»Wir steuern auf eine Katastrophe zu«

Ständig ist die Rede davon: Alles und jeder soll transparent sein, Gedanken, Steuersysteme, Politiker. Der Philosoph Byung-Chul Han hält diese Entwicklung für hochgefährlich: Denn wenn wir nur noch auf Durchschaubarkeit setzen, vertrauen wir einander gar nicht mehr.

SZ-Magazin: Herr Han, egal an welchem Tag man die Zeitung aufschlägt, alle fordern mehr Transparenz: Die Piraten sowieso, aber auch die Katholiken, die Arbeitnehmer, die Verbraucher, die Politiker Seehofer, Trittin und Altmaier. Die Grünen loben sich selbst für ihre transparente Urwahl, sogar die Mitglieder des SV Babelsberg fordern mehr Transparenz in ihrem Verein. Warum ist das so?
Byung-Chul Han: Sie haben recht, die Forderung nach Transparenz nimmt inzwischen totalitäre Züge an. Das beunruhigt mich sehr.

Aber Transparenz sorgt für Informationsfreiheit, das kann doch wirklich nicht schlecht sein?
So lautet die allgemeine Rechtfertigung, aber ich denke, dass es eine tiefer liegende Ursache für die zunehmende Forderung nach Transparenz gibt. Um sie zu begreifen, müssen wir auf einer philosophischen, nicht auf einer Talkshow-Ebene darüber sprechen.

Einverstanden. Sie behaupten also, Transparenz sei schlecht.
Das habe ich nicht gesagt.

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Sondern?
»Transparent machen« – das klingt, als würde man gnadenlos durch- und ausgeleuchtet wie in einem Nacktscanner. Mich interessiert die Dimension der Gewalt, die dem Phänomen der Transparenz innewohnt.

Aber dass Transparenz Machtmissbrauch, Vetternwirtschaft und Korruption verhindern kann, glauben Sie auch?
Das bestreite ich nicht, aber die Forderung nach Transparenz richtet sich inzwischen gegen jede Form der Macht. Und man darf Macht nicht auf die Möglichkeit des Missbrauchs reduzieren. Macht an sich ist nichts Schlechtes. Für politisches Handeln ist sie sogar elementar. Vergessen Sie niemals: Ohne Macht ist Politik nicht möglich. Und dieser Transparenzterror verdeutlicht, dass nicht irgendeine Koalition, sondern die Politik selbst in einer tiefen Krise steckt.

Worin besteht diese Krise?
Politiker werden nicht mehr aufgrund ihrer politischen Handlungen wahrgenommen. Denken Sie an Karl-Theodor zu Guttenberg oder Peer Steinbrück. Der eine musste sich nur noch mit seiner Doktorarbeit, der andere mit seinen Nebeneinkünften auseinandersetzen. Ich glaube nicht, dass sich die Wähler früher dafür interessiert hätten, ob Adenauer seine Frau betrügt oder zu viel Geld für einen Vortrag verlangt. Die Menschen hatten Respekt vor ihrem Kanzler. Was er in seinem Privatleben gemacht hat, fiel nicht ins Gewicht. Es gab ein Verständnis für Rollen und Rituale. Wer man wirklich ist, hat damals nicht interessiert. Heute gilt ein Politiker nur als authentisch, wenn er sein Privatgefühl zeigt. Wir leben im Terror der Intimität und Enthüllung.

Dann darf ein Politiker also machen, was er will, solange er politisch clever handelt?
Ich sage das ohne Bewertung. Ich behaupte nur, dass der Transparenzwahn die Demokratie nicht fördert, sondern gefährdet, und dass uns Werte wie Vertrauen und Respekt verloren gegangen sind.

Ist Macht auch ein Wert?

Macht ist ein wichtiges Medium in der Politik. Für politisches Handeln ist eine gewisse Informationsmacht notwendig, eine Souveränität über die Produktion und Verteilung von Information. Es gehört auch zur Politik, dass bestimmte Informationen zurückgehalten werden müssen. Politik ohne Geheimnis – das geht nicht. Politik ist strategisches Handeln, ein Spiel mit der Macht. Ein transparentes Spiel gibt es aber nicht.

Christian Wulff und Peer Steinbrück haben versucht, Vertrauen zurückzugewinnen, indem sie ihre Privatgeschäfte offenlegen. Kann das funktionieren?
Nein. Es ist das Wesen von Vertrauen, dass es keiner Beweise bedarf. Und es ist
lächerlich, wenn ein Politiker seine Kontoauszüge offenlegt.

Warum?
Weil er sich in eine tödliche Logik begibt. Das Verlangen nach Transparenz wird nur dort laut, wo Vertrauen schwindet. Wir erleben gerade, dass die Gesellschaft des Vertrauens vorbei ist. Stattdessen setzen wir auf Transparenz, mit der Folge, dass wir uns immer weiter von einer Gesellschaft des Vertrauens wegbewegen, weil Transparenz immer noch mehr Transparenz und Kontrolle notwendig macht. Gehen Sie mal auf die Website der Schufa: »Wir schaffen Vertrauen« steht da. Das ist reiner Zynismus. Die Schufa schafft kein Vertrauen, sie zerstört Vertrauen, indem sie auf totale Kontrolle setzt.

Peer Steinbrück wurde heftig angegriffen für seinen Satz: »Transparenz gibt es nur in Diktaturen.«
Dabei hatte er recht. Totale Transparenz ist nur durch totale Kontrolle möglich, und die gibt es nur in einer Diktatur. Es gehört zur Demokratie, dass die Menschen nicht alles wissen können. In der Demokratie gibt es Räume, die man nicht durchleuchten darf. »Neues Wort für Gleichschaltung: Transparenz«, hat der Journalist Ulrich Schacht geschrieben, der 1973 in der DDR wegen »staatsfeindlicher Hetze« zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Erst jetzt verstehen wir, was er gemeint hat. Es gibt eben nicht nur Schwarmintelligenz, sondern auch Schwarmdummheit und Schwarmdiktatur.

Heute bewerfen die Wähler die Politiker mit Shitstorms.

»Wir sind erschöpft von uns selbst« - in der Transparenzgesellschaft werden alle so geglättet und gleichförmig, dass wir uns nur noch selbst begegnen.

Demnach wäre die Piratenpartei ein Widerspruch in sich.
Sie versinkt nach anfänglichen Erfolgen ja auch gerade in einem Chaos aus Stimmen und Meinungen. Alle dürfen mitreden, alle wissen alles, die Piraten können keinen politischen Willen artikulieren und sind handlungsunfähig. Im Übrigen spielt die Piratin Marina Weisband gerne das blutrünstige Rollenspiel Vampire Live. Dort habe sie nicht nur ihren Verlobten, sondern auch die Politik kennengelernt, die darin bestehe, Intrigen zu spinnen und geheime Verabredungen zu treffen. Ausgerechnet die Piratin, die für Transparenz eintritt, sagt das ganz offen.

Sie ist als politische Geschäftsführerin der Piraten ja mittlerweile ausgestiegen.
Ja, weil sie vielleicht festgestellt hat, dass Politik mehr als ein harmloses Rollenspiel ist. Auch der Berliner Pirat Christoph Lauer hat zugegeben: »Transparenz ist ein Kampfmittel, andere Meinungen niederzudrücken.« Die totale Abschaffung der Führung und Hierarchie ist problematisch, weil sie so viel Lärm erzeugt, dass eine Partei darin ertrinken kann.

Das müssen Sie genauer erklären.

Wenn ein Politiker Charisma hat, kann er seine Meinung, seine Ansicht, seinen Willen ohne großen Widerstand durchsetzen. Die Menschen verinnerlichen, was er sagt, weil sie Respekt vor ihm haben. Das ist Macht. Diesen Politiker gibt es nicht mehr. Heute bewerfen die Wähler die Politiker mit Shitstorms. Das lähmt und erschwert das politische Handeln. Ironischerweise ist also gerade die Transparenzgesellschaft sehr undurchsichtig, weil sie viel zu verworren und lärmend ist. Der Staatsrechtler Carl Schmitt sagt: »Souverän ist derjenige, der über den Ausnahmezustand verfügt.« Souverän ist also derjenige, der eine absolute Stille erzeugen kann.

Man könnte Ihre Beweisführung auch als Plädoyer für autoritäre Regime verstehen. In China und Russland funktioniert die Einbahnstraßenkommunikation ganz gut.
Noch einmal. Ein Politiker, der Macht und eine Vision hat, kann eine Gesellschaft auch wunderbar gestalten.

Wer könnte das sein, Barack Obama?
Ich weiß nicht, ob der überhaupt Macht hat.

Also doch Putin oder Kim Jong Un aus Nordkorea.
Erst recht nicht. Ein Tyrann hat keine Macht. Es ist umgekehrt. Weil man keine Macht hat, wird man zum Tyrannen. Wer mächtig ist, braucht keine Gewalt anzuwenden. Wer mächtig ist, stößt nicht auf Widerstände.

Wael Ghonim, Marketingexperte bei Google, gab den Slogan aus: »Um eine Gesellschaft zu befreien, braucht man ihr nur Zugang zum Internet zu geben.« Was sagen Sie dazu?
Denken Sie an China oder den Iran. Das Internet ist dort ein äußerst effizientes Medi-um der Kontrolle. Die digitale Vernetzung schafft ein digitales Panoptikum. Und das funktioniert perfekt, weil sich inzwischen jeder freiwillig entblößt. Ausleuchtung ist Ausbeutung – und beides lassen wir inzwischen bereitwillig zu, nein, wir wollen es selbst. Wir fühlen uns frei in der Ausbeutung. Das macht die Kontrollgesellschaft so effizient.

Sie spielen auf soziale Netzwerke an. Sind Sie bei Facebook?
Nein. Ich wüsste nicht, was ich da sollte, es ist total langweilig. Peter Handke schreibt: »Von dem, was die anderen nicht von mir wissen, lebe ich.« Er hat recht. Und die meiste Zeit rede ich sowieso mit mir selbst. Dafür brauche ich kein Facebook.

Eine Milliarde Menschen sehen die Notwendigkeit, bei Facebook zu sein. Warum?
Die Frage ist doch: Warum kommunizieren wir überhaupt? Der Kommunikationstheoretiker Vilém Flusser meint, dass wir kommunizieren, um dem Tod zu entkommen.

Demnach kommunizieren wir, um dem Leben einen Sinn zu verleihen.
Ja, aber die digitale Kommunikation ist nicht dafür geeignet, Sinn zu produzieren. Nur ein Dialog mit einem Du kann Sinn stiften. Ein Gebet wäre ein Dialog. Auf Facebook oder Twitter ist kein Dialog möglich, dazu gehört mehr als »Gefällt mir«. Aber die Kirchen leeren und Facebook füllt sich. Es ist eine neue Kirche entstanden, die aber keinen Sinn stiftet. Auf Facebook können wir dem Tod nicht entkommen. Und weil wir das spüren, kommunizieren wir immer mehr und immer schneller.

Aber ein Gespräch – und sei es nur auf Facebook – kann erheitern, nachdenklich machen, trösten.
Die Informationsmenge, die auf Facebook verhandelt wird, ist riesig, aber man erzeugt keine Intensität durch Quantität. Wir denken: Je mehr Nachrichten ich sende oder empfange, desto näher bin ich einem anderen Menschen.

Und das stimmt nicht?
Nein. Man kann einen nahen Menschen fassen oder an einen fernen Menschen denken, aber ihm eine SMS schreiben? Führt das wirklich zu Nähe? Das ist die Frage. Und ist es nicht eher andersrum: Gerade weil wir so viele Nachrichten senden, verlieren wir die Fähigkeit, einen nahen Menschen zu fassen und an einen fernen Menschen zu denken. Natürlich entsteht etwas, wenn ich mit jemandem intensiv Informationen austausche, aber ich würde es nicht Nähe nennen, eher Abstandslosigkeit.

Was ist der Unterschied?
Nähe ist eine dialektische Figur. Der Nähe ist immer eine Ferne eingeschrieben, und wenn man der Nähe die Ferne nimmt, verflacht sie zur Abstandslosigkeit. In einem Liebesgedicht von Paul Celan heißt es: »Du bist so nahe, als weiltest du nicht hier.« Es klingt paradox, aber es stimmt. Zwei Menschen können sich nur nah sein, wenn sie voneinander entfernt sind. Und die digitale Vernetzung hebt diese Dialektik auf. Sie zwängt alles ins Hier und Jetzt, mit der Folge, dass die Nähe verschwindet.

Um denken zu können, bedarf es einer Stille und Leere.

Glauben Sie, dass die digitale Vernetzung langfristig negative Auswirkungen auf die Psyche der Menschen haben wird?
Das kann man heute nicht sagen. Aber auffallend ist doch, dass wir so viel kommunizieren, dass es keine Pausen, kein Schweigen mehr gibt. Eine Lücke inmitten dieser Informationsfluten erscheint uns unerträglich, weil Pausen in unserer Informationsgesellschaft keine Rolle mehr spielen. Die Pause ist der Tod. Und deswegen schwätzen wir pausenlos und verlernen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Dabei können Auslassen und Vergessen sehr produktiv sein, ganz zu schweigen von der Intuition, die uns vor lauter Informationen abhanden kommt. Um denken zu können, bedarf es einer Stille und Leere.

Und die gibt es kaum mehr. Ja, wir erleben im Moment eine enorme Beschleunigung des Kreislaufs von Zeichen, Informationen und Kapital. Für diese Beschleunigung müssen alle Geheimnisse, Rückzugsräume, Einzigartigkeiten, Ecken und Kanten beseitigt werden. Nur in der Transparenzgesellschaft stößt der permanente Informations- und Warenfluss auf keinen Widerstand mehr. In der Transparenzgesellschaft ist alles nach außen gekehrt, enthüllt, entkleidet und exponiert. Wir stellen uns selbst aus für Aufmerksamkeit.

Was ist die Folge?
Wir unterstützen den Turbokapitalismus und die neoliberale Leistungsgesellschaft, indem wir alle zur Ware werden. Der einzige Wert, der noch existiert, ist der Ausstellungswert. Das ist eine dramatische Reduktion des Lebens und des Daseins.

Aber wir senden doch pausenlos Nachrichten, um zu zeigen, wie einzigartig wir sind. Ein Irrglaube. Facebook ist ein Ort der Glättung, wo alle deswegen gleichförmig sind, weil sie anders sein wollen. Jeder wird warenförmig gemacht, damit er sich ins System einfügen kann. Auf Facebook kann keiner mehr anders sein. Und das Zentrum der Gleichheit ist der »Gefällt mir«-Button. Warum gibt es keinen »Gefällt mir nicht«-Button? Ein Ratgeberbuch fürs Internet-Dating heißt: Millionen Frauen warten auf dich. Und was tun die Männer? Sie vergleichen. Trennen Sie das Wort mal:
Ver-gleichen, das heißt: Sie machen alles gleich. Wir leben in der Hölle des Gleichen,
in der erotische Erfahrungen nicht mehr möglich sind.

Weil wir zu narzisstisch sind? Ja, mein neues Buch handelt davon. Es heißt Agonie des Eros und beschreibt, dass wir depressiv werden, weil wir uns überall nur noch selbst begegnen. Wir sind erschöpft von uns selbst. Der Eros ist dagegen eine Erfahrung, dass man durch den anderen aus sich selbst herausgerissen wird. Es ist ein Kennzeichen der immer narzisstischer werdenden Gesellschaft, dass der andere verschwindet. Und mit ihm der Eros, also die Möglichkeit der Liebe.

Wo sehen Sie die Grenze dieser Entwicklung? Ich denke, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern.

Aber Antikapitalismus ist wieder chic, ökologisches Bewusstsein erst recht. Ist es nicht möglich, dass wir die Transparenz- und Wachstumslogik durchbrechen und das System reformieren, bevor es implodiert?
Egal wie weit man zurückdenkt, der Mensch lernt nur durch Katastrophen, nie durch Einsicht. In Europa gäbe es heute keinen Frieden ohne den Zweiten Weltkrieg. Arthur Schnitzler hat mal gesagt: »Die Menschen verhalten sich wie Bazillen. Sie wachsen und zerstören dabei den Raum, in dem sie leben, wodurch sie am Ende selbst zugrunde gehen.« Dieser Vergleich leuchtet mir ein. Wir gehen zugrunde, weil wir uns der höheren Ordnung nicht bewusst sind. Weil wir ständig wachsen, werden wir an diesem Wachstum zugrunde gehen.

Was könnte diese höhere Ordnung sein?
Das wüsste nur ein Wesen, das intelligenter wäre als wir.

Der Spiegel hat Sie mal »Philosoph der schlechten Laune« genannt. Jetzt wissen wir, warum.
Ich bin lieber ein Philosoph der schlechten Laune als der Philosoph der guten Laune. Ehrlich gesagt habe ich überhaupt keine Laune. Ich bin manchmal traurig, aber das ist was anderes. Denken ist immer eine Form des Widerstandes. Und ja, ich denke, um dem Tod zu entkommen und dem Leben zu dienen.

Byung-Chul Han
wurde 1959 in Südkoreageboren und lehrt heute als Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an derUniversität der Künste in Berlin. Bekannt wurde er durch seinen Bestseller »Die Müdigkeitsgesellschaft« (2010) über die zunehmende Kultur der Selbstausbeutung. In seinem Buch »Die Transparenzgesellschaft« (2012) beschreibt er, wie wir uns - unter dem Deckmantel von Demokratie und Informationsfreiheit - zu einer totalitären Kontrollgesellschaft entwickeln.

Fotos: Michael Wolf