»Jedes Schicksal ist besonders«

Zwei Dokumentarfilmer aus Berlin haben 30 Menschen in ihrer Nachbarschaft mehr als ein Vierteljahrhundert lang mit der Kamera begleitet. Ihre Filme zeigen: Nichts ist spannender, anrührender und abgründiger als das ganz normale Leben.


SZ-Magazin: Sie haben 30 Menschen aus Berlin-Wilmersdorf 26 Jahre lang mit der Kamera begleitet. Warum so lange?

Hans-Georg Ullrich: Weil es der Traum jedes Dokumentarfilmers ist. Wir hatten damals gerade den Grimme-Preis bekommen, als der WDR uns das Angebot machte: »Jungs, dreht, was euch interessiert. Wir senden es.«
Detlef Gumm: Heute wäre so was undenkbar. Viel zu teuer. Viel zu aufwändig. Wir haben unser halbes Leben mit diesem Projekt verbracht.

Das Langzeitfilmprojekt Berlin – Ecke Bundesplatz startete 1986, aber nicht jeder will jahrelang ein Kamerateam um sich haben. Wie haben Sie Ihre Protagonisten gefunden?
Gumm: Es gab kein Casting, wenn Sie das meinen. Wir haben ein paar Zeilen aufgesetzt, unsere Telefonnummer drunter geschrieben, die Zettel kopiert und in die Briefkästen der Nachbarschaft geworfen. Die Leute, die sich gemeldet haben, sind unsere Protagonisten geworden.
Ullrich: Da hat sich ganz automatisch ein gesellschaftlicher Querschnitt ergeben: der Kleinbürger, das schwule Pärchen, die türkische Familie, der reiche Jurist, die alleinerziehende Sozialhilfeempfängerin, es war alles dabei.

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Gibt es einen Menschen, der Sie besonders fasziniert hat?
Ullrich: Am Anfang denkt man, der ist spannend, der eher nicht, aber mit der Zeit merkt man, dass jedes Menschenleben gleich faszinierend ist, wenn man sich mit ihm auseinandersetzt. Natürlich finde ich die fleißige und liebe Bäckersfrau erst mal sympathisch und den Notar, der wegen irgendwelcher Finanzgeschichten in den Knast kommt, eher zwielichtig, aber beide sind gleich spannend.
Gumm: Und keiner ist nur gut und keiner nur böse, deswegen ja dieser enorme Zeitraum. Man versteht die Menschen besser, ihre Motive, Ängste, Wünsche und Defizite. Die Diskrepanz zwischen den Träumen der Menschen, wenn sie jung sind, und der Realität, das langsame Abschiednehmen von Plänen, das ist bewegend. Natürlich kann so ein Alltag auch gnadenlos langweilig sein, aber auf lange Sicht gibt es kein Schicksal, das einen nicht berührt.

Nennen Sie ein Beispiel.
Ullrich: Drüben im Park hauste sechs Jahre lang ein Penner namens Karl. Das war ein wahnsinnig liebenswerter Kerl, klug, sensibel, saß den ganzen Tag im Regenhäuschen und hat gelesen. Mit der Zeit haben wir uns angefreundet und ihm geholfen, wieder auf die Beine zu kommen. Kalle bekam eine kleine Wohnung vom Sozialamt, eine Nickelbrille, neue Zähne…
Gumm: … bis uns auffiel, dass wir ihn schon ein paar Tage nicht mehr gesehen hatten, was ungewöhnlich war, weil er jeden Tag bei uns im Büro vorbeikam.
Ullrich: Ich bin dann rüber, habe geklopft und gerufen, am Ende brachen zwei Feuerwehrmänner die Wohnungstür auf. Das Bild werde ich nie vergessen: wie der Kalle da tot im Sessel liegt, wo er doch gerade erst Fuß gefasst hatte.
Gumm: Bei solchen Szenen haben wir die Kamera abgestellt. Es gibt Regisseure, die würden so was nachstellen, aber das kam für uns nicht in Frage. Wir wussten, dass durch die vielen Jahre auf der Straße sein Herz kaputt war. »Wer gibt einem wie mir schon ein Ersatzherz?«, hat er immer gesagt.

Hat sich während der 26 Jahre Ihre Sicht auf Deutschland verändert?
Ullrich: Mir ist klar geworden, wie ungerecht es in unserem Land zugeht. Die Bäckersfrau Dahms zum Beispiel, deren Mann 2010 an Kehlkopfkrebs gestorben ist, hat den ganzen Kiez zwanzig Jahre lang mit wirklich guten Brötchen versorgt. Heute rennt sie zweimal pro Woche zur Gemeindetafel, um sich ihre Schrippen zu holen.
Gumm: Sie kriegt vielleicht 340 Euro Rente, während der Hausmeister von der Schule drüben, der sich nicht gerade krummgearbeitet hat, 1200 Euro bekommt.
Ullrich: Vor ein paar Tagen hat sie uns mal wieder besucht, weil sie irgendeine Telefonnummer gebraucht hat: »Oh«, hat sie gesagt, »das ist ja eine Handynummer, da kann ich leider nicht anrufen, dafür hab ich kein Geld.«
Gumm: Als ihr Mann noch lebte, haben die zwei mal eine Butterfahrt nach Dänemark mitgemacht und sich selbst eine Postkarte nach Hause geschrieben, weil sie auch mal Post aus dem Ausland bekommen wollten. Das ist so naiv und rührend, das kann einen gar nicht kaltlassen.
Ullrich: An diesem Bäcker Dahms erkennt man gut, wie ein einzelner Mensch fehlen kann. Der war nicht wichtig, kein Held, aber was hat dieser Mann für eine Rolle
gespielt mit seiner liebenswerten Art, wenn er abends in der Kneipe sein Bier getrunken hat. Er hat seine Frau und seine zwei Kinder durchgebracht und jedem zugehört, der war kein Gutmensch, sondern ein guter Mensch, und er fehlt, ganz eindeutig. Ich weiß noch, wie er eines Tages zu uns kam und sagte: »Wisst ihr was, ich fahre morgen nach Auschwitz. Ich war da noch nie und finde, da muss man mal gewesen sein.«
Gumm: Wir waren total baff. So was hatten wir von ihm nicht erwartet.
Ullrich:
Aber wir mussten natürlich mit, wir haben im Laufe der Jahre etliche Urlaube spontan über den Haufen geworfen, aber es hat sich gelohnt. Ich werde nie vergessen, wie dieser einfache, redliche Mann gemeinsam mit einer dänischen Schulklasse durch das Lager läuft, stumm und betroffen, ohne ein Wort zu sagen. Ich saß mit meiner Kamera in einer Zelle und filmte durchs Fenster nach draußen, als mein Assistent zu mir sagt: »Du, Georg, jetzt reden wir mal ein paar Minuten nicht, ich schäme mich.« Wir haben Herrn Dahms an diesem Tag keine Frage gestellt, der Film zeigt nur seine Sprachlosigkeit.

Warum haben Sie sich den Bundesplatz in Berlin-Wilmersdorf für Ihre Filme ausgesucht?
Ullrich: Weil es ein ganz normaler Platz ist, an dem ganz normale Leute wohnen. Und er ist nur 200 Meter von unserem Büro entfernt, das war logistisch wichtig. Diese Leute sind unsere Nachbarn, die kamen jeden Tag vorbei und haben uns aus ihrem Leben erzählt.
Gumm: Trotzdem hätten wir auch in Hannover oder Braunschweig drehen können.
Ullrich:
Aber nicht in Schwabing oder Kreuzberg, das sind Viertel mit einem zu starken Image. Der Bundesplatz ist bürgerlich, an vielen Ecken kleinbürgerlich, ganz normale Bundesrepublik. In den schickeren Wohnungen leben Ärzte und Rechtsanwälte, in den anderen der Taxifahrer, der Schweißer, die Bedienung. 100-Quadratmeter-Wohnungen kriegt man hier noch für 750 Euro warm.

Wie oft haben Sie Ihre Protagonisten getroffen?
Gumm: Pro Jahr haben wir sechs Monate ausschließlich an Berlin – Ecke Bundesplatz gearbeitet. Mit manchen haben wir ein paar Tage ganz intensiv gedreht, dann war wieder zwei Monate Funkstille und wir haben mit anderen weitergemacht, je nach Anlass und Lebenslage. Insgesamt haben wir sechzig Stunden Echtzeitfilm und Tausende Stunden Rohmaterial.
Ullrich: Lange Zeit waren wir die Einzigen, die in der Gegend ein Faxgerät hatten. Und viele sind regelmäßig zu uns ins Büro gekommen, um was zu verschicken. Und dann sind sie geblieben und haben uns erzählt, was in der nächsten Zeit so ansteht: eine
Geburt, eine Prüfung, eine Reise.


»Wir haben diesen Menschen sehr sorgfältig beim Leben zugesehen.«

Michael Creutz, der Schornsteinfeger.

Sie haben auch Reisen mitgemacht?
Ullrich: Aber ja, wir waren in Los Angeles, weil unser Schornsteinfeger Michael Creutz unbedingt in einem Hollywood-Film mitspielen wollte, wir waren in Tallin, in der Türkei, San Francisco, Auschwitz, Stockholm, Amsterdam. Wir haben diesen Menschen sehr sorgfältig beim Leben zugesehen.
Gumm: Und beim Sterben. Als unsere Wilmersdorfer Witwe Berta Tomaschefski mit 95 Jahren starb, wollten wir ihre Beerdigung drehen, das gehörte einfach dazu, aber ihre Enkelin meinte: »Wenn ihr die Beerdigung drehen wollt, müsst ihr sie auch bezahlen.«
Ullrich:
Haben wir dann gemacht, 3000 Mark. Wir wollten, dass Frau Tomaschefski einen anständigen Sarg bekommt. Das waren wir ihr schuldig, immerhin hatte sie uns mit 88 Jahren das erste Interview ihres Lebens gegeben. Trotzdem konnten wir nicht jedem Wunsch nachkommen. Reimar Lenz stand fünf Jahre lang jeden Morgen mit einem neuen Vorschlag bei uns. Einmal hatte er sich für den Christopher Street Day als Papst verkleidet, da haben wir gesagt: »Ach, Reimar, das muss doch nicht sein.«

Ändern sich Menschen?
Ullrich:
Nein – bis zu dem Tag, an dem sich ein Schicksalsschlag ereignet, ein Todesfall, eine Trennung, eine Kündigung. Dann verändert sich plötzlich alles.
Gumm: Man kann auch ziemlich sicher sein, dass die Kinder genauso werden, wie ihnen das von den Eltern vorgelebt wird.
Ullrich: Mit allen Vor- und Nachteilen. Denn wenn man sieht, wie talentierte Kinder nicht aus ihrem Milieu rauskommen, weil den ganzen Tag RTL 2 läuft und ihre Eltern kein Gefühl dafür haben, was in ihren Kindern steckt, da wird man schon traurig. Chancengleichheit gibt es nicht.
Gumm: Der Notar wurde 2001 zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, kam aber wegen Krankheit nach 14 Monaten U-Haft frei. Danach haben wir schon gemerkt, dass er sein Leben in Ordnung bringen will. Er war sogar beim Gefängnisseelsorger. Er ist der Einzige, mit dem wir uns bis heute siezen. Er lebt immer noch hier im Viertel, 300 Meter Luftlinie von unserem Büro. Der hatte damals das Bundesmandat für den Häftlingsfreikauf zwischen Ost und West, von dieser Rente lebt er heute.
Ullrich: Früher parkte der mit seinem Rolls-Royce immer in der zweiten Reihe, das hat die Leute hier schon aggressiv gemacht.
Gumm: Nach außen ist er vornehm und bewahrt immer Haltung. Aber als wir mit ihm in Amerika waren, um seine früheren Gasteltern zu besuchen, kamen wir auf seinen Vater zu sprechen. Ich werde nie vergessen, wie auf einmal sein Mund anfing zu vibrieren, und uns dieser reiche, akkurate Mann zum ersten Mal seine verletzliche Seite gezeigt hat.
Ullrich: Der ist eben nicht nur arrogant oder böse, der ist auch liebevoll und sensibel, man muss nur genauer hinsehen.
Gumm: Heute ist er geschieden und ziemlich einsam. Wir gehen davon aus, dass er nicht mit allzu vielen Menschen spricht. Wenn man viel über einen Menschen weiß, kann man ihm nur noch schwer böse sein.
Ullrich: Man kann davon ausgehen, dass in schwierigen Situationen, egal ob im Beruf oder in der Partnerschaft, die Einsamkeit bei vielen Menschen extrem ist. Viele kamen wesentlich öfter zu uns als notwendig, weil ihnen sonst keiner zugehört hat.
Gumm: Wir waren alles auf einmal: Tröster, Ratgeber, Psychotherapeuten, manchmal haben wir auch mit Geld geholfen.
Ullrich: Zum Beispiel Reimar Lenz, der seit mehr als dreißig Jahren mit seinem Freund Hans zusammen ist. Der Reimar hat früher eine Literaturzeitschrift herausgegeben und für die Satirezeitschrift Pardon geschrieben, das war ein richtiger Intellektueller. Den kannte in Berlin jeder, der war auf jedem Empfang und jeder Feier und bekam jeden Morgen einen Stapel Briefe von irgendwelchen älteren Damen. Und in dem Moment, wo er eine schwere Krankheit bekommt …
Gumm: … sind alle weg und er hat nur noch den Hans. Man kann schon sagen, diese beiden sind einsam. Das ist eine anonyme Einsamkeit, wie es sie nur in der Stadt gibt.

1989 hatten Sie Ihre Protagonisten schon drei Jahre lang begleitet. Wie hat der Mauerfall ihre Biografien beeinflusst?

Ullrich: Man konnte erkennen, wie das Weltgeschehen sich bis in die unwichtigsten Leben hinein auswirkt. Unser Notar fing sofort an, Geschäfte mit dem Osten zu machen und eröffnete ein Büro in Berlin-Mitte.
Gumm: Der Schornsteinfeger bekam einen Kehrbezirk im Osten und genoss es unglaublich, dass die Menschen ihn dort viel ehrfürchtiger behandelten. Er war zu einem Halbgott in Schwarz aufgestiegen, das hat ihm gefallen.

Berlin – Ecke Bundesplatz war anfangs auf fünf Jahre angelegt. Warum sind 26 daraus geworden?

Ullrich: Als Fritz Pleitgen WDR-Intendant wurde, ging es immer weiter. Der war ein Riesenfan von uns und hat kapiert, dass das Material immer spannender wird, je länger man an diesen Menschen dranbleibt.

Sie haben so viele Jahre in diese Menschenleben hineingeschaut und -gedacht. Was ist das Geheimnis von Zufriedenheit?
Ullrich: Ganz bestimmt nicht Geld.

Was dann?
Ullrich: Wenn man einen Inhalt, eine Leidenschaft hat. Wenn jemand Cello spielt oder was sammelt. Der Bäckermeister Dahms hat Uhren gesammelt, die falsch herum gehen, der hatte eine Riesenfreude an diesen Dingern. Mir kamen die Leute, die was auf die Beine gestellt haben, immer glücklicher oder zumindest ausgeglichener vor. Das können ganz banale Sachen sein: ein Straßenfest organisieren, ein paar Nachbarn zum Geburtstag einladen, eine Radtour an die Elbe machen.
Gumm: Skeptisch waren wir bei denen, die nach Kathmandu oder Südafrika geflogen sind, die wirkten immer getrieben.
Ullrich: Ich bin überzeugt davon, dass es die kleinen Dinge sind, die uns glücklich machen. Frau Dahms kauft sich heute noch jede Woche für 1,40 Euro einen Viererpack Eis bei Aldi. Den legt sie sich in die Tiefkühltruhe und hat an vier von sieben Abenden ihr Eis. »Das macht mich für ein paar Minuten glücklich«, sagt sie immer. Oder die Rehbeins, das ist eine ganz normale Familie. Er Zugabfertiger, sie Hausfrau, der Sohn ziemlich verhätschelt. Die sind nicht reich, die Frau hatte Brustkrebs und der Sohn kriegt keinen Job. Trotzdem sagt Vater Rehbein immer: »Ich weiß gar nicht, warum alle ständig jammern. Es geht uns doch gut.« Und die haben eine Rente von vielleicht 1200 Euro.
Gumm: Ganz anders der Schornsteinfeger. Der ist klassischer Mittelstand, eine Frau, zwei Kinder und ständig Angst, dass das Geld nicht reicht, obwohl er als Bezirksschornsteinfeger ordentlich verdient. Der hat sein Leben lang immer Grün gewählt, bei der letzten Wahl ist er auf CDU umgeschwenkt. Die Prioritäten ändern sich, wenn die Menschen älter werden. Das Sicherheits-bedürfnis wächst, man macht sich mehr Sorgen.


Gibt es echte Liebe?

Gerhard und Gerda Dahms vor ihrer Bäckerei.

Gibt es echte Liebe?
Gumm: Haben Sie den Film Liebe von Michael Haneke gesehen? So was gibt es schon, das gemeinsame Altwerden, das Zusammenhalten, aber die leidenschaftliche Liebe, die hört auf, bei allen.
Ullrich: Na ja, denk mal an die Köpckes. »Wir haben nur ein Ziel«, hat Frau Köpcke am Anfang zu mir gesagt, »dass mein Mann und ich uns ein bisschen Zweisamkeit erhalten.« Ich fand das damals ziemlich naiv. Und dann hat sie auch noch ihre Tanzkarriere für ihn aufgegeben.
Gumm: Und heute haben sie drei Kinder und haben es tatsächlich geschafft, immer noch verliebt zu wirken.
Ullrich: Das ist schon ein Arrangement, aber ein gutes, die werden sich nicht mehr trennen. Neulich kam Herr Köpcke ins Büro und meinte: »Natürlich ist es im Bett nicht mehr wie früher, aber wenn wir morgens aufwachen und uns in den Armen halten, gefällt mir das manchmal fast besser.«
Gumm: Wenn ein sechzigjähriger Mann so was sagt, kriegt man eine Gänsehaut. Denn eines haben wir gelernt: Alle Menschen sehnen sich nach Liebe, und zwar extrem.
Ullrich: Aber treu sein können die wenigsten. Mir fallen nicht viele ein, die es geschafft haben. Die haben uns ja alles erzählt, und wir mussten dichthalten, das konnte ganz schön belastend sein.

Was hat sich am Bundesplatz sonst noch verändert zwischen 1986 und 2012?
Gumm: Die Strecken sind weiter geworden. Die Wege der Menschen.
Ullrich: Als wir angefangen haben, war das hier ein richtiger Kiez, mit dem Metzger, dem Bäcker, dem Optiker, dem Apotheker. Diese Struktur ist zerbröckelt, viele Läden haben dichtgemacht, und die Menschen müssen in Einkaufszentren fahren.

Haben es die Schwulen und Türken, die Sie gefilmt haben, denn heute leichter als in den Achtzigern?
Gumm: Unser schwules Pärchen sicher, in Berlin allemal, da regt sich keiner mehr auf.
Ullrich:
Schwieriger haben es Menschen aus dem Ausland. Wenn ein Schwarzer oder ein Türke erfolgreich ist und durch seine Kleidung einen gewissen Lebensstandard repräsentieren kann, hat er kein Problem. Aber wehe, du siehst ärmlich aus, sprichst schlecht Deutsch oder hast keinen guten Job, dann werden alle Ressentiments hervorgeholt.

Auf der Berlinale haben Ihre vier neuesten und auch letzten Filme Weltpremiere. Nach 26 Jahren haben Sie das Projekt nun abgeschlossen. Warum?
Ullrich:
Ich bin siebzig.
Gumm: Und die meisten Geschichten sind auserzählt. Wenn jemand 75 oder 80 ist, passiert nicht mehr so viel. Jetzt könnte man nur noch von Krankheit und Tod erzählen.
Ullrich: Die ARD würde auch nicht weiter Geld für so was ausgeben. Es ist doch sowieso schon ein Wunder, dass wir das 26 Jahre lang machen konnten. Interessant wäre es jetzt, die Kinder und Enkel unserer Protagonisten zu begleiten. Der Sohn der türkischen Familie beginnt gerade eine Ausbildung als Kriminalbeamter, die Tochter war in New York, um Schauspielerin werden. Das muss man sich mal vorstellen. Ihre Großmutter wurde noch verheiratet und lernte erst spät lesen und schreiben.

Vermissen Sie die Leute?
Gumm: Noch nicht.
Ullrich: Sie bleiben uns ja erhalten. Das sind unsere Nachbarn. Und die, die schon tot sind, leben in ihren Sprüchen weiter. Wenn man bei der alten Frau Tomaschefski zum Essen eingeladen war, hat sie immer gesagt: »Kommt, sagt mir mal, dass es gut schmeckt!« Ich sage das heute noch zu meiner Frau. Ich denke auch noch oft an den Kalle. Es genügt, dass ich an einer Straßenecke vorbeikomme, wo ich ihn mal getroffen habe, schon ist er da.
Gumm: Reimar Lenz meinte: »Wenn ihr nicht mehr kommt, das halte ich nicht aus.« Das hat den Leuten schon gut getan, diese Aufmerksamkeit, das Interesse. Sieht man schon daran, dass alle gern von sich erzählt haben, aber von uns nie was wissen wollten.

Haben Sie ein schlechtes Gewissen, weil Sie diese Menschen nach so langer Zeit allein lassen?
Gumm: Nein, ich spüre eher eine leichte Traurigkeit.
Ullrich: Ein Gefühl des Abschieds, als ob man am Bahnhof steht und zusieht, wie der Zug rausfährt.

Glauben Sie, dass in dreißig Jahren noch jemand diese Filme anschauen wird?
Gumm: Ich bin sicher, dass diese Arbeit eine nachhaltige Wirkung haben wird. Das ist ein Sittenbild des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts.
Ullrich: Ein extrem sorgfältiger Fingerabdruck einer bestimmten Epoche. Wenn jemand in zehn Jahren wissen will, wie eine Bäckerei 1986 aussah, oder worüber man in einer Kleinfamilie 2001 gesprochen hat, dann kann er das alles hier nachschauen. Diese unglaubliche Stadt Berlin kurz vor, während und nach der Wende, die Biografien, die Träume, die geplatzt sind, in diesen Filmen wird das ganze Leben ausgebreitet.

Detlef Gumm
studierte Publizistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Mit dem Kameramann Hans-Georg Ullrich (links) gründete er 1975 die Filmfirma Känguruh. Die beiden haben an die 100 Dokumentarfilme gedreht und unter anderem den Grimme-Preis bekommen. Er ist 65 Jahre alt.

Hans-Georg Ullrich
besuchte die Fachschule für Fotografie und arbeitete als Kameramann und Regisseur beim Industriefilm. Seit mehr als 35 Jahren dreht er gemeinsam mit Detlef Gumm Dokumentarfilme, unter anderem das Langzeitprojekt »Berlin - Ecke Bundesplatz«. Er ist 70 Jahre alt.  

Der Film
»Berlin - Ecke Bundesplatz« ist ein in der deutschen Fernsehgeschichte einmaliges Projekt. Von 1986 bis 2012 begleiteten Ullrich und Gumm 30 Menschen aus Berlin-Wilmersdorf durch ihren Alltag. Am Samstag, dem 9. Februar, haben die vier letzten Filme Weltpremiere auf der Berlinale, ab dem 19. Februar sind sie bei 3sat, ab dem 23. Februar im WDR und ab dem 26. Februar im RBB zu sehen. Außerdem erscheint eine DVD-Gesamtausgabe.

Fotos: Felix Brüggemann c/o brigitta-horvat.com; Ingeborg Ullrich