Immer wieder

Unsere Autorin kam als Tochter einer jungen Mutter zur Welt. Dann wurde sie selbst sehr jung Mutter. Jetzt hat ihre Tochter ein Kind bekommen. Mit 19. Die Geschichte eines Familientraumas. 

Illustration: Alessandro Gottardo

Nüchtern betrachtet ist es zum Heulen. Meine Tochter, 19 Jahre alt, klug, schön, gerade das Abitur abgeschlossen mit dem Plan, Kunst zu studieren oder eine Ausbildung zur Polizistin zu machen oder Zollbeamtin zu werden oder Model, so genau wusste sie das nicht, auf jeden Fall aber mit mehr als genug Potenzial für alles, ist seit fünf Wochen erst mal Mutter. »Erst mal«, das heißt: fürs Erste. Hauptsächlich im Sinne von: vor allem anderen. »Erst mal«, wie lange das dauern wird, weiß meine Tochter nicht. Es übersteigt ihre 19-jährige Vorstellungskraft. Leider. Vielleicht ja auch: Gott sei Dank.

Denn sie hat noch kaum einen Schimmer, wie viel so ein Kind seine Mutter über die Jahre kostet. An Geld, Zeit. An Energie. Vor allem wenn der Vater, 18 Jahre, seine Zeit und ein für seine Verhältnisse geradezu überwältigendes Ausmaß an Energie früh, noch vor der Geburt des Kindes, in das Umgehen von Verantwortung investiert. Immerhin hat sie verstanden, dass es sie noch mehr Zeit, Geld und unsäglich viel mehr Energie kosten würde, an dem Mann festzuhalten. Darum zieht sie ihre Tochter ohne ihn groß.

Während ihre drei Jahre ältere Schwester auf Weltreise ist, während ihr 26-jähriger Bruder für sechs Monate Südamerika spart, während ihre Freunde in die Uni, ins Kino, in Diskotheken gehen, hat meine 19-Jährige ihre Zukunft, gesellschaftlich und beruflich, »erst mal« auf Eis gelegt. Kann kaum noch wohin, mit keinem mehr mit, ist festgenagelt daheim. Wenn sie das Ausmaß zuvor hätte überblicken können, wenn sie, sagen wir, einen Film über die ihr bevorstehenden zwanzig Jahre hätte sehen können, wäre sie dann schwanger geworden? Hätte sie nicht vielmehr alles daran gesetzt, eine so frühe Schwangerschaft in jedem Fall zu verhindern? Stellt man sich so vor. Sicher ist es nicht.

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Meine Tochter findet das alles nicht schlimm. Sagt: »Ist doch ein Kinderspiel!« Was Wunder, es sind ja auch gerade mal erst sechs Wochen. Wenn ich doch mal laut staune und frage, was es ihr möglich macht, so leger zu empfinden, dann sagt sie mit einer so rührenden wie idiotischen Überzeugung, wie sie wohl nur eine 19-Jährige haben kann: »Es fällt mir leicht, weil ich meine Tochter liebe.« Und ich denke: »Na, schönen Dank!« Denn ich liebe meine Tochter auch. Und ich liebe auch ihre Tochter, die meine Enkelin ist. Und doch denke ich, wenn ich meine junge Tochter mit ihrer Tochter sehe: »Es ist es zum Heulen.« Ich weiß, wovon ich rede.

Ich wurde erstmals Mutter mit 18. Eine Woche zuvor hatte ich geheiratet. Mit zwanzig bekam ich mein zweites Kind. Mit 22 war ich geschieden. Der Mann über alle Berge. Meine Mutter fand das sicher zum Heulen, auch wenn sie es so nicht sagte. Sie sagte: »Mein Gott, bist du doof!« Mit Ausrufezeichen. Das sagt die Richtige!, dachte ich. Auch mit Ausrufezeichen. Meine Mutter nämlich: gebar mich ebenfalls mit 19. Unverheiratet. Der Mann floh schon vor meiner Geburt. Es scheint unser Familientrauma zu sein: mit 18, spätestens 19 mehr oder weniger absichtlich schwanger werden. Von den erbärmlichsten, schnell über alle Berge verschwindenden Kerlen. Jetzt in der dritten Generation in Folge.

Wenn ich mir etwas für meine Töchter gewünscht hätte, dann, dass sie wenigstens diesen Teil meiner Biografie nicht wiederholen. Als meine Mutter mit mir schwanger war, hatte sie sich einen Jungen gewünscht. Einem Jungen, so ihre Rechnung, wäre es gar nicht möglich, diesen Teil ihrer Biografie zu wiederholen. In sich selbst, in ihre Fähigkeit, eine Wiederholung ihrer Geschichte zu verhindern, hatte sie offenbar wenig Vertrauen. Versucht hat sie es trotzdem, auf ihre Art. Sie fand früh einen anderen Mann, er heiratete sie, adoptierte mich. Vater, Mutter, Kind, Dreizimmer-Eigentumswohnung, sie hatte dann doch noch alles erreicht. Die Vergangenheit war Tabu. Nie und mit keinem Wort zu erwähnen. Dass ich mich in dem Arrangement nie zu Hause fühlte, verstanden wir alle drei nicht. Als ich 16 war, zog ich aus. Zu einem zehn Jahre älteren Mann, schön und brutal. Dass es zwei Jahre brauchte, bis ich schwanger wurde von ihm, lag nur daran, dass die Beziehung so oft zerbrach.

Meine eigenen Töchter, natürlich, würden das nicht noch einmal nachleben. Ich dachte, ich wusste, wie das zu verhindern sei. Nämlich: Ich würde alles besser machen als meine Mutter. Ich würde meinen Töchtern eine Heimat geben. Selbstbewusstsein. Ihnen gegenüber offen, ohne Weinerlichkeit, ohne Bitterkeit die eigenen Fehler bekennen. Und natürlich – über allem anderen – sie bedingungslos lieben. Warum reichte das wenigstens dieser von meinen Töchtern nicht? Oder habe ich in der Ausführung des Programms versagt?

In der Psychologie und Epigenetik gibt es den Begriff »Generationsübergreifendes Trauma«. Die Kinder und Kindeskinder durchleben und übertragen den Schrecken ihrer Eltern, Großeltern, ihrer Urgroßeltern. Wieder und wieder und wieder. Weil der Schrecken in seiner Ursprungsgeneration unbewältigt blieb. Mit Sicherheit übertragen sie ihn durch ihr fortgesetzt traumatisiertes Verhalten, möglicherweise auch durch entsprechend veränderte Gene. Gleichgültige, misshandelnde Männer und frühe Schwangerschaft nicht als freier, wenngleich blöder Wille, sondern als Teil der Erbmasse. Als ein Familien-Krebs der Gefühle. Ich las das, auf der Suche nach Antwort, und fühlte mich nicht erleichtert.

»Meine Mutter hatte mich bis zu der Stunde meiner Geburt geheim gehalten«

Mit 18 präsentierte meine Tochter diesen typischen Boyfriend, dessen Anziehungskraft vor allem darin besteht, dass nur die jeweilige Liebste in der Lage ist, seinen »guten Kern« zu erkennen. Ich hatte ein beklemmendes Erlebnis von Déjà-vu und war alarmiert. Ich sprach meine Tochter wiederholt auf Verhütung an. Ich sprach ohne Weinerlichkeit über meine Fehler. Sie verdrehte die Augen und stöhnte: »Mein Gott, ich bin 18. Und außerdem nicht so doof wie du!« Auf Letzteres hätte ich mich gern verlassen.

Irgendwann im Frühjahr wusste ich: Sie ist schwanger. Ohne dass ich es hätte wissen können. Ihr Bauch wurde dicker, wenn auch nicht so dick, dass ihre Schwangerschaft eindeutig gewesen wäre. Dass ich sie trotzdem früh fragte, Ende April, Anfang Mai, war eher meiner Angst zuzuschreiben als der Erkenntnis. Sie sagte: »Nein!« Ich dachte: »Gott sei Dank!« Und auch: »Du lügst!« Schwer zu sagen, welches Gefühl die Oberhand hatte. Ihr Bauch wurde dicker. Aber nicht annähernd so dick, dass ihr Schwangersein nicht länger zu verleugnen gewesen wäre. Sie trug weiter T-Shirts. Sie passte in ihre Jeans. Ich riss mich zusammen, nicht auf ihren Bauch zu starren. An manchen Tagen fand ich ihn zweifellos schwanger. An anderen glaubte ich mich paranoid. Im Juni sagte ich: »Du bist schwanger.« Sie sagte: »Nein!« Ich schlief jetzt schlecht.

Im Juli überraschte ihr Bruder sie nachts in der Küche, in Schlafanzughose und Träger-Top. Der Bruder sagte: »Kein Zweifel!« Er sagte es zu mir. Ich sprach mit einem befreundeten Psychologen. Spezialist im Umgang mit »schwierigen« Jugendlichen, was immer das heißen mag. »Was kann ich tun?« Der Spezialist sagte: »Nichts! Sie ist erwachsen. Du musst ihre Entscheidungen und Grenzen respektieren. Wenn sie ihre Schwangerschaft nicht bekennen will, darfst du nicht weiter mit Fragen in sie dringen.« Na, und außerdem, sagte er noch, du weißt ja nicht sicher, dass sie schwanger ist! Das ist es, was mich wahnsinnig macht, sagte ich: »Diese verflixte unausgesprochene Gewissheit.« Auch das unser Familientrauma, seit wie vielen Generationen?

Meine Tochter sah müde und müder aus. Wirkte leer. Eines Nachmittags im August, als sie mir überraschend im Träger-Top gegenüberstand, hielt ich meine Folgsamkeit nicht mehr aus: »Du bist schwanger!« Sie sagte: »Nein!« Ich pfiff auf den Spezialisten. »Liebe, wie lange willst du das Spiel noch spielen?« Sie ging schnellen Schritts aus dem Zimmer. Ich wartete zehn Minuten, bis ich meine Knie, Stimme und meine Absichten unter Kontrolle hatte. Ging dann mit erzwungener Ruhe hinter ihr her. »Können wir reden?« Ihre Abwehr war nur noch dürftig. Nicht mehr als das Überbleibsel einer fest einstudierten und über Monate, möglicherweise gegen den eigenen Willen, festgehaltenen Reaktion. Sie weinte stumm. Ich fragte nichts mehr. Alles, was ich noch hätte wissen wollen, war: Warum tat sie sich das an? Tage später, als wir zusammen im Auto fuhren, sagte ich: »Du musst doch fünf Monate durch die Hölle gegangen sein.« Sie brach in Tränen aus.

Meine Mutter hatte mich bis zu der Stunde meiner Geburt geheim gehalten. Das heißt: Alle wussten, dass sie schwanger war. Die Eltern, die Schwestern. Meine Mutter, auf ihr Schwangersein angesprochen, schwieg. Sagte nicht ja, nicht nein, sagte gar nichts. Das weiß ich nicht von ihr. Meine Tante hat es mir erzählt. Meine Mutter, deren fortgeschrittene Wehen eines Januarabends alle Fragen überflüssig und das Herbeiholen der Hebamme notwendig machten, schweigt weiter.

Ich hatte meiner Mutter gleich nach meinem Schwangerschaftstest von dem Ergebnis erzählt, am Telefon. Ich erzählte es mit einem Trotz, den ich nicht zu begründen weiß. Vielleicht war er nur Ausdruck der Einsicht, dass das, was ich hier tat, ein irreversibler Wahnsinn war. Ich war mit Absicht schwanger geworden. Warum? Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist: Ich hatte im Jahr davor die Schule abgeschlossen. Und keinen Begriff von Zukunft. Keine Ahnung, was tun, wohin jetzt gehen. Keine Vorstellung von meinen Talenten. Oder auch nur Wünschen. Ich fühlte mich im freien Fall. Ich suchte nach etwas, was ich greifen konnte. Ich muss geglaubt haben, ich hätte es gefunden.

Meine Mutter weinte. Ich bin nicht sicher, um wen von uns beiden. War ich damals ihre Absicht gewesen? War ich ein Versehen? Über nichts davon konnten wir oder können wir reden. »Sieh wenigstens zu, dass der Kerl dich heiratet!« Mehr hatte sie mir nicht zu sagen. Über Monate, immer wieder. Dass ich das schaffte, auf die letzte Minute, gegen meinen Willen, galt ihr, der schwanger Verlassenen, schon als Fortschritt. Ich wiederholte all diese Fehler – blödsinnig schwanger werden, heiraten – vier Jahre später mit einem zweiten Mann. Am Ende zog ich meine Kinder fast alleine groß. Meine Mutter, von mir nicht um Unterstützung gebeten, sagte: »Das hast du dir ganz allein eingebrockt, das löffelst du ganz allein aus!« Sollte mir recht sein.

Wie weit war meine Tochter, in welchem Monat? Sie hatte keine Ahnung. Ich schätzte sie auf die 24. Woche. »25.«, ertastete der befreundete Hausarzt. Der erste Ultraschall, zehn Tage später, zeigte: Sie war in der 30. Woche. Im siebten Monat! Warum, um alles in der Welt, hatte sie nichts gesagt? Sie sagt: aus Furcht. Aus Scham. Vor allem aber, weil sie gehofft hatte, wenn sie nichts sagt, ist es nicht wahr. Dann geht es von ganz allein wieder weg. Irgendwie. Meine Tochter hat einen IQ von 130. Was hilft der gegen die Idiotie oder auch einen Krebs der Gefühle?

Wir sprachen über Adoption, um auch diese Unmöglichkeit wenigstens einmal erwogen zu haben. Es ist einfach so: Der vernünftige Weg ist nicht für jeden der richtige. Was blieb mir mehr, als ihr zu raten: »Was immer du planst: Heirate ihn nicht! Zieh nicht mal mit ihm zusammen. Du brauchst deine Kraft für dein Kind.« Und das keinesfalls leichtfertig gemachte Angebot: »Ich bin für dich da.« Ich habe sechs Kinder weitestgehend allein großgezogen. Ich bin noch immer alleinverantwortlich für zwei, meine Tochter und ihr Kind nicht eingeschlossen, und das mindestens noch für sechs Jahre. Einer Freundin, die fragte: »Hättest du lieber, dass du noch einmal ein Kind bekommst oder eben jetzt deine Tochter?«, antwortete ich: »Weder noch.« Sie rief: »Armes Baby!« Als schließe das Bewusstsein für die Last der Verantwortung deren Übernahme und damit die Liebe aus.

Auch meine Kinder schimpften. Wie, fragten sie, solle ihre Schwester aus ihrem Fehler lernen, »wenn du ihr aus dem Mist, in den sie sich da reinmanövriert hat, wieder raushilfst!« Ich sagte: »Ich kann nur hoffen.« Sicher wusste ich eins: dass ich nicht auch noch diesen Part meiner mütterlichen Biografie nachleben wollte.

Meine Tochter ist jetzt selbst Mutter einer Tochter. Ohne Mann. »Alleinstehend« ist sie nicht. Vorsorge, Geburtsvorbereitung, Mutter- und Babyeinkäufe – wir rasten gemeinsam durch die zwei Monate Schwangerschaft, die uns als Familie blieben. Das ist eine verflixt kurze Zeit für die Entwicklung von verzweifeltem Teenager zur ziemlich glücklich Schwangeren, geschweige denn zur Mutter. Es ist auch verflixt knapp für ihre Geschwister, um Onkel und Tante zu werden. Dass ich so plötzlich Oma bin, gibt mir das Gefühl, als sei ich in diesen zwei Monaten gut hundert Jahre gealtert. Einerseits. Andererseits fühlen wir alle uns überaschend frischer. Und außerdem weiß meine Tochter, wie sie eine Wiederholung des alten Traumas durch ihre Tochter verhindert. Nämlich: Sie wird alles besser machen als ihre und meine Mutter. Kinderspiel, oder?