Auf der Lauer

Gehasst, bewundert und jenseits aller Gesetze: In den bayerischen Bergen treiben die Wilderer ihr Unwesen wie vor 100 Jahren. Wir waren mit einem von ihnen unterwegs.

Die Maske zieht Anton Hardt, der Wilderer, nur über, wenn es gefährlich wird. Wenn er schießen will oder schon geschossen hat.
Der Wilderer hat an diesem Tag kein Gewehr dabei. Sagt er. Aber Anton Hardt* hat schon oft versprochen, sein Gewehr im Versteck und das Wildern sein zu lassen. Nach den zwei Hausdurchsuchungen, nach der ersten Verhandlung und nach der zweiten. Nachdem Polizisten und Jäger ihn acht Stunden lang mit Hubschrauber und Wärmebildkamera durchs Gebirge hetzten, ehe sie ihn festnahmen. »Wildern macht süchtig, das kannst du nicht aufhören. Irgendwann fangen deine Beine von selber an zum Gehen, dann stehst du wieder mit der Büchse im Wald. Wilderer bleiben Wilderer, für immer«, sagt er, und dass er sein Fleisch nicht im Supermarkt kaufen will.

Der Wilderer trinkt an diesem Sonntag um kurz vor zehn Uhr morgens sein zweites Weißbier in der Talstation der Wendelsteinbahn im oberbayerischen Brannenburg. Dann sagt er: »Auf geht’s« und steigt in die wartende Zahnradbahn. Der Wendelstein glänzt in der Sonne, um den Berg scharen sich weiße Wolken vor blauem Himmel. Anton Hardt, kräftige Statur, Dreitagebart, kurze Haare, Typ: Hubert von Goisern, ist gekleidet wie einer von vielen, die gern am Berg sind – blaue Funktionshose, kariertes Hemd, bunter Rucksack. Eine bessere Tarnung gibt es kaum: »Wer nachts geht und sich das Gesicht schwärzt, der kann sich auch ein gleich ein Schild umhängen, auf dem ›Wilderer‹ steht.« Er lacht. Hardt sagt »Wuidler« statt »Wilderer« und »Votzn« statt »Gesicht«. Er muss nicht flüstern; die Touristen um ihn herum verstehen sein derbes Bairisch ohnehin nicht. Die letzten Wanderer zwängen sich in die voll besetzte Bahn, dann ruckelt sie los. Dicht an dicht stehen die Rucksäcke im engen Mittelgang, Müsliriegel und Äpfel werden ausgepackt. Wenn Hardt jagen geht, steckt in seinem Rucksack ein Kleinkalibergewehr mit ausklappbarer Schulterstütze, Zielfernrohr und Schalldämpfer zum Aufschrauben, außerdem Munition, ein scharfes Messer zum Aufbrechen der erlegten Gämsen und eine Wollmütze mit Augenlöchern, die er sich als Maske übers Gesicht ziehen kann. Aber erst, wenn er die Pfade der Wanderer verlassen und sein Gewehr hervorgezogen hat. Wenn er auf den ersten Blick als Wilderer zu erkennen ist oder sogar schon geschossen hat.

Auf dem Rückweg liegen in Hardts Rucksack die Köpfe der erlegten Gämsen und die guten Fleischstücke von Rücken, Schulter und Schlegel, eingepackt in Tüten, damit das Blut nicht heraustropft. So passen leicht zwei Gämsen in einen Rucksack, erzählt er. »Runter gehst du auch mit Wanderern. Da sagst du ›Servus‹, und schon bist du im Gespräch.« Und völlig unverdächtig für entgegenkommende Jäger. In den Tagen nach dem Schuss verteilt Hardt die Fleischstücke an Freunde und Verwandte oder bestückt die Gefriertruhen, kocht die Gämsenköpfe aus und nagelt die Geweihe an die Wand. »Das gehört dazu, Krickerl versteckt man nicht im Keller«, sagt er und nickt seinem Spiegelbild im Bahnfenster zu. »Krickerl« sind Geweihe.

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Der Mythos des Wilderers ist tief in der bayerischen Identität verankert. Seit der Holzknecht und Wilderer Georg Jennerwein am 6. November 1877 vom Jagdgehilfen Josef Pföderl ermordet wurde, der Legende nach hinterrücks, wird er in Bayern verehrt wie sonst nur König Ludwig, in Balladen, Erzählungen, Büchern. Jennerwein schoss sich in die Seele seiner Landleute, nicht nur weil er den Mächtigen frech das Wild stahl – die Jagd war königliches Privileg, während die Bauern hungern mussten –, sondern vor allem weil der Wilderer das Fleisch anschließend an die Bauern verteilte. »Rebellen der Berge« nennt der österreichische Soziologe Roland Girtler die, die damals der Obrigkeit trotzten. Wer den Mut dazu hatte, der galt etwas im Dorf. Bei den Mädchen und bei denen, die in der Früh ein Stück Fleisch vor ihrer Tür fanden.

2006 registrierte die bayerische Polizei 195 Fälle von Jagdwilderei. Ein paar mehr als in den Vorjahren und wie immer weit mehr als in allen anderen Bundesländern. In Bayern hält sich die Wilderei und mit ihr das Bild vom freien, aufrechten Wilderer, einem archaischen Helden, der eines der letzten echten Abenteuer lebt. Dabei fehlt dem Tun der Wilddiebe inzwischen nicht nur die Rechtfertigung eines Jennerwein – schon lange muss niemand mehr hungern, längst kann jeder den Jagdschein machen –, sondern auch die Romantik: Fast alle heutigen Wilderer erhöhen ihre Trefferquote mit Zielfernrohren, Restlichtaufhellern oder Nachtsichtgeräten, die sie über das Internet bestellen. Manche steuern nachts ihren Jeep auf eine Lichtung, warten dort auf ein Reh, schalten dann die Scheinwerfer ein und schießen aus dem Autofenster auf das im Lichtkegel erstarrte Tier.

Viele Wilderer lassen das Fleisch der getöteten Tiere liegen und nehmen nur noch die Trophäe mit, das Geweih. Wenn sie ihre Kugeln durch den Schalldämpfer schicken, klickt es nur mehr leise und sachlich. Und weil Schalldämpfer den Mündungsknall großer Kaliber nicht schlucken, schießen die meisten Wilderer mit viel zu kleinen Kugeln auf Hirsche, Rehe und Gämsen, oft können die Tiere schwer verletzt fliehen und verbluten erst im Unterholz.

Für Dieter Stiefel, Wildereifachmann der bayerischen Polizei, sind Wilderer daher vor allem eines: Tierquäler. Stiefel steht in einem dunklen Kellerraum im Bayerischen Landes-kriminalamt vor einer Wand voller konfiszier-ter Waffen. »Alles typische Sonderanfertigungen ›Marke Wilderer‹«, erklärt er: Kleinkalibergewehre mit verkürzten Schäften und einklappbaren Schulterstützen, mit abgesägten Läufen oder Scheinwerfern zum Aufstecken. Daneben ein Spazierstock mit integriertem Gewehrlauf, eine umfunktionierte Leuchtpistole und sogar eine Armbrust. Es hat sich eine Menge angesammelt in den letzten dreißig Jahren. So lange macht Stiefel, Förstersohn, Jäger und Krimi-naltechniker, schon Jagd auf Wilderer, oft mit aufwändigen ballistischen Untersuchungen.

Stiefel greift sich eine Waffe mit einklappbarer Schulterstütze heraus. »Die hier passt in jeden Rucksack. Das ist die Schlechinger Bauart, die wurde in den Achtzigern vor allem durch zwei besonders aktive Wilderer bekannt.« Wen er meint, darf Stiefel nicht sagen. In Dutzenden alten Zeitungsausschnitten finden sich aber schnell die Namen Jens Friese und Felix Laubhuber, meistens als Jens F. und Felix L. abgekürzt, ab und zu aber auch in voller Länge, mit ausdrücklicher Einwilligung der beiden. Noch heute sonnen sie sich im alten Ruhm, erzählt Stiefel, aber mittlerweile hätten sie wohl aufgehört zu wildern. »Das behaupten eigentlich alle«, sagt Stiefel, aber: »Wilderer bleiben Wilderer. Die werden erwischt, bestraft, kommen raus und werden wieder erwischt.« Einen Fall hat er bearbeitet, da hat ein 80-Jähriger noch gewildert. »Die brauchen das«, sagt Stiefel, »vor allem die Anerkennung im Dorf und am Stammtisch. Dabei ist es doch kein Kunststück, als Bergwanderer getarnt auf vierzig Meter Gämsen zu schießen.«

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Stiefel nimmt den zertrümmerten Unterkiefer eines Hirschs aus einem Regal und hält ihn ins Licht. Der Rheinländer, eben noch ganz der sachliche Polizist, wirkt plötzlich aufgebracht, sein Zeigefinger bebt über der Einschussstelle. »Hier hat die kleine Wildererkugel den Knochen zerschossen. Der Hirsch konnte nicht mehr fressen und ist verhungert. Aber von so etwas redet keiner, alle wollen nur die Heldengeschichten hören.«

In der Zahnradbahn schäkert Anton Hardt über alle Köpfe hinweg mit drei Hamburger Mädchen, »Dirndln, habts heute Abend schon was vor?« Die drei kichern. Seit der Abfahrt unterhält Hardt lautstark den gesamten Waggon. »Sakrament, 15,50 Euro für einmal hochfahren, das grenzt ja an Plünderei, oder?«, ruft er jetzt mit hochgezogenen Augenbrauen und schaut in verlegene Gesichter von Urlaubern. Ein paar nicken gehorsam.

An der Mittelstation steigt der Wilderer aus und lässt die Wanderer allein zum Gipfel des Wendelsteins fahren. Keine fünf Minuten später sitzt er mit dem dritten Weißbier des Tages vor einer bewirtschafteten Almhütte und dreht sich eine Zigarette, »wir haben ja Zeit«. Genau in dieser Alm, erzählt er, schaute er vor ein paar Jahren beim Urinieren aus dem Toilettenfenster und sah: ein Rudel Gämsen. »Vier Stück haben wir damals runtergetan, zu zweit.« Hardt geht meistens zu zweit auf die Jagd, viele Wilderer kennen sich untereinander, allein Anton Hardt weiß von rund zwanzig anderen.

Hardt schoss mit 15 seinen ersten Bock. Heute, rund zwanzig Jahre später, sieht sein Haus aus wie ein Jagdmuseum: kapitale Hirschgeweihe im Flur, reihenweise Gämsengeweihe an den Wohnzimmerwänden, in den Ecken ausgestopfte Tierschädel, dazwischen ein paar präparierte Vögel, Marder und anderes. Offiziell hat er das alles vom Flohmarkt, Hardt besitzt keinen Jagdschein, nicht einmal einen Waffenschein. »Manchmal findet man auch was im Wald«, sagt er, schaut unschuldig und hebt die Schultern. In seinem Garten zieht er einen Rehbock, der erst ein paar Wochen alt ist, mit der Flasche groß. Mit Bio-Ziegenmilch. »Die Mutter ist überfahren worden«, sagt Hardt. Um Ausreden darf ein Wilderer nie verlegen sein. Er braucht sie ständig, für die Jäger, die Richter, die Polizisten und manchmal sogar für die eigene Frau. Die hat jedes Mal, wenn er das Abenteuer sucht, Angst, dass die Polizei ihn zurückbringt. Es geht auch um ihre Zukunft und die der drei Kinder. »Leicht ist es nicht für meine Frau, aber das hat sie vorher gewusst. Da wird sie durchmüssen«, sagt er, aus seinen Lippen wird ein schmaler Strich. Seine Frau wartet oft auf ihn, vor allem wenn der Winter kommt oder wieder geht: »Einen Februar war ich fast jeden Tag draußen«, erzählt Hardt.

Ein paar Schlucke später entdeckt Hardt mit dem Fernglas ganz oben, am Gegenhang, ein Rudel Gämsen. 33 Stück zählt er, bis sie aus seinem Blickfeld verschwinden. »Wie viele Rucksäcke haben wir heut dabei?«, fragt er, lacht laut über seinen Witz und trinkt sein Weißbier aus. Dann steigt er den Berg hinauf, dorthin, wo er die Gämsen vermutet. Vorbei an einem dunklen Jeep der Jagdaufsicht. »Deswegen gehe ich am liebsten beim größten Sauwetter, wenn es richtig regnet oder schneit, dann sitzen die Jäger nämlich auf der Couch«, sagt Hardt. In unzähligen Heimatfilmen und Schundromanen treffen sich Jäger und Wilderer im Wald, und länger lebt meist der, der eher schießt.

Früher ging es wirklich derart dramatisch zu – allein zwischen 1822 und 1833 starben bei Schießereien 31 Wilderer und sechs Jäger –, aber heute kaum mehr. Anton Hardt schwört, er würde nie auf einen Jäger anlegen: »Der ist irgendwo auch ein Mensch, der hat Familie. Mensch und Viech, das steht in keinem Verhältnis.« Auch auf der anderen Seite wird deeskaliert: »Wenn ein Jäger einen Wilderer überrascht, hat er sich defensiv zu verhalten. Nie die Waffe erheben, lieber beobachten, notieren, anzeigen«, sagt Klaus Thiele, der als Forstamtsleiter in Marquartstein im Achental seinen Jägern diese Regeln einimpfte. Das Achental steht seit Jahrzehnten im Ruf, besonders viele Wilderer zu beherbergen.
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Als Thiele vor 18 Jahren seine Stelle antrat, nagelten Unbekannte dem Doktor der Forstwissenschaft ein frisch abgezogenes Gämsenfell an die Tür. Samt Kopf und ohne Geweih. Zur Begrüßung. Thiele ahnte schon bald, wer ihm den Gruß hinterlassen hatte und wer in seinem Gebiet ohne Berechtigung auf die Jagd ging. »Nur nützt das nichts, weil wir den Wilderer auf frischer Tat ertappen müssen«, sagt er. Solange das nicht gelingt, grüßt man sich im Wirtshaus, als wäre nichts.
Das Problem ist: Ein Jäger erwischt einen Wilderer nur durch Zufall – »Wenn du einen guten Hirsch beobachtest, und plötzlich fällt der tot um. Und dann kommt ein Wilderer aus dem Gebüsch gekrochen« – oder durch Hinweise aus der Bevölkerung. »Aber die Leute im Dorf tun den Teufel und melden einen Nachbarn als Wilderer«, sagt Thiele.

Ein Richter am Traunsteiner Landgericht beschwerte sich im vergangenen Jahr, bei Wildereidelikten sei die Mithilfe der Bevölkerung »ähnlich gering wie bei einer Wirtshausschlägerei«. »Viele wollen nichts sagen, und die anderen trauen sich einfach nicht«, sagt Thiele, »ein Haus ist schnell angezündet.« Einem Jagdpächter, der Klaus Thiele einen Verdächtigen gemeldet hatte, demolierten Unbekannte wenig später zwei Jägersitze und legten seinen Fischweiher trocken. Zweimal. Der Schaden: mehr als 5000 Euro. Er wird nie wieder etwas gegen einen Wilderer unternehmen, sagt der Jagdpächter am Telefon, und mehr sagt er auch nicht. So funktioniert das in einem kleinen Dorf. Der vermeintliche Wilderer behauptet, er habe weder gewildert noch mit den Racheakten etwas zu tun. Die Sache mit den toten Fischen findet er auch nicht in Ordnung. Sagt er. »Die Viecher können doch nichts dafür, dass ihr Besitzer eine solche Drecksau von Verräter ist.«

Wenn es eng wird für ihn, versteht ein Wilderer keinen Spaß mehr. Er setzt jedes Mal, wenn er auf die illegale Jagd geht, völlig ohne Not seine Existenz aufs Spiel. Erst recht, wenn er schon vorbestraft ist wie Anton Hardt. Dann drohen ihm bis zu fünf Jahre Gefängnis, und alles kann weg sein: die Familie, das Haus, der Job.

Kaum einer hat durch die Wilderei so viel verloren wie Jens Friese, den alle nur Jensei nennen. Friese, geboren auf Rügen, aufgewachsen in Bayern, hat 998 Gämsen geschossen in seinem Leben, und dabei wird es bleiben, er hat aufgehört. Sagt er. Wer seine alten Geschichten hören will, muss nur zu der Alm hinaufsteigen, wo der Jensei auf 1700 Meter bis in den Herbst hinein als Senner Kühe und Wanderer versorgt. Wie der Alm-Öhi selbst sitzt er dort oben auf seiner Bank, 66 Jahre, ein kleines, drahtiges Männlein, wettergegerbt und braun gebrannt, mit Trachtenhut und weißem Bart, vor sich ein Bier und zwischen den Fingern eine Ernte 23. Er nickt zur Begrüßung, und zeigt auf das Alpenpanorama: »Ist das nicht schön?« Er sagt: »Is dös ned schee?« Den Jensei muss man nicht lange bitten, er fängt gern an von früher zu erzählen. Sogar wenn, wie an diesem Nachmittag, ein hochrangiger Kriminalbeamter aus Düsseldorf mit am Tisch sitzt. »Aber der hat grad Urlaub«, sagt der Jensei und grinst verschmitzt, »und außerdem trinkt er meinen Schnaps. Ist das nicht schön?« – »Jawohl!«, kräht der Polizist, schon fröhlich vom Alkohol, »so ist es, Herr Wilderer!«

Der Jensei war nicht irgendein Wilderer, er war der »größte Wilddieb aller Zeiten«, so nannten ihn die Boulevardzeitungen Anfang der Achtzigerjahre. In den Gerichtssälen drängten sich die Zuschauer, in Reisebussen kamen sie, wenn der Jensei und seine Wildererkumpane aus Schleching im Achental wieder einmal angeklagt wurden. Weil die Leute zeigen wollten, dass wenigstens das Volk aufseiten der Wilderer war, wenn es schon das Recht nicht war. Immer wieder konnte der Jensei sich herauswinden, mit haarsträubenden Lügen. Im Gerichtssaal ging es zu wie im Komödien-stadl, die Zuschauer tobten und johlten, wenn der Jensei stur behauptete, jemand habe ihm die Gämsenköpfe in einer Plastiktüte an die Haustür gehängt, was könne er dafür?

Sein Mitangeklagter in diesem Verfahren, Felix Laubhuber, kurz: »Fex«, lang: »König der Wilderer«, kam mit der Ausrede davon, die Gämsenköpfe in seinem Haus stammten aus Neuseeland. Feixend verließen sie das Gericht, sie waren fast wie Popstars, hatten Fans, Verehrer und Nachahmer, die lauten Zeitungen schrieben hämisch, dass Wildern zum Volkssport werde.

Friese und Laubhuber hatten sich an das Wilderergebot gehalten: Nie die Waffe zu Hause aufbewahren. »Bei einer Hausdurchsuchung darf die Polizei viel finden: Fleisch, Geweihzeug und Felle. Das kann dir alles jemand geschenkt haben. Am besten einer, der schon tot ist. Aber eine Büchse, die wirst du nicht los. Die kost dich den Kopf«, sagt Jensei. Sieben gereinigte und geölte Gewehre samt Munition hat er noch in den Bergen versteckt. Hinter einem Wasserfall, unter einem Felsen oder in einem hohlen Baum, eingewickelt in einen Regenmantel oder eine alte Decke.

Wenn wieder einmal Polizisten sein Haus durchsuchten und seine Trophäen einpackten, war das für den Jensei kein Grund zum Aufhören. Im Gegenteil. »Dann waren überall weiße Flecken und leere Nägel an der Wand. Das schaut saublöd aus. Da haben neue Ge-weihe hinmüssen.« Oft kam er gerade noch so davon: Wenn sein Auto durchsucht wurde und die Polizisten die vier frischen Hirschschlegel in der Verkleidung nicht fanden. Wenn er im Wald an zwei Jägern vorbeimarschierte und am Rücken, im Rucksack, das noch warme Blut der geschossenen Gämse spürte. Wenn die Jäger auf ihn schossen, nicht nur einmal, und eine Kugel seinen Kopf bloß um Millimeter verfehlte. »Wir haben immer Glück gehabt. Immer. Da wirst du frech«, erzählt der Jensei. In den Wirtshäusern erzählten sie laut die besten Geschichten, und ob da ein Falscher zuhörte oder nicht, war ihnen egal. »Ein Wilderer, der heimlichtut, den versteh ich nicht. Wildern wird doch erst im Wirtshaus richtig schön, weil man was erzählen kann! Ein Jäger kann nur was erzählen, wenn ihm sein Dackel in die Schlucht fällt.«

Sie gingen mit Rucksäcken voll Gämsenfleisch zum Stammtisch und verteilten die Brocken. Oder sie setzten sich zu den Jägern dazu. Die Rucksäcke stellten sie unter den Tisch, »aber keiner wollt reinschauen. Die rechnen ja nicht damit, dass einer so unverschämt ist. Ist das nicht schön?« – »Jawohl!«, kräht der Polizist.
(Auf der nächsten Seite lesen Sie: Eine Flucht nach Kanada, eine Scheidung und 19 Monate im Untergrund)

Für den Jensei war der Spaß an einem Herbsttag im November 1984 vorbei. Ein paar Jäger erwischten ihn im Wald, und an diesem Tag wollten sie in seinen Rucksack schauen. Sie fanden blutiges Gämsenfleisch, einen Gämsenkopf und ein Gewehr. Die Nacht verbrachte der Jensei schon im Gefängnis, drei bis fünf Jahre würden folgen, erklärten ihm die Polizisten. Dann schickten sie ihn vorübergehend wieder nach Hause. Es bestand keine Fluchtgefahr, der Verdächtige Friese, Jens, hatte Arbeit, als Tierpräparator, eine Frau, ein Kind und ein Haus. Am nächsten Tag saß Jens Friese im Flugzeug nach Kanada.

Seine Frau sollte das Haus verkaufen und mit der Tochter nachkommen. Aber sie kam nicht. Sie reichte die Scheidung ein. Und weil der Jensei sich vor Gericht nicht verteidigen konnte – auf ihn lief ja der Haftbefehl –, verlor er alles, was er je besessen hatte. »Wegen einem Scheißgamsbock!«, flucht der Jensei. Nach einem Jahr bekam Jensei auch in Kanada Ärger wegen »illegal hunting« und flog zurück.

Hier versteckte er sich 19 Monate lang, schlief in Scheunen, in Almen, unter Brücken. »Ausgeschaut hab ich wie ein Urmensch und gestunken wie ein Esel.« Er stellte sich erst, als sein Anwalt dem Staatsanwalt abrang, dass sein Mandant Friese mit einer Geldstrafe davonkommt. »Einen Wilderer sperrt man auch nicht ein, der tut doch keinem Menschen was«, sagt der Jensei, und der Polizist auf Urlaub nickt traurig.

Die erste Spur der Gämsen findet Anton Hardt auf einem Geröllfeld irgendwo unterhalb des Wendelsteins, weitab der Wanderwege: frisch gerupftes Gras. »Die Viecher können hinter jeder Kuppe sein oder in der nächsten Schlucht«, flüstert Hardt, ehe er auf einer Wiese voller Disteln nach oben klettert, so steil, dass er jeden Schritt gezielt setzen muss und die Grashüpfer, die er aufschreckt, ihm direkt ins Gesicht springen.

Alle paar Schritte entdeckt er jetzt den Kot der Gämsen und platt gedrückte Stellen im Gras, wo sie gerastet haben. Bald sind die Kotkügelchen so frisch, dass sie in der Sonne glänzen. »Die sind nicht weit«, raunt Hardt. Dann bleibt er abrupt stehen und lauscht. Ganz in der Nähe rieseln Steine den Berg hinunter. Hardt grinst. Kletternde Gämsen treten oft Steinchen los, so verraten sie sich. Hardt bewegt sich jetzt wie in Zeitlupe, schon ein laut knackender Ast kann ein nahes Gämsenrudel vertreiben. Vom nächsten Kamm aus späht Hardt in eine kleine Schlucht. Dort, vielleicht vierzig Meter unter ihm, grasen die Gämsen. Das ganze Rudel. Langsam lässt Hardt seinen Rucksack zu Boden und legt sich ins Gras. Die Gämsen haben ihn wohl schon gerochen, der Wind weht in ihre Richtung und sie heben ab und zu den Kopf und glotzen nach oben, zu ihm. Aber Gämsen sind neugierige und dumme Tiere, obendrein farbenblind, solange sich nichts bewegt und nichts Lärm macht, fliehen sie nicht und glotzen lieber.

Jetzt würde Anton Hardt, der Wilderer, sein Gewehr aus dem Rucksack ziehen, die Schulterstütze ausklappen, das Zielfernrohr aufsetzen, den Schalldämpfer aufschrauben und sich eine Gämse aussuchen. Und dann eine zweite. Vergessen wäre, dass er nach der letzten Verhandlung schweißnass aus dem Gerichtssaal kam, dass eine Menge auf dem Spiel steht und dass mittlerweile ein bisschen viele Menschen von seinem Hobby wissen.

Auf Jenseis Alm ist es spät geworden, er hat viele alte Geschichten zu erzählen, und er weiß, welche gut ankommen, er hat sie alle schon oft erzählt. Der betrunkene Polizist verabschiedet sich schweren Herzens. Der Jensei schüttelt den Kopf und murmelt sein »Ist das nicht schön« zum hundertsten Mal an diesem Tag. Dann bringt er einen Berg Fleischpflanzerl und Kartoffelsalat. Eins will er noch loswerden, er beugt sich weit vor dafür, holt tief Luft. »Du musst schon Schneid haben, Mut, das ist einfach so. Ein Lallepop, ein Weichlapp, der traut sich nicht. Und gut beieinander musst sein und stundenlang gehen können. Warten musst können. Frieren im Winter und schwitzen im Sommer. Die Natur musst kennen, in- und auswendig. Und wenn’s dann so weit ist, darfst kein Zitterer kriegen beim Schuss. Und auch nicht, wenn dich mitten in der Nacht die Polizei weckt.«

Dann lehnt er sich zurück. Für ihn ist das alles vorbei, er hat mit dem Wildern ja aufgehört. Andererseits: Wilderer bleibt Wilderer, das sagt auch der Jensei. »Aber ich hab lang schon nichts mehr ge-schossen«, sagt er, »mindestens sieben Jahre schon nicht mehr.« Sieben Jahre, das ist die Verjährungsfrist für Wildereifälle.
Anton Hardt liegt mit dem Fernglas wie versteinert im Gras und sieht den Gämsen dabei zu, wie sie langsam weiterziehen. Auf dem Rückweg verabschiedet er sich bald. Er will noch nicht ins Tal, er will noch ein, zwei Weißbier trinken an der nächsten Alm, wo doch Sonntag ist. Sein Gewehr hat er ja gar nicht dabei. Sagt er.