Und Frieda lebt doch

21 Wochen, fünf Tage: Laut Lehrbuch hat ein Baby, das so früh geboren wird, nicht die geringste Chance. Heute ist ein gesundes Kind. Ihre Eltern, ihre Ärzte, sie selbst: eine Geschichte über Menschen, die nicht aufgeben wollten.

Als sie einander vier Jahre kannten, kauften Yvonne und Johannes Halter* in einer Kleinstadt ein restauriertes Bauernhaus aus dem Jahr 1672. Kachelofen, knarzende Dielen, niedrige Decken. Im großen Garten wollten sie Gemüse anbauen. Hier sollten ihre Kinder groß und sie beide alt werden, das war der Plan.

Wenn die Kinder da wären – sie wollte drei, er zwei –, würde sie ihre Arbeit als Kinderkrippenleiterin aufgeben, er verdiente als Förderschullehrer genug. Als sie drei Jahre lang nicht schwanger wurde, ließen sie sich beide untersuchen. Es lag an ihm. »Ich würde auch adoptieren«, sagte er. »Es gibt so viele Kinder, die gute Eltern brauchen.« Yvonne war ohne Geschwister aufgewachsen und hoffte, als Mutter zu erleben, was ihr verwehrt geblieben war: dass die Kinder ihre Schulfreunde zum Mittagessen mitbringen und nachmittags im Garten toben. Dass die anderen Eltern auf ein Gläschen bleiben, wenn sie sie abends abholen. Dass in ihrem Bauernhaus immer das Leben pulsiert. Sie wollte den Traum vom eigenen Kind noch nicht aufgeben. Zusammen entschieden sie sich für künstliche Befruchtung.

Am 5. Juli 2010 verlegte Johannes bei seiner Mutter im Hof Bodenplatten, als sein Handy klingelte. Yvonne! Tag 14 nach der Befruchtung, am Vormittag hatte sie einen Termin zur Blutentnahme gehabt. »In unserem Leben wird jetzt vieles anders, Johannes«, sagte Yvonne, ihre Stimme brach. »Du wirst Vater!«

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Tag 25: Zwillinge, eindeutig, der Ultraschall ließ keine Zweifel zu. Vor Yvonnes innerem Auge lief ein Film ab, als ihr Frauenarzt es ausgesprochen hatte. Sie daheim, zwei Babys, das eine schreit nach der Brust, das andere hat die Windeln voll, gleich schließen die Geschäfte. Und Johannes weit weg in der Schule. Wie würde sie allein die ganze Arbeit geregelt bekommen? Johannes freute sich sofort. »Wir wollten doch mindestens zwei Kinder, warum nicht gleich so?«

Yvonnes Bauch wuchs rasch. Bald glaubte sie zu spüren, wie sich die beiden in ihr bewegten. Der Herbst kam, der Himmel blieb den ganzen Tag grau, Regen prasselte auf die Fenstersimse, und durch die alten Mauern drang Feuchtigkeit. Yvonne fühlte sich erschöpft. Eines Morgens hatte sie 39,5 Grad Fieber, eine schwere Grippe, die in eine chronische Nasennebenhöhlenentzündung überging. In diesen Tagen befiel sie eine unbestimmte Angst.

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Das Ziel einer langen Reise Yvonne und Johannes Halter wollten unbedingt ein Kind, es wurden Zwillinge - geboren in der 22. Schwangerschaftswoche. In manchen europäischen Ländern gelten so frühe Geburten als Spätaborte. Frieda wog bei ihrer Geburt 460 Gramm.

Der Chef der Gynäkologie, Professor Ludwig Spätling, war ein Mann mit grauem Bart und Charisma. Er strahlte Ruhe aus, und Yvonnes Panik schwand allmählich. Nachdem er die Situation erfasst hatte, erklärte er ihr, dass ihr Muttermund sich zu weit geöffnet habe. Die Fruchtblase, in der ihre Zwillinge schwammen, habe sich drei Zentimeter in ihre Vagina vorgeschoben, sie drohe zu platzen. »Aber machen Sie sich keine Sorgen, das bekommen wir in den Griff!«

Der Eingriff dauerte eine halbe Stunde. Spätling legte mit wenigen Stichen ein Kunststoffbändchen um den Gebärmutterhals und zog dieses zu – wie einen Tabakbeutel. »Bis zur 38. Woche werden die beiden es nicht aushalten«, sagte er. In der 38. Woche, wusste Yvonne, leiten die Ärzte bei Zwillingen normalerweise die Geburt ein. Sie wagte nicht zu fragen, was passiert wäre, wenn er nicht so rasch eingegriffen hätte.

Als Yvonne plötzlich heftige Unterleibsschmerzen bekam, war sie genau 21 Wochen und fünf Tage schwanger. Es war Sonntag, der 7. November 2010, seit zehn Tagen lag
sie im Klinikum Fulda. Sie sprang auf und schrie: »Ich glaube, ich habe Wehen!« Ihr Herz raste. Diese Krämpfe!

Dann ging alles ganz schnell. Untersuchungsraum, grelles Licht, kaltes Metall im Körper. Kein Fruchtwasser, sagte der diensthabende Arzt. Schmerzmittel, zurück aufs Zimmer. Sie wehrte sich, rief wieder die Schwester. Das konnten nur Wehen sein, noch nie zuvor hatte sie diese in Wellen wiederkehrenden Schmerzen gespürt! Wieder Gynäkologenstuhl. Der Arzt sagte: »Jetzt kann man es eh nicht mehr aufhalten.« Er wollte sie wieder zurück aufs Zimmer schicken. Sie schrie ihn an: »Sie können mich jetzt nicht alleine lassen! Bringen Sie mich in den Kreißsaal.« Nach wenigen Minuten eilte eine junge Ärztin hinzu, ergriff ihre Hand, beschwichtigte sie, versprach ihr, sie würden jetzt alles tun, um ihr zu helfen.

Als der Anruf aus der Klinik kam, war der Chefarzt der Kinderklinik, Professor Reinald Repp, gerade auf dem Rückweg von einem Wochenendbesuch auf dem hessischen Land bei seinen Eltern. Eine 33-Jährige mit Zwillingen, Schwangerschaft seit 21 Wochen und 5 Tagen. »Die Eltern wollen Maximaltherapie!«, sagte der Oberarzt am Telefon. »Die Zwillinge können unmöglich überleben. Haben Sie das den Eltern gesagt?«, fragte Repp.

*Namen von der Redaktion geändert

Zeit für grundlegende Diskussionen war verstrichen.

Friedas »Erstlingsmützchen« aus dem Krankenhaus haben die Eltern aufbewahrt. Die blauen Bänder dienen dazu, die Beatmungsgeräte zu befestigen, die sie in den ersten Wochen brauchte.

»Natürlich! Dass kein Fall bekannt ist, in dem …«
»Ich komme. Und sagen Sie den anderen Bescheid, ja?«
Sie würden zu viert sein, drei Oberärzte und er selbst. So wären sie auf der sicheren Seite, zwei pro Baby. Emotionaler Back-up, so nannte Repp das Prinzip, man fühlte sich einfach sicherer, wenn hinter einem jemand stand, der sofort übernehmen konnte. Nachdem die Frühchen entbunden waren, würden Sekunden darüber entscheiden, ob sie lebten oder nicht.

Hatte irgendwo auf der Welt ein Frühgeborenes überlebt, das vor der 22. Schwangerschaftswoche geboren wurde? Repp müsste es doch wissen! In den vergangenen Jahrzehnten war er immer wieder an die Grenzen gegangen. Diese Grenzen verschwammen zusehends.

Als Repp in den Achtzigerjahren als Assistenzarzt in Gießen arbeitete, galt es als großer Erfolg, wenn ein Frühgeborenes in der 28. Schwangerschaftswoche ohne größere gesundheitliche Schäden überlebte. Heute entwickelten sich solche Babys fast genauso wie alle anderen.

Was wussten Ärzte schon darüber, wie mittlerweile die langfristigen Chancen derer standen, die in den Neonatologie-Leitlinien trocken als »Frühgeburt an der Grenze zur Lebensfähigkeit« bezeichnet wurden? War es nicht anmaßend, eine solche Grenze zu ziehen? Es gab keine Studien, aus denen man sichere Schlüsse ziehen konnte. Vielmehr kristallisierte sich nun heraus, dass die Prognose der jüngsten Neugeborenen ganz entscheidend davon abhing, wo sie zur Welt kamen. Repp hatte Statistiken des Landes Hessen, die das belegten. Erst ab Schwangerschaftswoche 27 herrschte Gleichstand. Kinder aber, die vor Woche 23 geboren wurden, hatten bisher landesweit nur an seiner Klinik überlebt, und zwar in zwei Fällen. Auch die schweren Komplikationen, die später zu körperlichen und geistigen Behinderungen führten, traten an seiner Klinik seltener auf. Er dachte an Hannes, geboren im Jahr 2009 im Alter von 22 Wochen 0 Tagen. Jetzt war der Junge bald ein Jahr alt und entwickelte sich bislang recht gut. In den Niederlanden oder der Schweiz hätten die Ärzte nichts für Hannes getan – dort wurden Frühgeborene vor der abgeschlossenen 24. Woche als Spätaborte betrachtet. Auch wenn ihre Herzen schlugen, sie gar die Augen aufrissen, wenn sie die Welt erblickten.

In Deutschland hatten die Fachgesellschaften der Frauenärzte und Kinderärzte jahrelang um verbindliche Empfehlungen gerungen, und das Ergebnis lag seit einigen Wochen auf Repps Schreibtisch: die neueste Fassung der Leitlinien der Fachgesellschaften der Frauen- und Kinderärzte. Vor der vollendeten 23. Schwangerschaftswoche, hieß es dort, sei die Entscheidung »im Konsens mit den Eltern« zu treffen. Im Klartext: Die Ärzte sollten die Eltern darüber aufklären, dass ihr Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit schwer behindert sein würde, wenn es überlebte. Falls sich die Eltern dann gegen das Kind entschieden, würde es nicht intubiert und beatmet, kaum dass es den Mutterleib verlassen hatte.

Wie mit Frühgeborenen vor der 22. Schwangerschaftswoche zu verfahren sei, darüber ließen die Leitlinien keinen Zweifel: »In der Regel wird man auf eine initiale Reanimation verzichten.« Von einem Konsens mit den Eltern war hier nicht die Rede.
Doch die Eltern, die Repp jetzt im Kreißsaal erwarteten, hatten die Ärzte ihres Entscheidungsspielraumes beraubt. »Maximaltherapie!« Im Auto nahm Repp sich vor, noch einen Anlauf zur Aufklärung zu unternehmen: dass die Zwillinge zwar vorübergehend am Leben gehalten werden konnten, aber ob dies zum Wohle der Kinder sei?

Doch im Krankenhausflur hörte er schon aus der Ferne die Schreie der Gebärenden, und er wusste: Die Zeit für grundlegende Diskussionen war verstrichen.

*

Der Junge kam am 7. November 2010 um 14.59 Uhr, drei Stunden, nachdem die Wehen eingesetzt hatten. Er wog 469 Gramm, kaum mehr als viereinhalb Tafeln Schokolade, und maß 28 Zentimeter, weniger als ein DIN-A4-Papier lang ist. Er hatte die Augen geschlossen, lag schlaff in einem weißen Moltontuch, das die Hebamme den Kinderärzten entgegentrug, die direkt neben dem Bett warteten. Die Knochen schimmerten weiß durch die hauchdünne rote Haut, die von Blutergüssen übersät war. Er war mit den Füßen voraus gekommen, eine ungünstige Lage, der Gynäkologe hatte nicht vermeiden können, ihn hier und dort anzufassen, die hochempfindlichen Adern waren sofort geplatzt. Alle paar Sekunden schnappte er nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber vergeblich. Seine Lungen hatten sich noch nicht entfaltet.

»Sieht doch gar nicht so schlecht aus«, sagte Repp leise zu seinem Oberarzt Isselstein. Er hatte schon kleinere Frühchen gesehen, immerhin hatte sich dieser Junge altersgerecht entwickelt. Sein Oberarzt beherrschte die Intubation wie kein anderer, Repp war froh, ihn im Team zu haben. Er beobachtete die geübten Handgriffe und hielt den Atem an. Wie leicht konnte der Schlauch, die Öffnung kaum größer als die einer Makkaroninudel, die Luftröhre des Babys beim Einführen verletzen. Schon bei der geringsten Dehnung würde die papierdünne Schleimhaut reißen. Im schlimmsten Fall würde sie so rasch zuschwellen, dass weitere Versuche unmöglich würden – der Junge würde vor ihren Augen ersticken. Repp würde in Sekundenschnelle übernehmen, falls Isselstein scheiterte. Niemand stand diese nervliche Anspannung zwei Mal durch. Doch Isselstein traf. Die erste Hürde war genommen.

Das Mädchen sollte so lange wie möglich im Leib der Mutter bleiben. Vielleicht könnten sie die Geburt noch einen oder gar zwei Tage hinauszögern. So hatte es der Chefarzt
der Gynäkologie am Telefon entschieden. Auch er war mittlerweile auf dem Weg in die Klinik. Es wäre sehr ungewöhnlich: Zwillinge, geboren an zwei unterschiedlichen Tagen – keiner der anwesenden Ärzte hatte je davon gehört. Aber man könnte es versuchen.

Jetzt endlich konnte Repp mit den Eltern sprechen. Er sagte, dass sie jetzt von Tag zu Tag gemeinsam sehen müssten, wie sich die Babys entwickelten. Dass sie alle offen dafür sein sollten, ihre Entscheidung später zu revidieren. Dass Sterben manchmal die bessere Option sei, auch wenn Leben technisch möglich sei.

»Kilian wird unser Sorgenkind.«

Der Kinderarzt Reinald Repp, Chefarzt der Kinderklinik in Fulda, arbeitet seit 30 Jahren in der Neugeborenenmedizin; Frühgeburten, sein Spezialgebiet, zählen zu jenen Feldern in der Medizin, bei denen Ärzte schnell an ihre Grenzen stoßen: Empirische Studien fehlen, die Lehrbücher helfen bei Grenzfällen nicht weiter. Auch bei Frieda konnte sich Repp oft auf nichts verlassen als auf seine langjährige Erfahrung. Er weiß, er hätte am Pranger gestanden, wenn Frieda gestorben wäre.

Yvonne und Johannes hörten aufmerksam zu. Wie das Leben mit einem behinderten Kind aussehen würde, daran dachten beide damals nicht. Niemand hatte mit ihnen ausführlich darüber gesprochen, der Gesprächstermin mit einem Arzt war erst für die folgende Woche angesetzt gewesen. Später würden beide sagen, dass sie sich vielleicht gegen das Leben entschieden hätten, wenn sie damals genau nachgedacht hätten. Dass es ein großes Glück sei, dass sie diese Chance nicht gehabt hätten.

Ein Pater taufte den Jungen auf den Namen Kilian, noch bevor seine Schwester zur Welt kam. Das Mädchen hatte noch sieben Stunden länger im Mutterleib ausgehalten. Seine Geburt vollzog sich rascher und problemloser als die von Kilian. Zuerst erschien eine weißlich schimmernde Blase, in der sich schemenhaft der Kopf abzeichnete. Das Mädchen wurde mit Glückshaube geboren – von seinen Eihäuten umgeben.

Im Mittelalter galt das als gutes Omen, es hieß, diese Babys seien zu Geistesgröße und Großmütigkeit auserkoren. Repp war überzeugt, dass die Glückshaube dem Mädchen wirklich Glück brachte. Wie ein Airbag schützte sie seinen zarten Körper beim Durchtreten der Engstellen des Geburtskanals, es trug keine Blutergüsse davon wie sein Bruder.

Yvonne hatte die schwersten Stunden ihres Lebens hinter sich gebracht, Stunden, in denen sie glaubte zu sterben. Am Abend hatte sie hohes Fieber bekommen, sie schlotterte am ganzen Leib. Die Infektion ging vom Muttermund aus und drohte den Bauch und das Kind zu erfassen. Die Ärzte hatten ihren ursprünglichen Plan aufgegeben und die wehenhemmenden Mittel abgesetzt.
Um Mitternacht taufte der Pater das Mädchen auf den Namen Frieda. Er hatte den Eindruck, sie sei schwächer und dünner als ihr Bruder.

*

Die Beatmungsmaschinen, zwei hohe Türme neben den Brutkästen, muteten unheimlich an und klangen auch nicht so, wie Yvonne es aus Filmen kannte. Kein regelmäßiges Rauschen und Klicken, eher wie ein gleichmäßig brummender Dieselmotor. Die kleinen Brustkörbe von Kilian und Frieda vibrierten, dass Yvonne schwindlig wurde.

Hochfrequenzbeatmung. Die Maschine pumpte nur kleine Mengen Luft in die Lungen, dafür aber um ein Vielfaches rascher, als ein Mensch atmen kann: 900 Stöße pro Minute. Dafür kam sie mit minimalen Druckdifferenzen aus und schonte so die unreifen Lungen der Kleinen – anders als konventionelle Beatmungsgeräte, deren hoher Druck die Lunge überblähen konnte.

Frieda schlief fast den ganzen Tag. Kilian hatte immer die Augen offen. Was hatte das zu bedeuten, fragte sich Yvonne. War Frieda zu schwach? Oder schonte sie ihren zerbrechlichen Körper, indem sie sich vor der Welt der Intensivstation zurückzog, fast so, als wäre sie noch im Mutterleib?

Und Kilian – was ging in seinem werdenden Gehirn vor? Wollte er so viele Eindrücke wie möglich von einer Welt erhaschen, auf der ihm vielleicht nicht viel Zeit vergönnt war? War er zu gestresst, um die Augen zu schließen? Hatte er Angst zu schlafen, weil er vielleicht nie wieder aufwachen würde? Früh sagte sie zu Johannes: »Kilian wird unser Sorgenkind.«

Der Junge bekam eine Hirnblutung des höchsten Schweregrads. Manche Frühgeborene erleiden sie in den ersten fünf Tagen, andere nicht. Warum, darüber gibt es nur Theorien. Die Krankenschwestern montierten neben Kilians Inkubator ein zweites Gestell, damit alle Perfusoren Platz hatten, über die elektronisch gesteuert Medikamente in sein Blut liefen. »Es muss nicht zwangsläufig zu Behinderungen führen«, versuchte Repp die Eltern zu trösten.

Frieda hatte Glück. Keine Blutung. Sorgen bereitete Repp aber, dass sie bei ihr noch keine Ader gefunden hatten, in die man Nadeln schieben konnte. Bei Kilian hatte er immerhin eine Fußvene entdeckt – ein kleines Wunder, denn die Hautvenen entwickeln sich normalerweise erst in der 24. Woche. Friedas Leben würde noch für viele Tage an der Nabelvene hängen. Falls die sich entzündete, könnte er keine Medikamente mehr verabreichen. Jeder noch so harmlose Keim konnte sie dann töten, denn sie hatte noch kein funktionierendes Immunsystem – Antibiotika mussten es ersetzen. Nieren und Lunge arbeiteten noch nicht richtig, ihr Blutdruck schwankte gefährlich, ihre Blutgerinnung versagte, sie verlor Salze aus dem Blut – für alles gab es Medikamente, doch all die Perfusoren gaben ihre Wirkstoffe in diese einzige Vene ab. Ein Rennen gegen die Zeit.
                                                          *

Der Wendepunkt für Kilian kam am 29. November, er war 22 Tage alt.

Nur sechs Wochen hat Kilian gelebt. Er bekam Hirnblutungen des höchsten Schweregrades und Entzündungen im Bauch. Im Haus der Eltern steht eine kleine Holzkiste mit Erinnerungen an ihn: Fotos, Zeilen von Antoine de Saint-Exupéry, ein Sterbekärtchen und die Wollsöckchen, die er nie getragen hat.

Ende November, Frieda war zwanzig Tage alt, begann ihre Haut aufzuquellen, und sie legte rasant an Gewicht zu. Yvonne war verzweifelt: »Sie sieht aus wie ein Michelin-Männchen …« Repp hatte das Krankheitsbild nur einmal zuvor gesehen: das Kapillarlecksyndrom. In Friedas Körper waren die kleinsten Adern porös geworden, Flüssigkeit trat aus ihnen massiv ins Gewebe über. Die Ursache der Krankheit war unbekannt, es gab nur 150 beschriebene Fälle. Friedas Haut war schließlich so gespannt, dass sie buchstäblich zu platzen drohte. Keine Therapie schlug an. An einem Freitagabend wusste Repp nur noch einen Ausweg. Er rief die Halters zu Hause an, vor ihm lag der Beipackzettel eines Medikaments, das Adern abzudichten vermochte. Das Problem war nur: Es wurde ausdrücklich vor einem Therapieversuch beim Kapillarlecksyndrom gewarnt. Thrombosegefahr!
»Ich glaube aber, dass es trotzdem wirken kann. Und uns bleibt nicht wirklich eine Alternative. Außer aufgeben«, sagte er. Die Eltern waren einverstanden. Das Medikament wirkte fast sofort. Frieda war gerettet.

Für Reinald Repp gab es zwei Situationen, vor denen er immer Angst hatte: Ein Kind entwickelte sich in Richtung Sterben, und er erkannte es nicht rechtzeitig. Oder ein Kind entwickelte sich in Richtung Leben, aber so wollte niemand leben: taub, blind, gelähmt.

Der Wendepunkt für Kilian kam am 29. November, er war 22 Tage alt. Von außen war wenig zu sehen: Sein Bauch war überbläht, es kam kein Stuhlgang. Als die Kinderchirurgen ihn drei Tage später operierten, entdeckten sie, dass Teile des Dickdarmes abgestorben waren und sich Löcher gebildet hatten, durch die Stuhl in die Bauchhöhle ausgetreten war. Der ganze Bauch hatte sich entzündet. Es war eine der gefürchteten Komplikationen bei Frühgeborenen, ausgelöst durch Bakterien. Kilians Blut übersäuerte gefährlich. Die Ärzte versuchten mit Pufferlösung gegenzusteuern, aber so viel sie auch gaben, es reichte nicht.

Am späten Nachmittag des 18. Dezember brach Yvonne weinend vor einer Krankenschwester zusammen: »Wann hat es unser Kilian denn endlich geschafft?« Es war das Signal, auf das sie in der Klinik seit Tagen gewartet hatten. Reinald Repp kam. Der Pater kam. Sie besprachen das Nötige. Dann stellte Repp die Zufuhr des Säurepuffers ab. Yvonne durfte Kilian in den Arm nehmen. Die Krankenschwester knipste die Lichtschalter im großen Raum der Intensivstation aus, wo neben Kilian noch fünf andere Frühchen in ihren Inkubatoren lagen. Frieda schlief. Nur noch die Kreislaufmonitore und Warnleuchten der Perfusoren spendeten ein spärliches Licht im dunklen Raum. Normalerweise piepte immer irgendwo ein Alarm, doch jetzt war es lange still. Yvonne hatte das Gefühl, dass sich all die kleinen Seelen von Kilian verabschiedeten.

Sie blickte auf den erleuchteten Christbaum vor dem Fenster. An Weihnachten wären sie nur noch zu dritt. Repp war bei ihnen geblieben. Als der Monitor schon lange eine Nulllinie zeigte, trat Johannes zum Chefarzt, reichte ihm die Hand: »Sie haben alles getan. Danke!« Was war das? Der Angehörige tröstet den Arzt? Repp wollte nicht, dass sie sahen, dass er Angst hatte. Angst, auch Frieda zu verlieren. Sie hatte die gleiche Darmentzündung wie Kilian.

Doch Frieda überwand die Krankheit. Sie nahm täglich neue Hürden. Als Yvonne und Johannes am 4. Januar 2011 in die Klinik kamen, nahm sie die Krankenschwester, die mittlerweile fast zu einer Freundin geworden war, beiseite und flüsterte verschwörerisch: »Wissen Sie, was heute für ein Tag ist? Heute wollen wir versuchen, Frieda zu extubieren!« Yvonne freute sich und hatte Angst zugleich. Sie wollte nicht zusehen. Die beiden fuhren nach Würzburg zum Shoppen, suchten ein Paar Sportschühchen für Frieda aus, kauften es dann aber nicht – wer wusste schon, ob sie jemals Schuhe brauchen würde. Doch als sie zurück ins Krankenhaus kamen, hatte Frieda nur noch zwei Schläuche in der Nase, atmete aus eigenem Antrieb, eine Maschine unterstützte sie.

*

Der amerikanische Popsänger Stevie Wonder ist blind, weil er zu früh geboren wurde. Damals, im Jahr 1950, kannten die Ärzte noch kein Mittel gegen die drohende Netzhauterkrankung der Frühgeborenen. Heute werden die davon betroffenen Kinder etwa zehn Wochen nach der Geburt mit Augenlaser behandelt. Die Strahlen verhindern, dass Adern in die Netzhaut hineinwachsen und diese zerstören. Dabei aber richten sie auch Schaden an.

Deshalb habe er, Repp, mit Frieda etwas Besseres vor, erklärte er den Halters. Er wolle sie an die Uniklinik Gießen bringen, wo eine Professorin für Augenheilkunde Neugeborenen ein Mittel ins Auge injiziere, das eigentlich aus der Krebstherapie stamme, aber auch das Einwachsen von Adern in die Netzhaut verhindern könne. Die Methode sei gefahrloser und effektiver, aber noch im Versuchsstadium. Eine einzige Injektion reiche aus. Ob sie Bedenkzeit wollten?

Die Halters wechselten nur einen kurzen Blick. Sie hatten schon so oft zu Repps Maßnahmen Ja gesagt. Nie waren sie der Versuchung erlegen, im Internet zu recherchieren, ob es Alternativen gab, ob eine zweite Meinung sinnvoll wäre. Sie wollten nicht immer wissen, was alles passieren könnte. Warum also sollten sie sich jetzt Bedenkzeit ausbitten?

Und so fuhr am 1. Februar 2011 ein Krankentransport nach Gießen, hinten Frieda in ihrem Inkubator, und neben ihr: Chefarzt Reinald Repp. Er hatte sich verschiedene Gründe zurechtgelegt, warum es unbedingt nötig sei, dass nicht ein Assistenzarzt, sondern er selbst die vorgeschriebene ärztliche Begleitung übernahm.
Zum einen wollte er das Prozedere in der Augenklinik selbst in Augenschein nehmen. Auch hielt Repp generell nicht viel von Anästhesisten, wenn es um Narkosen von Frühgeborenen ging. Er hatte deshalb schon öfter Streit riskiert. Frieda in einer fremden Klinik irgendeinem Anästhesisten überlassen, das konnte er nicht zulassen – er selbst würde die Narkose machen und überwachen!

Es könnte aber auch sein, gab er später zu, dass Frieda mittlerweile sein Augenstern war. Dass er stolz war, dass sie es schon so weit gebracht hatte. Dass es ihm schwer gefallen wäre, sie für so viele Stunden allein zu lassen.

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»Nicht dass sie später nur die einsvierzig erreicht und Ihnen Vorwürfe macht.«

Sie hat blaue Augen, die unablässig die Welt erforschen. Wer Frieda zum ersten Mal sieht, wundert sich über den durchdringenden Blick, mit dem sie ihr Gegenüber mustert – um dann zu lächeln und die Hand auszustrecken. Der Blick unterscheidet Frieda von den meisten Altersgenossen, außerdem die Tatsache, dass sie fast nie weint oder schreit.

19. März 2013, Frühlingsanfang. Weite Teile Deutschlands liegen seit Wochen unter einer dicken Schneedecke. Der Winter hat sich festgekrallt, ein eiskalter Wind fegt durch die Straßen. Frieda hat eine frische Erkältung, ihre Nase läuft unablässig. Sie hat schlecht geschlafen und ist früh aufgewacht. Auf dem Weg ins Krankenhaus fragt sich Yvonne unablässig, ob die entscheidende Untersuchung ausgerechnet heute stattfinden sollte – die Untersuchung, in der Friedas Intelligenz und ihre neurologische Entwicklung vermessen werden. Zwei Stunden soll sie dauern, und am Ende wird eine Zahl stehen: der EQ, Entwicklungsquotient. Er soll vorhersagen, wie Frieda für das Leben gerüstet ist. Welche Hürden wird sie nehmen, an welchen könnte sie scheitern? Wird sie jemals lesen lernen? Kommt sie in eine Grundschule oder Förderschule? Wird sie später einen Beruf erlernen oder wird sie eine Behindertenwerkstatt besuchen? All das sind Fragen, mit denen sich Yvonne seit zwei Jahren quält, heute wird sie richtungsweisende Antworten bekommen.

Frieda wäre heute zwei Jahre und vier Tage alt, wenn sie zum errechneten Geburtstermin auf die Welt gekommen wäre. Ihr echtes Alter zählt drei Monate und fünfzehn Tage mehr, aber für Kinderärzte ist das »korrigierte Alter« entscheidend für die Beurteilung des Entwicklungszustands.

Bei den regulären Vorsorgeuntersuchungen hat der Kinderarzt Friedas geistigen Zustand zuletzt mit »altersgerecht« bewertet, aber das bedeutet nicht viel, sondern gibt nur einen ungefähren Anhaltspunkt, weiß Yvonne. Frieda hört gut, sie ist auf einem Auge kurz-, auf dem anderen weitsichtig, braucht aber keine Brille. Ihr größtes Problem: Mit 79 Zentimetern und 8,3 Kilogramm wiegt Frieda weniger und ist kleiner als 97 Prozent ihrer Altersgenossen. Fast alle extrem kleinen Frühgeborenen sind davon betroffen. Frieda liebt Kalorienbomben, fettige Pommes frites und Schokolade, doch sie isst so wenig, dass es nicht zum Zunehmen reicht. Ein Trost ist für Yvonne die Aussage ihres Kinderarztes, dass sich die Essstörung bei den meisten Frühgeborenen bis zum vierten Lebensjahr »auswächst«.

Wo bleibt nur der Arzt? Um halb zehn war Termin, jetzt ist es kurz vor zehn. In spätestens zwei Stunden wird Frieda müde werden, heute wegen der schlechten Nacht vielleicht noch früher. Endlich taucht er auf, ein großgewachsener schlanker Mann um die 50 mit Designerbrille, wenigen grauen Stoppelhaaren. Es ist Dr. Isselstein, der Mann, der Kilian und Frieda im ersten Versuch intubiert hat, dessen ruhiger Hand das Mädchen sein Leben verdankt. Er hat zunächst nur Augen für sie, spricht mit ihr, strahlt sie an. Sie lächelt zurück, gibt ihm das Händchen.

»Zeig mir doch mal, wo deine Nase ist«, sagt er. Frieda kann alles korrekt zuordnen, auch Mamas Lippen und seinen Bauch – versteht also die Bedeutung von »mein« und »dein«. Die Spannung ihrer Muskeln ist normal, keine Spastik, sie kann auf einem Bein stehen, sie kann rennen, auch wenn es »etwas tapsig« aussieht, wie Isselstein meint. »Aber das kann sie noch leicht aufholen«, beeilt er sich zu sagen, als er die Sorgenfalte auf Yvonnes Stirn bemerkt. Friedas Körpergröße solle sie in den kommenden zwei Jahren im Blick behalten, meint er. »Damit wir rechtzeitig abpassen, ob sie Wachstumshormone braucht. Nicht dass sie später nur die einsvierzig erreicht und Ihnen Vorwürfe macht.« Nach zwanzig Minuten sein Fazit: leichte Entwicklungsverzögerungen im motorischen Bereich, mit Ergotherapie und Turnen noch gut aufholbar.

Beatrix Ruppel ist Erzieherin und zuständig für die psychologischen Tests. Frieda soll geometrische Bausteine in die dazu passenden Formen legen, Türme aus Bauklötzchen bauen, auf Zeichnungen Gegenstände benennen. Als sie einen Frosch als »Losch« bezeichnet, dann aber auch der Käse »Losch« heißt, wird die Mutter nervös: »Das kennst du doch schon, Frieda, isst du doch so gern.« Das Wort »Auto« kennt sie, aber immer wenn sie das Bild vorgelegt bekommt, sagt sie »Brrm Brrm« oder »Tatütatü«.

»Yvonne will jetzt lernen, Frieda loszulassen.«

Sie ist Kinderkrippenleiterin, er arbeitet als Förderschullehrer: Yvonne und Hannes Halter haben beruflich mit Kindern zu tun. Heute sagen sie, dass sie ihr Glück mit Frieda kaum fassen können. Manchmal scheint es ihnen, als wolle ihre Tochter mit ihrem sonnigen Wesen das ganze Leid der ersten Wochen vergessen lassen. Nun wünschen sie sich noch ein Kind, das dritte, denn natürlich zählen sie den verstorbenen Kilian mit.

»Kann sie schon Zwei-Wort-Sätze?«, fragt die Erzieherin. »Auch Drei-Wort-Sätze, seit Weihnachten schon«, sagt die Mutter. Während die Untersuchung fortschreitet, brabbelt Frieda in einem fort. Jedes neue Wort lässt sich die Erzieherin von der Mutter »übersetzen«, notiert es auf einem Extrazettel, am Ende sind 50 zusammengekommen. Für Yvonne ist schwer zu erkennen, wie sich Frieda schlägt. Manche Tests wiederholt die Erzieherin viele Male, stoppt die Zeit und scheint immer noch nicht zufrieden. Unablässig notiert sie die Ergebnisse in einer Skala, auf der links die Zahl der Monate steht, zu denen Kinder imstande sein sollten, die jeweiligen Aufgaben zu lösen. »N« für nein, »J« für ja. Sechs Bauklötzchen zu stapeln ist Minimum, Frieda schafft nur fünf: »N«, gnadenlos! Nach eineinhalb Stunden aber bricht Frieda ein.
»Sie hatte so eine schlechte Nacht …«
»Nicht schlimm, das reicht mir schon …«
Kurzes Schweigen, die Erzieherin vollendet ihre Notizen, Frieda versucht sich immer noch an dem Turm aus Bauklötzen.
»Und was denken Sie?«
Die Erzieherin blickt auf, strahlt: »Es ist ein Wunder.«

*

Reinald Repp weiß, dass er Glück mit Frieda hatte. Ihr EQ ist hoch, Frieda liegt im oberen Drittel aller Kinder im gleichen Alter, inklusive der regelrecht Geborenen. Soweit er es jetzt beurteilen kann, werden ihr alle Türen des Lebens offenstehen, vielleicht könnte sie sogar das Gymnasium und Abitur schaffen.

Die Zeitungen feierten Frieda als »jüngstes Frühgeborenes Europas«. Nur einmal, 1987, war in Kanada ein gleich alter Junge zur Welt gekommen. Jedoch zweifelt Repp, ob das stimmen kann, denn damals war die Technik noch nicht gerüstet für so junge Frühchen, und eine Fachpublikation fehlt. Es gibt nur Zeitungsberichte und einen Eintrag im Guinness Buch der Rekorde.

Repp ist nicht stolz auf den »Rekord«, das Wort findet er unangebracht angesichts der Dramatik extremer Frühgeburten. Aber er ist erleichtert, dass alles so gut abgelaufen ist. Trotz dieses Erfolgs haben ihn immer noch genug Fachkollegen auf den Kongressen angegriffen oder in Interviews gesagt, er hätte Friedas Überleben auf keinen Fall zulassen dürfen. Das Mädchen werde sein Leben lang behindert sein. Er hätte eine Grenze überschritten, die die Ärzte nicht überschreiten sollten. Technik mache heute Unmögliches möglich, die Leidtragenden seien später die Eltern und Kinder. Repp aber fand, er hätte nicht anders handeln können, die Halters hatten ihren Willen zu klar kundgetan.

Er wusste auch: Wenn Frieda eine der vielen Abzweigungen in Richtung Tod genommen hätte, so wie Kilian, stünde er für alle am Pranger. Jetzt aber war Frieda der lebende Beweis für das, woran er immer schon geglaubt hatte: dass sich die Ärzte nicht nur von Zahlen leiten lassen dürfen, egal, ob Schwangerschaftswochen und -tage oder aber das Geburtsgewicht.

*

Yvonne will jetzt lernen, Frieda loszulassen. Bisher hat sie ihre Tochter nur wenigen Menschen anvertraut – ihren Eltern, Johannes Mutter, Friedas Patentante. Doch immer wächst ihre Angst nach wenigen Stunden ins Unermessliche, kriecht ihr in die Brust und den Bauch. Es ist die Angst, dass Frieda sterben könnte. Seit zweieinhalb Jahren ist diese Angst nicht von ihr gewichen. Eine Erkältung Friedas, ein leichter Husten reichen schon aus, um sie aufflammen zu lassen.

Die Tagesmutter haben Yvonne und Johannes schon ausgesucht. Sie ist selbst Mutter, 32 Jahre alt. Frieda war schon zwei Mal für eine Stunde dort. Sie versteht sich gut mit der Frau.

Am 20. März 2013, nur einen Tag nach der Untersuchung, beginnt nun ein neuer Lebensabschnitt für Frieda und Yvonne. Fünf Stunden täglich, Montag bis Freitag, soll das Mädchen bei der Tagesmutter verbringen. In der ersten Woche bleibt Yvonne noch dabei. Am dritten Tag verlässt sie die Wohnung der Tagesmutter für eine halbe Stunde. Für Frieda ist das in Ordnung – sie scheint darauf zu vertrauen, dass die Mutter wiederkehren wird. Ein Zeichen für eine gute Mutter-Kind-Bindung, die vorübergehende Trennungen aushalten wird.

In den folgenden Monaten wird Yvonne jederzeit erreichbar sein, kann vorbeikommen, falls sich Frieda nicht eingewöhnt. Sie hat auch wieder angefangen zu arbeiten. Es ist an der Zeit, zu einem normalen Leben zurückzukehren, findet sie.

Frieda ist ein fröhliches Kind, das wenig weint oder schreit. Die Mutter sagt: Vielleicht erschienen ihrer Tochter die Wehwehchen, die das Leben eines normalen Kleinkinds mit sich bringt, banal gegenüber den Qualen, die sie hinter sich hat.

Yvonne und Johannes wollen noch ein zweites Kind – beziehungsweise »ein drittes«, denn Kilian zählt mit. Ihr Bauernhaus steht zum Verkauf. Hier werden sie nie aufhören, an Kilian zu denken. Eine Holzkiste im Wohnzimmer trägt seinen Namen, ein Geschenk der Klinik. Sein erstes Mützchen, an dem die Atemmaske befestigt war. Ein Paar Schühchen aus Wolle, gestrickt von einer Freundin, Yvonnes Daumen passt hinein. Kilian hat sie nie getragen. Eine CD mit Fotos, aufgenommen nach seinem Tod, ohne Schläuche, ohne Maske – sie haben nur ein Bild davon angeschaut, es war nicht mehr ihr Kilian.

Und eine Postkarte mit Sätzen von Antoine de Saint-Exupéry:

Wenn du bei Nacht
den Himmel anschaust,
wird es dir sein,
als lachten alle Sterne,
weil ich auf einem von ihnen wohne,
weil ich auf einem von ihnen lache.
Du allein wirst Sterne haben,
die lachen können!

Auszug aus dem Buch Patient meines Lebens. Von Ärzten, die alles wagen, Droemer Knaur Verlag 2013

Fotos: Myrzik und Jarisch