur«, frage ich empört, »wie soll man in C-Dur verzweifelt sein?«

»Das ist eben die Herausforderung«, sagt Veronika, die, wie jede gute Pädagogin, eine Instinkt-Psychologin ist, und grinst: »Wenn man das sogar in C-Dur schafft, ist man wirklich verzweifelt.«

Eine Händel-Arie habe ich gelernt, indem ich mir vorstellen musste, bei eiskaltem Wind auf einer Klippe am Meer zu stehen. »Alle starren dich an, und beim letzten Ton springt du«, schlug Veronika vor und kicherte. Leider findet sie oft, dass ich für Händel »zu gesund« singe. »Das ist nicht Verdi«, mahnt sie, »es ist Händel. Deine milchweiße Haut ist so empfindlich, dass sogar ein Badeschwamm eine Zumutung ist.« So schraubt sie mit Sprachbildern wie mit Werkzeugen an mir herum. Sie stimmt mich, mit Wörtern. Für jemanden, der von dieser speziellen Funktion der Sprache noch nichts wusste, war das eine elektrisierende Erfahrung.

Denn bisher kannte ich es nur andersherum: Schriftsteller sprechen oft von Rhythmen, Klängen, Melodien im Kopf, wenn sie zu beschreiben versuchen, wie sie schreiben.

Und so sitze ich neuerdings in der Oper und sehe die Welt neu, veronikalogisch. Da leuchtet es völlig ein, dass der Perserkönig und sein Bruder in Stefan Herheims sensationeller Berliner Inszenierung von Händels Xerxes vierhändig an Romilda herumgrapschen, während sie singt - wie anders könnte man solche Koloraturen denn singen als bedrängt und gekitzelt?

Und das ist es wohl, was mich an der Sache so besonders fasziniert: der pulsierende Zusammenhang zwischen Sprache und Musik. Natürlich arbeiten auch Dirigenten mit Metaphern, natürlich haben auch die Musiker Bilder im Kopf, während sie musizieren. Und im besten Fall sitzt dann ein feinfühliger Kritiker im Konzert und vermag dem, was er hört, wieder passende Worte anzuschmiegen.

Das ist natürlich kein Übersetzen wie von einer Sprache in die andere. Eher ist es ein wundersames Verwandeln von einem Aggregatszustand in den nächsten, von der elas-
tischen, aber dennoch festen Haut der Sprache in das blutvolle Fließen der Musik und wieder weiter, in ein anderes Festes, das sich aufs Neue verflüssigt.

Die Komplexität von klassischer Musik muss uns also, ebenso wie die eines guten Romans, genau das Gegenteil dessen lehren, was der Geniekult behauptet: nicht eingeschüchterte Demut, sondern vertrauensvolles Vergnügen. Es sind Millionen einzelner Töne (oder eben Wörter), die das Ganze ergeben. Und wie sie es bilden, warum und mit welchem Effekt, das ist so kompliziert, dass es von niemandem vollständig analysiert werden kann. Es gibt keinen Masterplan für das Geglückte, es bleibt ein Stück Magie.

Und deshalb werden kein einzelner missglückter Ton oder keine »durchgegangene Metapher« (Doderer) jemals die Macht haben, das Ganze zu zerstören, nicht einmal: zu stören, genausowenig wie eine partielle Geistesabwesenheit des dritten Geigers infolge von Eheproblemen oder ein zu langer innerer Monolog. Misstrauen Sie dem Literaturkritiker, der wegen eines Adjektivs so theatralisch wie rhetorisch nach dem Lektor ruft, misstrauen Sie dem Musikkritiker, der auf die Beschreibung von »nicht ganz sauberen Höhen« einen ganzen mürrischen Absatz verwendet. Denken Sie an die Koranda-Millimeter.

Der Gesangsunterricht hat mich jedenfalls gelehrt, mir endlich das eigene Scheitern zu verzeihen. Derzeit grillt mich das hohe F, bekanntlich nur einen Halbton höher als das E, aber schier unerreichbar. Jedenfalls in dieser Vivaldi-Arie, wo man es fast zwei Takte lang halten muss. Mein F ist schrill, wie festgebacken, es schwingt nicht. Kein Vibrato ist aufzufinden, in keinem Neben- oder Stirnhöhlenresonanzraum. Der Trick mit dem Sofa funktioniert nicht, denn ich »kriege« den Ton ja, aber ich kann ihn nicht fließen lassen. Ich piepse, ich quietsche, ich frage mich schamesrot, wie Gesangslehrer ihre Schüler Tag ein, Tag aus ertragen. Aber ich mache weiter, Veronika sei Dank. Gelassen sagt sie: »Das braucht halt Zeit.«

Vielleicht wird mich das F trotzdem besiegen. Aber es gibt noch andere Arien, ätsch, Antonio. Ich werde mir die Niederlage jedenfalls nicht mehr, wie früher, egozentrisch zum Charakterfehler aufblasen. Und genau das sollte man spätestens in der Lebensmitte gelernt haben. Ob das beim Yoga genauso gelungen wäre? Beim Töpfern, da bin ich mir sicher, nicht.

Illustrationen: Nishant Choksi