Sumpf ist Trumpf

Kein Supermarkt, keine Dusche, keine Menschen - unser Autor wollte einmal im Leben dahin, wo nichts mehr an die Zivilisation erinnert. Es wurden sieben Lektionen in Demut.



TAG 1: ÜBERLEBEN

Es gibt zwei Typen von Urlaubern: Die einen wollen sich erholen, die anderen packen sich 23 Kilogramm in den Wanderrucksack.

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Jan und ich gehen noch einmal die Liste durch: Zelt, Kompass, Desinfektionsspray, 2,5 Kilo Reis, biologisch abbaubares Shampoo, zwei Angeln, zwei Klappmesser, drei Päckchen Tabak und so weiter. Wir fühlen uns gut ausgerüstet und schwitzen leicht, weil die schwarzen Thermo-Unterhemden, die wir tragen, tatsächlich sehr warm halten. Vor uns führt ein Trampelpfad in einen lichten Kiefernwald hinein, der Boden ist von Blaubeerbüschen überwuchert, der Himmel über uns leuchtet hellblau wie ein Wick-Bonbon. Es ist Mitte August, 22 Grad, kein Windhauch, alles sieht recht friedlich aus.

Die Frau vom Informationszentrum des Nationalparks hatte uns vorhin noch gewarnt: Mehr Braunbären als sonst würden durch die lappischen Wälder streifen und seit 20 Jahren sei dies das schlimmste Mückenjahr – »es ist die Hölle da draußen«; Jan und ich wuchten unsere Rucksäcke auf die Schultern und laufen in unseren frisch eingefetteten Lederstiefeln los. 120 Kilometer liegen vor uns, sieben Tage haben wir dafür Zeit.

Was die meisten Leute über Lappland, den nördlichsten Teil von Finnland, wissen: Sehr wenig Menschen leben hier (2,1 pro Quadratkilometer), dafür umso mehr Rentiere (insgesamt etwa 200 000). Im Winter sieht man das Nordlicht, im Sommer sehr viele Mücken. Es gibt so eine Art Ureinwohner, die Samen. Und der Weihnachtsmann kommt von hier. Jan und ich haben uns Lappland immer als die große Wildnis vorgestellt, eine Art europäisches Alaska, das wir aus Western-Filmen kannten. Jan ist mein ältester Freund, als Kinder sind wir gemeinsam mit unseren Eltern in den Sommerferien nach Schweden gefahren: angeln, Pilze sammeln, im Wald rumlaufen. In den rotweißen Ferienhäusern hingen oft Landkarten von Skandinavien an der Wand. Dort, wo wir waren, in Südschweden, waren noch Straßen und Städte eingezeichnet, der Norden oben, Lappland, war ein großer grüner Fleck. Dort musste es noch sehr viel aufregender sein. Dort wollten wir irgendwann unbedingt mal hin.

Jan und ich sind jetzt beide 32. Wir leben in Berlin, wo wir selbst nachts um fünf an jeder Ecke noch Döner oder Gummibärchen kaufen können. Auch von diesem Überfluss wollen wir sieben Tage Urlaub nehmen. Uns in Flüssen waschen. Keine Menschen treffen. Etwas Unberührtes entdecken.

Der Trampelpfad führt uns einen ersten Berg hinauf. Die Kiefern werden kleiner und verschwinden dann ganz, statt mit Blaubeeren ist der Boden des Pallas-Yllästunturi-Nationalparks nun mit federndem Moos überzogen.

Was wir über Lappland wissen: dass die Baumgrenze hier oben im Norden schon bei etwa 400 Höhenmetern liegt; dass es im August Schnee geben kann; dass einen nicht nur Stechmücken nerven, sondern auch sogenannte Mäkärät, Kriebelmücken. Rundliche, fruchtfliegenartige Biester, die einem ein kleines Stück Haut abbeißen, um das Blut, das sich in der Wunde sammelt, dann aufzusaugen. Wir haben uns extra das rote Anti-Mäkärät-Spray von Off! gekauft, den härtesten Stoff, den wir in Finnland finden konnten. Aber noch lassen uns die Insekten in Ruhe.

Nach einer Stunde treffen wir ein Seniorenpärchen, was mir ein bisschen schlechte Laune macht, weil wir ja eigentlich keinem Menschen begegnen wollten und weil ich Angst habe, dass der Wanderweg, den wir uns herausgesucht haben, zu einfach, zu wenig anstrengend ist. Ich neige dazu, aus allem einen Wettkampf zu machen. Jan weiß das und auch, wie oft ich mich selbst überschätze. Er meint nachsichtig: »Die hängen wir schon ab.«

Nach vier Stunden finden wir den ersten Pilz fürs Abendessen. Weißer Stiel, rotbraune Kappe, ein Birkenpilz. Die heißen so, weil sie in der Nähe von Birken wachsen. Jans Vater Helmut hat uns damals in Schweden beigebracht: Pilze mit Lamellen unter dem Hut stehen lassen, Pilze mit einer Art Schwamm unter dem Hut mitnehmen. Die sind entweder lecker (wie der Steinpilz und der Birkenpilz) oder schmecken scheußlich (wie der Gallenröhrling), aber sterben kann man davon nicht.

Nach sechs Stunden bauen wir am Ufer eines Flusses unser Zelt auf. Das Wasser rauscht über die Steine im Flussbett direkt in unsere Trinkflaschen hinein. Kalt und klar und rein. Wir haben alles, was wir brauchen, und entscheiden uns, erst einmal angeln zu gehen. Die Bilanz nach zwei Stunden: kein Fisch, aber Jan, der seine Hosenbeine hochgekrempelt hatte, zählt 86 Mückenstiche allein an der linken Wade.

TAG 2: GEGEN MÜCKEN WEHREN

Es soll Finnen geben, die Anfang Juni, wenn die Mücken gerade geschlüpft sind, mit nacktem Oberkörper in den Wald spazieren, um sich stechen zu lassen, 300, 400 Mal. Dann seien sie immun gegen das Jucken und hätten für den Rest des Sommers Ruhe.

Ich wickle mir zum Frühstück einen Schal ums Gesicht, dass nur noch Augen und Mund frei sind, weil ich das Summen am Ohr nicht mehr ertragen kann. Der sicherste Trick gegen die Viecher: in Bewegung bleiben, aber sobald wir eine Pause machen, um auf die Karte zu schauen, zu essen, zu pinkeln oder wie an diesem herrlich sonnigen Morgen Instant-Kaffee in heißem Wasser aufzulösen, haben sie uns. Die Stechmücken, die sich eigentlich von Nektar ernähren, und Blut nur brauchen, um ihre Eier zu produzieren, kommen mit ihrem Rüssel problemlos durch unsere Thermounterhemden; die Mäkärä, die vom Kohlendioxid im menschlichen Atem angelockt werden, schwirren uns so nah vorm Gesicht, dass wir jeden Tag ein paar verschlucken.

Feuer hilft ein wenig, die Hitze, der Rauch. Aber Feuer bedeutet auch: Holz sammeln (und trockenes finden), Steine sammeln (um damit einen Kreis zu legen, als Brandschutz). Für kurze Pausen eignet sich das nicht, also zünden wir uns eine Zigarette nach der nächsten an. Das rote Off-Spray wirkt zwar, aber wir bekommen auch ungesund aussehende Flecken davon.

Am zweiten Abend spitzt sich die Situation zu: Der Platz für die Nacht liegt in einem Sumpfgebiet, die Mäkärät fliegen uns in die Ohren und die Hosenbeine hoch. Fürs Abendessen verschanzen wir uns in einer kleinen Blockhütte, die für Wanderer offen steht. Wir haben keinen Bach gefunden, um fließendes, sauberes Trinkwasser zu schöpfen, sondern nur einen kleinen, braunen See, also feuern wir den Hüttenofen an, um das Wasser darauf abzukochen. Nach kurzer Zeit hat es in der Hütte 60 Grad. Draußen die Mücken, drinnen Sauna. Wir ziehen uns bis auf die Boxershorts aus und legen uns auf den Boden, wo es am kältesten ist, weil die heiße Luft nach oben steigt.

Ein paar Dutzend Mäkärät sind uns in die Hütte gefolgt, aber auch ihnen macht die Hitze zu schaffen. Sie sammeln sich am Fenster und ertrinken im Kondenswasser, das sich an der Scheibe gebildet hat.


Wie man einen Hecht fängt

TAG 3: SICH KEINE WUNDE LAUFEN

Jan reibt sich jeden Morgen die Füße mit Hirschtalg ein, einer vaselineähnlichen Schmierschicht. Ich habe gedacht, das brauche ich nicht, und nun ist an meiner rechten Ferse ein pfennigstückgroßes Loch in der Haut. Die ersten zwei Stunden jeder Tagesetappe blockiert der Schmerz sämtliche Gedanken. Wandern soll ja eigentlich den Kopf frei machen, meiner ist verstopft.

In der Nacht gibt es Frost. Ich wache frierend in meinem Schlafsack im Zelt auf und ziehe mir eine lange Unterhose, eine Jogginghose, Wollsocken und zwei Pullis an. Auch unsere Stimmung ist knapp unter null. Wir entscheiden uns, am nächsten Tag eine Pause einzulegen, in der Nähe ist ein kleines Dorf an einem See, dort wollen wir uns ausruhen und angeln gehen. Die Natur hat uns kleingekriegt.

TAG 4: WIE MAN EINEN HECHT FÄNGT

Mit einem Wobbler zum Beispiel. Das ist ein künstlicher Köder, der unter Wasser einen verletzten Fisch imitiert. Jan und ich haben uns im Dorf ein Ruderboot geliehen, nun treiben wir vor einer Insel und werfen unsere Wobbler vor das Schilf, das im Uferwasser wächst. Hechte sind Räuber, die ihrer Beute auflauern, sie verstecken sich zwischen Wasserpflanzen. In den acht Stunden, die wir unterwegs sind, beißt einer an. 35 Zentimeter, ein Mini-Hecht. Aber als abends die Sonne im See versinkt, nicht kitschig-rot wie in der Großstadt, wo Rußpartikelchen das Licht färben, sondern gleißend gelb, ist uns das auch egal. Wir lehnen uns zurück und atmen die sauberste Luft Europas.

TAG 5: LECKER KOCHEN

Die meiste Zeit wandern wir nun oberhalb der Baumgrenze und kommen viel zügiger voran als die ersten Tage im Wald, wo der Pfad oft im Zickzack verlief und wir über umgestürzte Bäume klettern mussten. Die Landschaft hier oben erinnert an die rauen Hochebenen in der Herr der Ringe-Trilogie. Über die Granitfelsen wachsen mintgrüne Flechten wie Schimmel auf einem Brot. Flechten sind symbiotische Lebensgemeinschaften zwischen einem Pilz und einer Grünalge. Die Algen kümmern sich um die Energieversorgung (Fotosynthese), der Pilz dient als Speicher und schützt vor Austrocknung. Nur in Gemeinschaft können beide in dieser kargen Umwelt überleben. Jan und ich haben unsere Arbeitsteilung auch perfektioniert. Morgens mache ich auf dem Gaskocher Wasser heiß, um darin Trockenmilchpulver für unser Müsli aufzulösen. Jan pflückt in der Zeit Blaubeeren, die sind hier viel kleiner und schmecken intensiver als zu Hause aus dem Supermarkt. Abends kümmert Jan sich um das Lagerfeuer, während ich Reis koche und dazu Pilze, getrocknete Tomaten und Nüsse brate. Am besten schmeckt diese Mischung abgelöscht mit »Holy Basil Seasoning Paste«, einer dunklen Sauce aus dem Asia-Markt, aber auch Thai-Curry-Paste mit Trockenmilchpulver und Wasser ist okay.

TAG 6 UND 7: FRIEDEN SCHLIESSEN

Am Ende müssen wir noch einmal hoch, auf den Pyhäkero, den mit 711 Metern höchsten Berg auf unserer Tour, aber nicht nur die Rucksäcke sind nun viel leichter. Wir fühlen uns befreit, von unseren Zielen, unseren Ansprüchen, und den Mücken, die hier oben vom Wind weggeblasen werden.

Wir haben nicht jede Nacht gezeltet, sondern auch mal in einer Hütte geschlafen. Wir haben keinen Bären getroffen, aber eine fünfköpfige Bibelgruppe. Und trotzdem haben wir das schöne Gefühl: Das war krass. Mindestens so krass, wie wir es uns als Kinder vorgestellt haben.

Ich schaue auf den Pfad zurück, den wir gekommen sind, und dann an meiner schwarzen Trekkinghose herunter, an der Rotz, Schweiß, Erde, Blaubeersaft und Fischschleim kleben, und bin glücklich.

ANREISE
Mit Finnair nach Kittilä. Startpunkt der Wanderung ist das Kellokas Visitor Centre (Tel. 00358/205 64 70 39), Endpunkt das 120 Kilometer nördlich gelegene Städtchen Hetta. Mehr unter www.outdoors.fi/pallas-yllastunturinp

ANGELN
Wer es mal ausprobieren will: Anne und Hannu, ein nettes finnisches Ehepaar, bieten ganz in der Nähe des Nationalparks geführte Angel- und Kanutouren und Wanderungen an; www.felltrek.fi

Illustration: Daniel Egnéus