»Jenseits der Stadtmauern fällt diese Schwere von mir ab«

Jerusalem. Heilige Stadt, geschundene Stadt. Während die Diplomaten über Grenzen und Machtverhältnisse verhandeln, sind wir nach Jerusalem gefahren, um mit den Menschen zu reden, für die es bei alldem um ihre Heimat geht. Ein Stadtgespräch.

Es ist heiß, staubig und laut in Jerusalem. Trotzdem ziehen Tausende von Pilgern und Touristen durch die Gassen der Altstadt, wo ihnen Dornenkronen und Kippas angedreht werden. Das Thermometer zeigt 32 Grad. Ein paar Stunden in diesem Gewimmel, und man spürt: Jerusalem, die Heilige Stadt, ist ein Ort des Glaubens, der Geschichte und Mythen, aber auch der Gewalt und des Hasses. In Jerusalem leben rund 800 000 Menschen, 62 Prozent von ihnen sind Juden, 35 Prozent Moslems und zwei Prozent Christen. Es gibt 1200 Synagogen, 158 Kirchen und 73 Moscheen.

Hier stand der Tempel Salomos, hier wurde Jesus ans Kreuz geschlagen, von hier soll der Prophet Mohammed in den Himmel aufgefahren sein. Immer wieder wurde die Stadt erobert, zerstört, wieder aufgebaut, bis heute ist ihr politischer Status umstritten: Die Israelis beanspruchen Jerusalem als »ungeteilte Hauptstadt«, die Palästinenser fordern zumindest den Ost-Teil als Hauptstadt eines künftigen Palästinenserstaates und wehren sich seit dem Sechstagekrieg von 1967 gegen die »israelische Besatzung«. Jerusalem ist – wenn auch nicht offiziell – geteilt. Dazu kommt, dass weiter israelische Siedler in die besetzten Gebiete drängen: für die Palästinenser eine untragbare Provokation. Umso größer war die Überraschung, als bekannt wurde, dass die Friedensgespräche nach drei Jahren Stillstand wieder aufgenommen werden, in Washington kam es bereits zu einem gemeinsamen Abendessen der Unterhändler mit US-Außenminister Kerry – ein Signal der Hoffnung. Ziel der Verhandlungen, die in den nächsten Monaten beginnen sollen, ist ein unabhängiger Staat Palästina, der im Gegenzug Sicherheitsgarantien für Israel akzeptiert.

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Es ist kurz vor 15 Uhr. Wir haben im Garten des »Österreichischen Hospizes«, einer Pilgerherberge in der Via Dolorosa, einen großen Tisch reserviert. Ein paar Oleander- und Feigenbäume spenden Schatten, vom Dach aus sieht man den Tempelberg mit der Al-Aqsa-Moschee, die Klagemauer, die Kuppeln der Grabeskirche, den Ölberg. Ab und zu ruft ein Muezzin, wir sind im muslimischen Viertel. Zu trinken gibt es Wasser, Kaffee und Gösser-Bier aus Österreich, zu essen Gulaschsuppe und Apfelstrudel aus dem Kaffeehaus des Hospizes. Als Erster kommt Munther Fahmi, Palästinenser, Buchhändler und ein bisschen auch Playboy.

Munther Fahmi: Guten Tag, oh, ich bin der Erste. Sie sind alle von der Zeitung, oder?
SZ-Magazin: Ja, vom Magazin der Süddeutschen Zeitung.
Fahmi: Kenne ich. Ist eine der größten Zeitungen Deutschlands, nicht wahr?
Kompliment, unser Fotograf hatte noch nie davon gehört.
Fahmi: Kommt er aus Israel?
Nein, aus den USA.
Fahmi:
Na, dann muss man sich nicht wundern.

Woher kommen Sie gerade?
Fahmi: Aus meinem Buchladen im »American Colony Hotel«, das ist ein Fünf-Sterne-Hotel im Ostteil der Stadt. Sehr alt, sehr traditionsreich. Unter anderem haben dort die Friedensgespräche begonnen, die zum Oslo-Vertrag von 1993 geführt haben. Bei uns haben schon Winston Churchill und Lawrence von Arabien übernachtet.
Ist Jerusalem ein guter Ort, um Bücher zu verkaufen?
Fahmi: Eigentlich ja, die Menschen lesen viel in dieser Stadt.
Lassen Sie uns raten: Der neue Roman von Dan Brown verkauft sich großartig.
Fahmi: Dan Brown? So einen Müll gibt es bei mir nicht. Religion, Geschichte, Politik, der Nahostkonflikt, das sind meine Themen. Aber wir führen auch Klassiker der Weltliteratur, Hans Fallada, Thomas Mann, Hermann Hesse, Günter Grass. Wir Palästinenser lieben Günter Grass.

Sie meinen wegen des Israel-kritischen Gedichts, das er letztes Jahr veröffentlicht hat?
Fahmi:
Natürlich. Ich war damals gerade in Berlin und dachte nur: »Yeah, Günter, go!« Ich finde es mutig von ihm, Israel zu kritisieren, immerhin benimmt sich dieser Staat seit knapp fünfzig Jahren daneben. Natürlich spricht die jüdische Lobby sofort von Antisemitismus, wenn einer den Finger hebt, aber das ist Bullshit, kultureller Terrorismus ist das.

15.20 Uhr. Munther Fahmi ist gerade so richtig in Rage, als Anat Hoffman in den Garten kommt, Vorsitzende von »Women of the Wall«, einer jüdischen Aktivistengruppe, die sich für mehr Frauenrechte an der Klagemauer einsetzt. Sie hat ihren Freund mitgebracht. Die beiden setzen sich, halten Händchen, hören zu.

Der israelische Schriftsteller Nir Baram sagt: »In Jerusalem lesen sie Proust, in Tel Aviv kaufen sie Zeitschriften.«

Fahmi: Er hat recht. Jerusalem und Tel Aviv sind zwei total verschiedene Orte. Die Menschen sind anders, die Mentalität ist anders. In Tel Aviv ist das Leben moderner und leichter, in Jerusalem, besonders hier in der Altstadt, spürt man die Bürde von Religion und Geschichte. Als mein Vater starb, haben wir seinen Leichnam von der Al-Aqsa-Moschee zum Friedhof vor die Stadt getragen. Ich werde nie vergessen, wie jenseits der Stadtmauern diese sonderbare Schwere von mir abgefallen ist. Trotzdem könnte ich nie in Tel Aviv leben.
Hoffman: Warum nicht?
Fahmi: Weil diese Stadt eine kulturelle Wüste ist. Okay, es gibt das Meer, aber an den Strand gehe ich nur mit Kopfhörern. Ich will kein Hebräisch hören. Das erinnert mich nur daran, dass die Israelis kein Recht auf Palästina haben.
Hoffman: In Jerusalem hören Sie doch auch jeden Tag Hebräisch.
Fahmi: Nicht im »American Colony Hotel«, das ist mein Königreich und ich bin der König. Ich hatte mal eine jüdische Freundin, die hat sich sogar geweigert, mit dem Auto durch Deutschland zu fahren.

Haben Sie jüdische Freunde?

Fahmi: Wir gehen mit dem Wort Freundschaft sehr sorgfältig um, nicht wie in Amerika, wo jeder 200 Freunde hat. Ich habe einen jüdischen Freund, Miko Peled, der Sohn von Matti Peled. Kennen Sie ihn? Im Sechstagekrieg von 1967 war er einer der höchstdekorierten Generäle. Miko und ich streiten nie, weil wir uns einig sind: Die Zionisten sind eine Bande von Dieben.

Können Sie sich vorstellen, mit einem ultraorthodoxen Juden befreundet zu sein?
Fahmi:
Vielleicht zum Spaß. Ach, es ist kompliziert. Ein Palästinenser kann nicht einfach zu einem Juden sagen: Komm heute Abend rüber, und wir essen eine Kleinigkeit. Und wenn doch, darf man auf keinen Fall über Politik sprechen. In Jerusalem hat Politik schon viele Freundschaften zerstört.
Hoffman: Sie haben recht. Ich rede mit meinen palästinensischen Freunden auch nie über Politik. Wissen Sie, was uns und euch fehlt? Ein religiöser Führer, eine charismatische Persönlichkeit wie Nelson Mandela.

Was ist mit Nir Barkat, dem Bürgermeister von Jerusalem?
Hoffman: Ein Technokrat und Rassist. Man muss sich nur West- und Ost-Jerusalem anschauen, die Unterschiede in der Lebens- und Versorgungsqualität. Die Palästinenser, die in Ost-Jerusalem leben, sind Bürger zweiter Klasse.

»Ich bin Tourist in meiner eigenen Stadt.«

Haben Sie ein Beispiel?
Hoffman:
Natürlich. Der Müll wird nicht abgeholt, die Straßenbeleuchtung funktioniert nicht, es gibt keine Grünflächen, die Fassaden bröckeln, die Schulen sind schlechter. Fahmi: Wir haben nicht mal Kabelfernsehen.
Hoffman: Zwischen der sechsten und zwölften Klasse brechen 50 Prozent der jungen Palästinenser die Schule ab, bei den Mädchen sind es 30 Prozent. Das ist ein Skandal, aber man könnte was dagegen tun.
Fahmi: Was denn?
Hoffman: Ich war 14 Jahre lang im Stadtrat von Jerusalem und habe dafür gekämpft, dass die Palästinenser endlich ihr Stimmrecht ausüben und wählen gehen. Sie könnten zwölf von 31 Sitzen im Stadtrat bekommen. Das würde ihre Situation deutlich verbessern.
Fahmi: Wie soll ich wählen? Ich habe nicht mal eine offizielle Aufenthaltserlaubnis. Ich bin Tourist in meiner eigenen Stadt.

Aber Sie leben doch seit Jahren hier.
Fahmi: Ja, aber es gibt in Israel dieses rassistische Gesetz: Wer länger als sieben Jahre im Ausland gelebt und einen ausländischen Pass beantragt hat, verliert seine offizielle Aufenthaltserlaubnis. Ich darf also gar nicht wählen. Abgesehen davon ist es absurd, dass Sie uns auffordern, an einer israelischen Wahl teilzunehmen, weil es in Jerusalem gar keine israelische Wahl geben sollte. Ihr haltet die Hälfte der Stadt seit 1967 besetzt, das ist das Problem. Abgesehen davon kann es gefährlich sein, wählen zu gehen.

Warum?
Fahmi: Nun ja, die Israelis sind die Besatzer. Wenn ich wähle, erkenne ich die Besatzung an, und das finden einige Palästinenser gar nicht gut. Es kommt immer wieder vor, dass Palästinensern, die zur Wahl gehen, Arme und Beine gebrochen werden.
Hoffman: Sie haben recht, ich vereinfache, aber nur, weil ich den Preis kenne, den die Palästinenser seit 46 Jahren bezahlen. Ihr verliert euer Land und ihr verliert eure Zukunft. Und alles nur, weil keiner die Hand hebt, wenn diese Dinge im Stadtrat beschlossen werden. Die Lage an den Schulen in Ost-Jerusalem ist katastrophal. Ich weiß das, weil wir eine große Studie veröffentlicht haben: Es fehlen 1000 Klassenzimmer, die Klos sind verdreckt, oft gibt es kein Toilettenpapier. Viele Kinder leiden unter starken Magenschmerzen, weil sie stundenlang nicht aufs Klo gehen können.
Fahmi: Wir bekommen ja nicht mal Post zugestellt. Wie auch? Wir haben keine Straßennamen und Hausnummern. Der einzige Brief, der jedes Jahr verlässlich ankommt, ist die Arnona, eine Art Steuer für kommunale Dienstleistungen. Dafür schicken sie sogar Boten in die Flüchtlingscamps, die an jedes Haus klopfen und fragen: Wo lebt Mohammed? Wo lebt Ahmed? Jedes Mal, wenn ich falsch parke, kommt der Strafzettel nicht bei mir an, weil die Polizei nicht weiß, wo sie ihn hinschicken soll.

Klingt doch gar nicht schlecht.
Fahmi:
Von wegen, die Strafen addieren sich, und irgendwann stehen sie vor deiner Tür, schleppen dich aufs Revier und du weißt nicht mal, warum.

Warum gibt es keine Straßennamen?
Hoffman: Weil die Palästinenser ihre Straßen sonst nach ihren Helden benennen würden. Nach Jassir Arafat oder dem Hamas-Führer Chalid Maschal.

Und warum bauen die Palästinenser nicht ihre eigenen Strukturen auf?
Fahmi: Man lässt uns doch nicht. Vor drei Jahren habe ich zusammen mit Freunden ein Literaturfestival im palästinensischen Nationaltheater organisiert – bis es von der Armee geräumt wurde.
Hoffman: Ganz ehrlich, ich kann es nicht mehr hören, dass die Palästinenser ständig alles auf die Besatzung schieben. Ich kenne diese Logik: Unsere Kinder ertrinken, weil wir im Osten keine Freibäder haben, in denen sie schwimmen lernen können. Ihr solltet eure eigene Stadt organisieren und selbst entscheiden, ob ihr eine neue Moschee oder ein Freibad baut. Ich bin dafür, dass die Stadt ganz offiziell geteilt wird.

Die Mehrheit der Israelis beansprucht Jerusalem als ungeteilte Hauptstadt Israels.
Hoffman: Es kann doch zwei offizielle Hauptstädte geben: West-Jerusalem für Israel und Ost-Jerusalem für Palästina.

16.10 Uhr. Nach fünfzig Minuten stecken wir mitten im Nahostkonflikt: zwei Perspektiven, zwei Meinungen, keine Lösung. Zum Glück betritt der Fremdenführer Tzachi Kedar den Garten. Vielleicht hat er ja eine ganz andere Sicht auf diese Stadt.

Fahmi: Ah, ein neuer Gast. Wie heißen Sie? Mein Name ist Munther Fahmi, mir gehört der Buchladen im »American Colony Hotel«. Und das ist Anat Hoffman von »Women of the Wall«.
Tzachi Kedar: Guten Tag, ich heiße Tzachi Kedar, ich organisiere Stadtführungen für Pilger und Touristen.

»Es gibt einen Ort in Jerusalem, an dem Juden und Palästinenser jeden Tag wieder ganz friedlich zusammenkommen.«

Frau Hoffman, würden Sie akzeptieren, dass die Juden aufgrund einer Teilung der Stadt nicht mehr zur Klagemauer könnten?
Hoffman: Natürlich nicht. Der heilige Bezirk stünde unter einer Art Gottesflagge und wäre für alle zugänglich. Leider sind wir davon weit entfernt. Im Moment blutet diese Stadt. Die Israelis melken die palästinensische Kuh. Sie verweigern ihnen die gleichen Rechte und behandeln sie wie Bürger zweiter und dritter Klasse. Und die Palästinenser haben sich daran gewöhnt, alles auf die Besatzung zu schieben, anstatt ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen.
Fahmi: Um das zu tun, müssten wir erst mal frei sein.
Hoffman: Nelson Mandela war 18 Jahre lang in einer Zelle auf Robben Island weggesperrt. Trotzdem hat er es geschafft, eine Universität aufzubauen, an der sogar die Wärter, also seine Feinde, einen Abschluss machen konnten.
Fahmi: Ich glaube nicht, dass das ein guter Vergleich ist.
Hoffman: Warum nicht? Kennen Sie das Viertel Kaffar Aqubb draußen im Osten? Dort teeren die Palästinenser ihre Straßen selbst, mieten Lastwagen, um den Müll wegzubringen, kaufen ihr eigenes Wasser in Ramallah. Die zahlen die gleichen Steuern wie alle hier, kriegen nichts von der Stadt, packen aber ihre Probleme an.
Fahmi: Aber nur, weil es dort keine israelischen Soldaten gibt.
Kedar: Entschuldigen Sie, ich habe Ihnen jetzt ein paar Minuten zugehört und bin echt deprimiert, wie Sie über meine Stadt sprechen.
Hoffman: Aber das ist die Realität.
Kedar: Ich weiß, aber es gibt einen Ort in Jerusalem, an dem Juden und Palästinenser jeden Tag wieder ganz friedlich zusammenkommen.
Hoffman: Sie meinen den Zoo, oder?
Kedar: Genau, den Biblischen Zoo. Er heißt so, weil es dort alle Tiere gibt, die in der Bibel eine Rolle spielen, Löwen, Bären, Schlangen, Spinnen. Es ist wie ein Wunder, angesichts der wilden Tiere werden die Menschen auf einmal ganz friedlich. Der Zoo ist die meistbesuchte Sehenswürdigkeit Jerusalems, für die man Eintritt zahlen muss. An den heiligen Stätten, der Klagemauer, dem Tempelberg oder der Grabeskirche muss man ja nichts zahlen.
Hoffman: Wenn die Stadt so liberal und weise geführt würde wie der Zoo, wäre alles gut. Die Rabbis im Vorstand haben neulich sogar erlaubt, einen Flamingo mit Krabben zu füttern, in der Hoffnung, dass er endlich ein Ei legt – und vergessen Sie nicht, Krabben sind alles andere als koscher. Am Ende stellte sich heraus, dass der Flamingo ein Männchen war.
Kedar: Es gibt auch zwei schwule Adler, die sich ein Nest teilen und gemeinsam acht Junge aufziehen.
Hoffman: Ja, bei den Tieren sind sie tolerant, aber bei dieser Schwulenparade vor ein paar Jahren wurden mehrere Homosexuelle mit Messern attackiert und verletzt. Nur in diesem Zoo kann es passieren, dass eine Wärterin in Hotpants einer Gruppe ultraorthodoxer Juden das Sexleben von Elefanten erklärt.
Fahmi: Einen hübschen Schal tragen Sie da übrigens.
Hoffman: Danke schön, das ist ein Tallit, ein Gebetsschal. Ich habe mit »Women of the Wall« 24 Jahre lang dafür gekämpft, dass Frauen genauso einen Schal an der Klagemauer tragen dürfen. Seit dem 25. April dieses Jahres dürfen wir, ganz offiziell.
Außerdem dürfen wir gemeinsam laut aus der Thora lesen. Das war für uns Frauen lange gerichtlich verboten, weil es angeblich die Gefühle der anderen Gläubigen verletzt. Einmal wurde ich für mein Engagement sogar ins Gefängnis gesteckt. Nur für 24 Stunden, aber ich werde den Tag nie vergessen.
Kedar:
War es so schlimm?
Hoffman: Es war schrecklich. Auf dem Revier haben mich die Polizisten in Handschellen von Stuhl zu Stuhl gezerrt. Ich wurde von oben bis unten durchsucht und musste mich nackt ausziehen, als wäre ich eine Schwerverbrecherin. Dann kam ich in meine Zelle, zusammen mit einem Drogendealer, einer Prostituierten und einem Autodieb.

Einem jüdischen Autodieb?
Fahmi: Ja ja, so was gibt es.

Haben Sie mit Ihren Mithäftlingen gesprochen?
Hoffman: Ja, ich weiß noch, dass der Dieb hartnäckig behauptet hat, Volvo sei eine deutsche Automarke. Besonders herablassend wurde die Prostituierte behandelt. Sie kam aus Russland und sprach kein Wort Englisch. Trotzdem habe ich mit Händen und Füßen versucht zu erklären, wofür ich kämpfe. Sie hörte aufmerksam zu, schaute mich an und fragte: »You Pussy Riot?« Und ich: »Ja, genau, Pussy Riot von Israel.«

Gibt es auch israelische Prostituierte in der Stadt?
Hoffman: Natürlich. Es gibt insgesamt 16 Bordelle. Wir haben das im Stadtrat mal genau recherchiert. Die meisten Freier sind Araber, ein Drittel sind ultraorthodoxe Juden. Als wir unsere Studie im Plenum vorgestellt haben, kam es zu heftigen
Tumulten. Die Ultraorthodoxen weigerten sich, zuzuhören. Wir haben dann bis zur Gebetspause gewartet und unsere Ergebnisse präsentiert, während sie draußen waren.

16.20 Uhr. Ein Mann in brauner Mönchskutte eilt in den Garten. Er trägt eine Sonnenbrille wie Keanu Reeves in »Matrix«, setzt sich, bestellt Wasser: Bruder Nikodemus von der Dormitio-Abtei auf dem Zionsberg.

»Es gibt mittlerweile einen offiziellen Begriff für diese Attacken: Preisschild-Aktionen.«

Guten Tag, Bruder Nikodemus. Wie fühlen Sie sich als Christ in dieser Stadt?
Nikodemus: Na ja, ich bin es längst gewohnt, dass ich in den Straßen angespuckt werde. Die Mutigen spucken mir ins Gesicht, die Feigen spucken vor mir auf den Boden und laufen weg. Manchmal werde ich auch mit Cola-Dosen beworfen.
Hoffman: Oh mein Gott, wo passiert Ihnen so was?
Nikodemus: Nicht in Me’a Sche’arim, wo die Ultraorthodoxen leben. Die respektieren mich als Mann des Glaubens, eher im jüdischen Teil der Altstadt.
Hoffman: Und was für Leute machen so was?
Nikodemus: Da sind auch Kinder und Jugendliche dabei, die es von ihren Eltern vorgemacht bekommen. Gerade auf dem Weg hierher hat mich wieder einer angespuckt. Letzten Sommer wurde ich zum ersten Mal körperlich attackiert. Als ich nachts von der Kirche Sankt Anna zurück ins Kloster ging, haben mich ein paar Typen verprügelt. Neulich hatten wir Graffiti-Schmierereien an der Klosterpforte: »Jesus ist ein Hurensohn«, »Tod den Christen«, solche Sachen. Es gibt mittlerweile einen offiziellen Begriff für diese Attacken: Preisschild-Aktionen.

Was bedeutet das?
Nikodemus: Es handelt sich um Racheaktionen gewaltbereiter Siedler. Immer wenn ein illegaler Außenposten geräumt werden muss, attackieren radikale Siedler im Gegenzug Muslime oder Christen. Das sind keine Orthodoxen, die kommen eher aus der national-religiösen Ecke.
Hoffman: Wie reagieren Sie auf diese Übergriffe?
Nikodemus: Gar nicht, ich leide eher innerlich. Wenn ein Jude mit der Kippa auf dem Kopf einen Benediktinermönch in seiner Kutte anspuckt, ist das keine gute Werbung für Religion. Dann denken wieder alle, dass die Chance auf Frieden größer ist, je weltlicher es zugeht, und genau das glaube ich eben nicht. Das Problem ist, dass in Jerusalem Religion oft für politische Zwecke instrumentalisiert wird. Glaube heißt aber, dass man Gott sucht, es geht dabei nicht um nationale Identitäten. Vielleicht kann man das mit Fußball vergleichen. Viele der religiösen Menschen in Jerusalem sind keine Fans, sondern Hooligans.
Kedar: Hören Sie auf, bitte, ich muss gleich weinen. Ich liebe diese Stadt, und Sie erzählen nur von Hass und Missgunst. Jerusalem ist extrem, ja, aber auch unglaublich schön. Diese Stadt hat eine 10 000 Jahre alte Geschichte. Ich habe je ein Jahr in San Francisco und New York gelebt und Jerusalem jedes Mal so vermisst, dass ich zurückgekommen bin.
Fahmi: Sie sind doch Deutscher. Warum sind Sie in ein Kloster nach Jerusalem gegangen?
Nikodemus: Ich finde, wenn man im 21. Jahrhundert verrückt genug ist, Mönch zu werden, kann man auch gleich Mönch in Jerusalem werden. In dieser Stadt ist es definitiv spannender als in einem langweiligen Kloster in Deutschland. Franz Kafka hat mal geschrieben: »Man sollte nur Bücher lesen, die einen beißen.« Jerusalem schlägt und küsst einen alle fünf Minuten.
Hoffman: Ich finde Jerusalem auch spannend, aber wir müssen aufpassen, dass wir die täglichen Skandale in dieser Stadt nicht tolerieren, nur weil wir sie so wahnsinnig aufregend finden. Also, wir ziehen demnächst nach Haifa. Wir haben uns gerade eine Wohnung gekauft.
Fahmi: Meinen Segen haben Sie. Haifa liegt eben am Meer. Jerusalem hat keinen Strand, keine Berge, keinen See, unsere Kinder können nirgendwo Spaß haben.
Hoffman:
Unser Volkssport ist eben Steinewerfen.
Kedar: Dafür kann man durch die Judäische Wüste wandern. Ich habe schon Tausende Pilger über die Wüste nach Jerusalem hineingeführt, eine magische Erfahrung.

Was ist so schön daran?
Fahmi:
Er ist halt ein Jude. Juden verlaufen sich gern in der Wüste.
Kedar: So eine Wüste besteht ja nicht nur aus Sand, es gibt kleine Oasen, Seen, archäologische Stätten. Man muss nur genau überlegen, welchen Weg man für die Touristen wählt. Entlang der israelischen Sperranlagen kann es sehr deprimierend sein. Also mir schnürt es richtig den Atem ab, wenn ich diese Mauer entlanggehe, die Israel vom Westjordanland trennt.
Hoffman: Die Wahrheit ist, dass es weh tut, in Jerusalem zu leben. Ich bin immer noch geschockt von Ihrer Geschichte, Bruder Nikodemus. Ich schäme mich richtig. Haben Sie die Menschen, die Sie angegriffen haben, angezeigt? Es gibt doch hier überall Kameras. Ich bin sicher, die Polizei kennt die Täter.
Nikodemus: Ja, aber sie ist nicht dahinter, sie auch zu kriegen. Klar kommt der Bürgermeister und entschuldigt sich, aber nicht, um uns zu helfen, sondern um die Stadt vor einem schlechten Image zu schützen. Neulich hat die Polizei uns einen 13 Jahre alten Jungen präsentiert, der die Reifen unserer zwei Autos zerstochen haben soll. Sie suchen jemanden, der nicht bestraft werden kann, das ist ihre Taktik.
Hoffman:
Schuld sind die vielen extremistischen Rabbis, die unsere Jugendlichen gegen Christen und andere Minderheiten aufhetzen.
Nikodemus: Ironischerweise haben wir durch die Angriffe auch viel Solidarität erfahren. Pilger und Nachbarn, auch Muslime und Juden, haben uns unterstützt. Das Konzept, dass Hass mehr Hass hervorbringt, stimmt eben doch nicht. Hass gebiert Liebe, und das ist unsere Chance.
Hoffman: Oh, es ist schon fast fünf Uhr. Wir müssen leider gleich nach Tel Aviv. Wir sind vom amerikanischen Botschafter eingeladen.
Nikodemus: Vielleicht kann man es so sagen, es gibt zwei Jerusalems: Das eine ist wie ein Mythos, eine Projektion, aufgeladen mit Geschichte und Tradition. Das andere ist das reale Jerusalem, das sich täglich hier abspielt. Und zwischen diesen beiden Konzepten besteht eine enorme Spannung, zwischen Ahnung und Wirklichkeit, Geschichte und Gegenwart, Banalität und Brutalität. Das ist anstrengend, aber reizvoll. Man muss sich nur die vielen Pilger ansehen, die hierherkommen. Die denken tatsächlich, dass sie in Jerusalem näher bei Gott sind. Hier wollen Tausende von Juden beerdigt werden, damit sie in der Pole Position sind, wenn der Graben sich auftut und der Messias kommt.

Ist es möglich, in Jerusalem zu leben, ohne etwas von Politik und Religion mitzukriegen?
Kedar: Die meisten machen es so. Sie schauen fern, gehen ins Büro, in den Park, ins Fußballstadion …
Hoffman: … und unterstützen eine rassistische Mannschaft. Beitar Jerusalem ist das einzige Team in Israel, das aus Prinzip keine muslimischen Spieler verpflichtet. Die Vereinsfarben sind Schwarz und Gelb, die Farben des rassistischen Rabbis Meir Kahane, der in den Siebzigerjahren aus den USA nach Israel kam. »Beitar will always remain pure« steht auf den Bannern der Fans. Beitar wird immer rein bleiben.
Fahmi: Aber beim Champions-League-Finale, als Bayern München gegen Dortmund gespielt hat, war die Stadt ruhig wie lange nicht mehr. Nicht nur Religion, auch Fußball ist eben Opium fürs Volk.

17 Uhr. Terry Boullata kommt, palästinensische Aktivistin, die während der ersten Intifada Ende der Achtzigerjahre viermal inhaftiert wurde. Beim letzten Mal wurde Sie nur auf Drängen von Jimmy Carter und Danielle Mitterrand freigelassen. Anat Hoffman spricht sie auf Hebräisch an.

Terry Boullata: Verzeihen Sie, ich spreche nicht Hebräisch. Ich habe mein ganzes Leben unter israelischer Besatzung gelebt, also seien Sie bitte nicht böse, dass ich nicht die Sprache meiner Besatzer sprechen kann. Ich freue mich aber trotzdem, Sie kennenzulernen.
Hoffman: Ich habe großes Verständnis für Sie, keine Sorge.
Boullata: Meine Familie lebt seit Hunderten von Jahren in Jerusalem. Manche sagen, wir haben schon Jesus Tee angeboten. Und jetzt? Bin ich eine Fremde in meiner eigenen Stadt. Jerusalem ist in zwei Hälften geteilt. Ein israelischer Taxifahrer traut sich nicht, einen Gast vom Jaffa-Tor zum »American Colony Hotel« in den Osten zu bringen. Und wir Palästinenser trauen uns nicht so richtig in den Westen. Allein in den letzten Wochen wurden mehrere palästinensische Jugendliche im Westen attackiert. Einer wurde krankenhausreif geschlagen.
Hoffman: Moment, das ist nicht aus heiterem Himmel passiert. Ein junger Araber hatte ziemlich offensiv ein jüdisches Mädchen angemacht.
Boullata: Schon klar, und wenn wir uns wehren, weil israelische Soldaten unsere Mädchen anmachen, sind wir Terroristen.
Hoffman: Ich entschuldige nichts, ich sage nur, was passiert ist.
Boullata: Und was ist mit der palästinensischen Frau, die angegriffen wurde, als sie auf die Straßenbahn gewartet hat? Hatte die vielleicht auch ein Auge auf eine jüdische Frau geworfen?

Inwiefern hat der Nahostkonflikt Ihr Leben verändert?
Boullata: Der Krieg ist im Jahr 2002 direkt in meinen Garten gekommen, als israelische Soldaten eine Sperranlage durch mein Grundstück gebaut haben. Erst war es nur eine Barriere aus Beton, zwei Jahre später haben sie eine neun Meter hohe Mauer gebaut. Das Problem war, dass ich eine Aufenthaltserlaubnis für Jerusalem hatte, mein Mann aber nur für das Westjordanland. Wir konnten uns praktisch nicht mehr sehen, und wenn, dann nur unter großen Schwierigkeiten.

»Jerusalem ist die ärmste Stadt Israels.«

Warum sind Sie nicht ins Westjordanland gezogen?
Boullata: Das hat er auch vorgeschlagen, aber dann hätte ich meinen Aufenthaltsstatus für Jerusalem verloren, für die Stadt, aus der meine Familie stammt, für meine Heimat, wo es ganz nebenbei die besseren Jobs gibt. Besonders an Wochenenden kam es vor, dass jeder von uns zu Hause festsaß. Ich durfte nicht zu ihm, er nicht zu mir, also habe ich mir im Laden um die Ecke ein Eis gekauft, habe mich aufs Dach gesetzt und zu ihm rübergeschaut. Leider ist mein Mann vor zwei Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Sorry, wenn ich Sie deprimiere, aber ich kann nicht so tun, als wäre in diesem Land alles in Ordnung.
Hoffman: Ich war ehrlich gesagt schon deprimiert, bevor Sie gekommen sind, aber in vier Monaten sind Wahlen. Gehen Sie wählen, um an dieser untragbaren Situation etwas zu ändern?
Boullata: Was soll mir das bringen? Es geht doch nicht nur darum, dass der Müll abgeholt wird. Man hat uns Palästinensern 78 Prozent unserer historischen Landesfläche genommen, und jetzt will man nicht mal unser Recht anerkennen, wenigstens auf 22 Prozent unseres historischen Gebiets zu leben. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin nicht stolz darauf, wenn junge Männer zu Selbstmordattentätern werden, aber die sehen halt keinen anderen Ausweg mehr.

17.20 Uhr. Die Soziologin Eva Illouz kommt in den Garten und bestellt ein Glas Rotwein. Sie hat wenig Zeit – ein Termin – vielleicht lässt sie deshalb ihre Dior-Sonnenbrille auf. Munther Fahmi bestellt einen Espresso, der Rest: Wasser, immer wieder Wasser.

Frau Illouz, Sie wurden in Marokko geboren, haben lange in Paris und den USA gelebt. Seit wann sind Sie in Jerusalem?
Eva Illouz: Ich lebe seit 13 Jahren hier, vorher habe ich in Tel Aviv gewohnt. Die meisten Israelis empfänden das als Rückschritt. Jerusalem gilt als arme Stadt, nicht nur finanziell, auch kulturell, wirtschaftlich, politisch.
Hoffman: Obwohl jedes Jahr zehn Millionen Touristen hierherkommen, ist Jerusalem die ärmste Stadt Israels.

Warum ist das so?
Hoffman: Weil es so viele Arbeitslose gibt. Die Araber sind arbeitslos, weil sie keine Jobs kriegen, die Ultraorthodoxen sind arbeitslos, weil sie es so wollen. Offiziell liegt die Arbeitslosenquote bei 13 Prozent, aber da sind die Palästinenser nicht mitgerechnet. In Wirklichkeit liegt sie bei über 18 Prozent.
Illouz: Jerusalem ist so etwas wie der Eiterherd, an dem das ganze Land leidet. In dieser Stadt wird ganz besonders deutlich, dass Israel nicht in der Lage ist, Toleranz zu üben und eine pluralistische Gesellschaft zuzulassen. Jede Religionsgruppe, auch jede Minderheit bleibt in ihrem Ghetto, die Frauen, die Christen, die Araber, die einzelnen jüdischen Gruppen. Es werden keine Brücken geschlagen. Gerade wird überall auf der Welt versucht, die Unterschiede zwischen einzelnen Gruppen und Schichten zu überwinden. In Jerusalem geschieht das Gegenteil. Hier werden die Unterschiede aufrechterhalten, und zwar mit Leidenschaft.
Kedar: Dann wäre Jerusalem das Gegenteil von New York, das Gegenteil eines Melting Pots.
Illouz: Sogar das Gegenteil einer Stadt. Jerusalem ist eine Anti-Stadt. Die Menschen integrieren sich nicht, sie polarisieren, wo es geht.

Wird Jerusalem von Männern dominiert?
Illouz: Das ganze Land wird von Männern dominiert. Militär, Politik, Wirtschaft, Religion, alles in der Hand von Männern.
Boullata: Sogar in den Bussen sitzen die Männer vorne und die Frauen hinten.
Hoffman:
Es ist aber nicht mehr so schlimm wie früher. Noch vor ein paar Jahren gab es jeden Tag 2500 Busfahrten, bei denen die Frauen hinten sitzen mussten, heute sind es weniger als 400. Es gibt mittlerweile in jedem Bus ein Schild, auf dem »Freie Platzwahl« steht. Und offiziell ist es sogar so, dass jeder, der einen anderen Fahrgast aufgrund seiner Platzwahl schikaniert, angezeigt werden kann. Es gibt also auch positive Nachrichten. In der Knesset zum Beispiel sitzen so viele Frauen wie nie zuvor in der Geschichte Israels.
Boullata: Wie viele denn?
Hoffman: 27, das sind immerhin 22 Prozent.
Fahmi: Ich möchte nur daran erinnern, dass es auch rassistische Frauen gibt.
Boullata: Können wir bitte mal über uns Palästinenser sprechen? Wir sind nämlich echt in einer Zwickmühle. Die meisten von uns arbeiten in Ramallah oder Bethlehem, weil es da die meisten Jobs gibt. Das heißt, dass wir palästinensische Gehälter bekommen, aber israelische Steuern zahlen, die viel höher sind. Und trotzdem bekommen wir von dieser Stadt nichts zurück. Ost-Jerusalem verwahrlost. Die Häuser bröckeln, die Jugendlichen nehmen Drogen, wir werden immer ärmer.
Hoffman: Weil ihr nicht wählen geht.
Boullata: Wir können nicht wählen, weil wir sonst die Besatzung legitimieren würden. Tut mir leid, keine Chance.
Nikodemus: Jetzt geht das wieder los. Das bringt uns nicht weiter. Ich finde, wir sollten darüber reden, dass Jerusalem der Öffentlichkeit immer nur sein problematisches Gesicht zeigt, die Gewalt und den Hass.

Warum sollte eine Stadt das tun?
Nikodemus: Weil der Konflikt ihre Haupteinnahmequelle ist. In Jerusalem hat sich eine riesige Friedensindustrie entwickelt. Die Hanns-Seidel-Stiftung hat hier ein Büro, die Rosa-Luxemburg-Stiftung auch, in dieser Stadt sind sämtliche deutsche Parteien und tausend andere Organisationen vertreten. Die kommen alle her, um Frieden zu stiften. Ich habe schon viele deutsche Politiker und Minister durch die Stadt geführt, Sigmar Gabriel, Winfried Kretschmann, Philipp Rösler.

Und welches Gesicht versteckt die Stadt?

Nikodemus: Das tolerante, weil es für Touristen und Politiker uninteressant ist. In meinem Kloster gibt es zum Beispiel einen jüdischen, einen christlichen und einen muslimischen Koch. Die kochen zu dritt eine ganz tolle Crossover-Küche. Unser jüdischer Koch stammt aus dem Irak, der macht ein wunderbares Lamm mit Ingwer, Aprikosen und Käse. Wenn der in der Küche steht, riecht man es im ganzen Kloster. Fahmi: Wir sollten in Ihrem Kloster weiterdiskutieren. Ist es weit weg?
Nikodemus: Noch ein Beispiel. Gestern ist eine unserer Mitarbeiterinnen gestorben. Und wir Mönche sind zusammen mit unseren muslimischen und jüdischen Mitarbeitern zum Haus ihrer Familie gepilgert, um gemeinsam zu trauern. Auch das ist Jerusalem, aber diese Geschichten bringen kein Geld und keine Aufmerksamkeit, deswegen werden sie nicht erzählt. Die Menschen drücken lieber auf ihren MP3-Player und spielen die ewige Erzählung vom Konflikt ab.
18 Uhr. Anat Hoffman und ihr Freund brechen auf – der Botschafter wartet nicht. Bis nach Tel Aviv sind es sechzig Kilometer, trotzdem braucht man in den Stoßzeiten zwei Stunden. Zehn Minuten später kommt der Schriftsteller Nir Baram. Er trägt Turnschuhe mit lila Schuhbändern.

Illouz:
Jerusalem könnte eine Stadt von Weltformat sein – aber sie ist entweder eine Touristenattraktion oder ein ganz normaler Ort, an dem die Menschen arbeiten, essen, schlafen. Jerusalem ist leider nicht in der Lage, das konstruktive Zentrum für diesen Konflikt zu sein. In diesem Punkt hat die Stadt versagt.

Ist Jerusalem ein guter Ort, um ein normales Leben zu führen?
Illouz:
Was ist ein normales Leben?

Ein Job, zwei Kinder, Grillen im Garten.
Illouz: Das ist kein normales, das ist ein langweiliges Leben.
Nir Baram: Ich bin in West-Jerusalem im Viertel Beit HaKerem groß geworden. Die Erwachsenen haben mir immer erzählt, dass die Palästinenser uns nie akzeptieren würden. Es hat lange gedauert, bis ich den Rassismus, den ich in mir trage, begriffen habe, weil ich umringt war von engstirnigen Juden, für die es nur eine politische Meinung gab. Mit palästinensischen Kindern kam ich nur bei offiziellen Schultreffen in Kontakt. Man hockte uns in einen Raum, wir haben diskutiert und gingen wieder auseinander. Bis ich 16 war, habe ich in meiner Freizeit keinen einzigen Araber gesehen, nicht beim Fußball, nicht in der Jugendgruppe, nirgends.

Aber es leben doch 280 000 Palästinenser in der Stadt.
Baram: Wir haben in den letzten Jahrzehnten eben nichts anderes getan, als ein Ghetto für die Juden zu errichten, einen Ort, an dem sie unter sich bleiben. Ich glaube, euch in Europa ist das nicht bewusst, aber in Israel und Palästina haben die meisten die Zweistaatenlösung längst begraben.

18.30 Uhr. Der Buchhändler Munther Fahmi verabschiedet sich, dafür kommt der palästinensische Architekt Omar Yousef. Er raucht Gauloises. Kurz darauf erreicht uns eine SMS von Irena Steinfeldt, Direktorin von Jad Vaschem: Sie verspätet sich um 20 Minuten, eine Bombenwarnung in der Straßenbahn. Die Tram musste geräumt und durchsucht werden.

Illouz: Früher hatte Jerusalem ein lebendiges Stadtzentrum und eine starke Mittelklasse. Heute flüchten die jungen, gut ausgebildeten Menschen aus der Stadt.
Baram:
Stimmt. In meiner Jahrgangsstufe waren 160 Schülerinnen und Schüler. Heute leben 150 davon in Tel Aviv und nur noch zehn in Jerusalem, und das sind die Verlierer. Wir hatten gerade Klassentreffen, deswegen weiß ich das so genau.
Kedar: Ich lege eine andere Statistik auf den Tisch. Meine drei Kinder sind zwischen zwanzig und dreißig und jedes von ihnen ist in Jerusalem geblieben. Macht eine Quote von hundert Prozent. Ich bin überzeugt, dass ein Umzug kein Problem löst.
Baram:
Ich bin nicht nach Tel Aviv gezogen, um ein Problem zu lösen. Ich wollte ein schöneres Leben haben.
Omar Yousef: Ich habe mich ganz bewusst für Jerusalem entschieden, weil mein Leben in dieser Stadt eine Bedeutung bekommt. Ich habe in meiner Promotion über Stadtplanung gearbeitet. In einer amerikanischen Stadt kann das ziemlich langweilig sein, hier in Jerusalem hat es eine Relevanz für das Leben der Menschen. Und wenn mir jemand meine Identität oder Heimat wegnehmen möchte, bleibe ich erst recht.
Baram:
Ich bin gestern aus Berlin zurückgekommen, zusammen mit meinem palästinensischen Freund Ayman Sikseck, er ist auch Schriftsteller. Als wir in der Empfangshalle des Ben-Gurion-Flughafens standen, kamen ein paar Polizisten auf uns
zu und führten ihn in einen Raum, wo sie ihn eine Stunde lang ausgequetscht haben. Danach haben sie ihn in einen anderen Raum geführt und dann in noch einen, obwohl er einen israelischen Pass hat. Nirgendwo kann man das Gefühl der »Jewish superiority« besser beobachten als auf einem israelischen Flughafen.
Boullata: Wir nennen das VIP-Behandlung, VIP für »Very Important Palestinians«.

Der gleiche Pass, zwei verschiedene Schlangen?
Baram: Natürlich. Ich gebe manchmal Lesungen an Schulen und diskutiere danach mit den Jugendlichen. Sie glauben nicht, wie rassistisch viele sind, ohne dass sie es merken. Die kennen die Geschichten aus der Bibel, die kennen den Holocaust und die Lösung: den Judenstaat. Es gibt viele Jugendliche, die ganz natürlich davon ausgehen, dass wir ein Staat von Juden sind, dass wir höhergestellt sein sollten und dass alle anderen nur Gäste in unserem Land sind.

Was kann man dagegen tun?
Baram: Ich glaube, dass die jüdische Vorherrschaft in Israel das Problem ist. Ich glaube an einen demokratischen Staat Israel, nicht an einen jüdischen. In einem jüdischen Staat hat ein antizionistischer Rabbi aus New York mehr Recht, hier zu leben, als meine Kumpel aus Jaffa, obwohl die ihr ganzes Leben hier verbracht haben. Ich glaube, wir Juden müssen lernen loszulassen.

Ist es ein Problem, wenn ein Jude sich in eine Palästinenserin verliebt?

Boullata: So was kann nicht passieren.
Yousef: Und ob. Es gibt sehr wohl gemischte Pärchen. Es ist schwierig, aber nicht unmöglich.
Nikodemus: Zu mir kommen oft gemischte Pärchen und fragen: »Oh, du bist doch ein Mönch. Kannst du uns trauen?« Leider weiß ich, was hinter solchen Liebesgeschichten meistens steckt. Wer zu seinem Partner Ja sagt, muss oft Nein zu seiner Familie sagen.
Baram: Um ehrlich zu sein, für 85 Prozent der Juden wäre es ein Problem, wenn ihre Tochter einen Palästinenser heiratet.
Yousef: Ja, Männer und Frauen sollten sich ihre Ausweise zeigen, bevor sie sich ineinander verlieben.
Baram: Wussten Sie, dass an der Universität immer noch versucht wird, ein Juden-Gen zu finden, so etwas wie eine jüdische DNA? Viele Menschen in Israel glauben daran.

Und so eine Logik ist nicht antisemitisch?
Baram: Natürlich ist sie das.
Boullata: Ich habe wahrscheinlich mehr jüdische Gene in mir als Sie.
Baram: Mit Sicherheit. Mein Großvater kam aus Ägypten.

18.50 Uhr. Der Fremdenführer Tzachi Kedar muss los, dafür kommen Amira Hass, die als einzige jüdische Journalistin in Ramallah lebt, und Irena Steinfeldt, Direktorin der Abteilung »Gerechte unter den Völkern« in Jad Vaschem. Beide bestellen nichts, sie sind – das merkt man schnell – nicht zum Spaß hier. Bruder Nikodemus bestellt das erste Bier des Abends.

Im muslimischen Viertel der Altstadt hängen über manchen Gassen dichtmaschige Netze. Wofür sind diese Netze?
Yousef: Zum Schutz. Es gibt ja nicht nur israelische Siedler in den Außenbezirken, sondern längst auch mitten in der Altstadt. Viele von ihnen werfen Müll und die gebrauchten Windeln ihrer Babys von oben in unsere Höfe.
Amira Hass: In Hebron werfen sie keine Windeln, sondern Steine.
Yousef: Es gibt auch Siedler, die mitten in Jerusalem Wohnungen besetzt halten, aber nie da sind, einfach nur um zu provozieren. Manche hissen riesige israelische Flaggen auf dem Dach. Neulich hat einer einen Boxsack im Treppenhaus aufgehängt, nur um deutlich zu machen: »Schaut her, hier bin ich, mitten im muslimischen Viertel.«
Hass: Das Krasse ist, 98 Prozent der Israelis haben keinen blassen Schimmer von diesen Provokationen.

»Lasst uns zusammen in diesem Land leben.«

Aber Sie schreiben doch täglich in der Zeitung darüber.
Hass: Ich kann nicht über alles schreiben. Und ich bin ja meistens in Ramallah. Das ist zwar nur 15 Kilometer entfernt, aber so weit weg wie der Mond. Natürlich würden die Menschen in Ramallah gern nach Jerusalem fahren, aber sie dürfen nicht und irgendwann wollen sie halt auch nicht mehr.
Boullata: Ist doch logisch. Ich vergesse nicht, wer mir mein Land wegnimmt. Soll ich aufstehen und rufen: »Guten Morgen, Herr Nachbar?!« Nie im Leben. Ich bin mittlerweile umringt von Siedlern. Und ich kann das nicht so einfach verdauen.
Nikodemus: In Ruanda müssen die Menschen die Mörder ihrer Eltern und Kinder als Nachbarn akzeptieren, ich finde, das ist die größere Herausforderung.
Yousef: Wisst ihr, was ich für eine Fantasie habe? Dass die Israelis endlich auf die Palästinenser zugehen und sagen: »Hallo, Leute, es tut uns leid, wir waren Flüchtlinge, wir haben den Holocaust durchgemacht und haben leider vergessen, an euch zu denken. Aber jetzt haben wir nachgedacht und schlagen vor: Lasst uns zusammen in diesem Land leben.« Wenn so was in der Art nicht passiert – dann sehe ich keine Lösung. Sie sind die Stärkeren, sie müssen den ersten Schritt machen.
Irena Steinfeldt: Ich glaube nicht, dass euch diese Opferhaltung weiterbringt. Wir Juden sprechen doch auch wieder mit den Deutschen, obwohl man verstehen könnte, wenn wir sagen: Mit euch wollen wir die nächsten 500 Jahre nichts zu tun haben. Manchmal muss man eben einen Neuanfang wagen.
Hass: Diese Opferrolle kann lästig sein, das stimmt, aber man darf nicht die täglichen Grausamkeiten von Seiten der Siedler und der israelischen Bürokratie vergessen. Die meisten haben keine Ahnung davon, wie viel Kraft und Lebenswillen man braucht, um unter jahrzehntelanger Besatzung ein einigermaßen normaler Mensch zu bleiben.
Nikodemus: Darf ich mal was sagen, bitte? Ich fühle mich gerade echt unwohl. Ich lebe hier als Ausländer. Ich kenne eure Argumente, ich kenne die Tatsachen und ich weiß, dass ihr beide recht habt. Warum bringt hier nie jemand die Fantasie auf, sich mal für fünf Minuten in die Haut des anderen zu versetzen?
Yousef: Da muss ich Ihnen widersprechen. Das tun wir …
Nikodemus: Sorry, dass ich Sie unterbreche, aber ich betreue viele Pilgergruppen. Die fahren nach Bethlehem und hören sich drei Stunden lang das Leid der Palästinenser an. Danach fahren sie nach Jad Vaschem und hören sich drei Stunden lang das Leid der Juden an. Danach sind sie total verwirrt, weil sie das Gefühl haben, dass es einen Wettbewerb gibt, wer das größere Opfer ist. Ich hasse das.
Steinfeldt: Schauen Sie, wie weit dieser Konflikt uns schon gebracht hat: ein Mann der Kirche, der von Hass erfüllt ist.

Herr Baram, sind Sie nach Tel Aviv gezogen, um diesen ewigen Debatten zu entkommen?
Baram: Nein, ich bin weggezogen, weil es nach meinem Wehrdienst für mich hier keine Alternative gab. Es gibt doch kaum Jobs hier.

Haben Sie in der Armee gedient?
Baram:
Hauptsächlich habe ich in einem Panzermuseum gearbeitet. Mein Job war, an die Schulen zu gehen und Lehrer davon zu überzeugen, mit ihren Klassen dieses Museum zu besuchen. Ich bin aber zu niemandem gegangen. In zwei Jahren bin ich vielleicht an vier Schulen gewesen.

Gibt es etwas an Jerusalem, was Sie in Tel Aviv vermissen?

Baram: Ich kann nicht leugnen, dass in dieser Stadt eine ganz besondere Atmosphäre herrscht. Aber wenn ich ehrlich bin, vermisse ich Jerusalem überhaupt nicht.
Steinfeldt: Ich bin hier geboren und werde hier sterben, obwohl viele meiner Freunde weggezogen sind. Tel Aviv ist schön, ich bin sicher einmal die Woche dort, aber irgendwie sehen dort alle gleich aus.

Wie verbringen Sie den Sabbat in Jerusalem?
Steinfeldt: Ich gehe bei mir im Viertel spazieren. Man hört Kirchenglocken und den Muezzin, Menschen gehen in die Synagoge. Mir gefällt diese Mischung. Manchmal lese ich, manchmal besuche ich Freunde, manchmal fahre ich nach Tel Aviv.
Baram: Sehen Sie, in Tel Aviv lässt es sich doch besser aushalten.

19.30 Uhr.
Von der Straße kommt Geschrei, man hört Trommeln. Am Tisch entsteht Unruhe: eine Demonstration? Ein Handgemenge? »Aber nein«, beruhigt Schwester Bernadette vom »Österreichischen Hospiz«, »nur eine Hochzeit«. Endlich wird das erste Essen bestellt: Gulaschsuppe und »Pizza Jerusalem« – mit bulgarischem Käse, Tomaten und marokkanischen Gewürzen.

Wir haben vorhin vom Essen gesprochen. Wo gehen Sie hin, wenn es was zu feiern gibt?
Nikodemus: Ich esse meistens bei uns im Kloster. Und wenn ich ausgehe, dann um mit unseren Studenten oder Gästen ein Bier zu trinken. Oft landen wir in der »Uganda Bar«. Das ist die einzige Bar in West-Jerusalem, wo man Taybeh-Bier bekommt, das ist frisch gezapftes palästinensisches Bier aus dem Westjordanland und schmeckt richtig gut. Der Braumeister hat in Weihenstephan studiert.
Baram: Wussten Sie, dass das »Uganda« inzwischen einen Ableger in Tel Aviv hat?
Nikodemus: Kann ich mir vorstellen. Die »Uganda Bar« ist wohl die einzige hier in Jerusalem, die auch junge Menschen aus Tel Aviv als cool bezeichnen würden.
Hass: Ich gehe in einen Laden, wo ich Internetanschluss habe, damit ich arbeiten kann. Gut essen tue ich nur, wenn ich Freunde besuche. Ich habe eine Freundin in Ramallah, die macht die besten gefüllten Weinblätter der Welt.

Wie oft sind Sie in Jerusalem?
Hass: Ein-, zweimal die Woche. Ich bin hier geboren. Ich habe Freunde hier und mein Postfach. Es dauert einfach zu lange, bis es ein Brief nach Ramallah schafft.

Ist es kompliziert, von Ramallah nach Jerusalem zu kommen?
Hass:
Für mich nicht. Als Jüdin und Journalistin habe ich gewisse Privilegien. Trotzdem ist es mit Aufwand verbunden. Man muss am Checkpoint warten oder einen Umweg fahren. Früher bin ich sogar nach Jerusalem gefahren, um Yoga zu machen, aber während der zweiten Intifada wurde es immer schwieriger. Inzwischen gibt es aber auch ziemlich gute Kurse in Ramallah.
Baram: Sie vermissen also nichts im Westjordanland?
Hass: Doch, die Sprache. Ich spreche dauernd Arabisch, aber Hebräisch ist meine Muttersprache.

Wird in Jerusalem ein besonderer Dialekt gesprochen?
Baram: Natürlich. Hass: Aber der Unterschied ist nicht so groß wie zwischen Süd- und Hochdeutsch.
Steinfeldt: Es gibt ein paar Ausdrücke, die typisch für Jerusalem sind.
Baram: Zum Beispiel Lo beschvil maschu. Das versteht in Tel Aviv kein Mensch. Es bedeutet so viel wie: »Ich sage das nicht, um einen Vorteil zu haben, sondern nur, weil ich ehrlich sein möchte.«

Heißt das, die Menschen in Jerusalem sind höflicher?

Baram: Aber nein, die sagen das ja nur so, in Wirklichkeit suchen sie doch ihren Vorteil.
Steinfeldt: Die Menschen in Tel Aviv halten uns für Dummköpfe, Langweiler und Nichtschwimmer. Die Wahrheit ist, dass in Jerusalem alles ein bisschen langsamer ist. Tel Aviv kommt nie zur Ruhe. Das Leben pulsiert rund um die Uhr. Jerusalem ist intensiver, aber es gibt auch weniger Menschen, die durch die Gegend hasten, weil sie einen Termin haben.
Hass: In Tel Aviv verschließen die Menschen ihre Augen vor der Wahrheit. Sie wollen ein normales Leben führen und verdrängen die Realität der Apartheid. Tel Aviv fühlt sich an wie eine Blase.
Baram: Es ist genau umgekehrt. Der Rest von Israel ist eine Blase. Tel Aviv ist der einzige Ort, an dem es authentisch zugeht.
Yousef: Ich habe mal ein paar Jahre in Berlin gelebt. Wenn ich dieses Berlin-Gefühl vermisse, fahre ich nach Tel Aviv oder rüber nach West-Jerusalem. Aber wenn mir nach Substanz ist, bleibe ich hier im Osten.
Hass: Sie sind Palästinenser, ich bin Jüdin. Für mich ist Berlin in erster Linie die Hauptstadt des Dritten Reichs.
Nikodemus: Das verstehe ich, aber wissen Sie, was mich irritiert? Dass die Opfer der Schoa bis heute kaum Unterstützung vom Staat Israel bekommen. Viele von ihnen leben am Existenzminimum, während die Kriegsinvaliden auf Händen getragen werden. Das zeigt sich auch an den Gedenktagen: An Jom haSchoa ertönt eine Zwei-Minuten-Sirene für die Schoa-Opfer und die gefallenen Widerstandskämpfer. An Jom haZikaron ertönt eine Ein-Minuten-Sirene am Vorabend und eine Zwei-Minuten-Sirene am Tag selbst, und zwar ausschließlich für die Gefallenen der israelischen Armee. Das ist doch ungerecht.
Yousef: Sorry, aber ich muss Sie unterbrechen. Als Sie vorhin nach unseren Lieblingsrestaurants gefragt haben, wurde ich einfach ignoriert. Mir ist schon klar, dass Sie sich hier in erster Linie an die Israelis richten, immerhin haben Sie was gutzumachen …

… jetzt wollen Sie wieder das Opfer sein.
Yousef: Nein, ich habe nur den Eindruck, dass die Menschen aus der westlichen Welt permanent versuchen, die Israelis zu hofieren, während wir Palästinenser nur Tischdekoration sind. Die Touristen, die nach Ost-Jerusalem kommen, interessieren sich doch kaum für uns. Die kommen vom Strand in Tel Aviv und schauen sich bei uns noch ein paar Kirchen und Moscheen an.

Tut uns leid, Herr Yousef, das war wirklich keine Absicht.
Yousef: Ich bin da empfindlich, weil es alle so machen, die ganze internationale Gemeinschaft macht es so. Wir werden einfach übergangen.

Aber wir haben Sie doch extra eingeladen …
Yousef: Ich weiß, ich weiß, schon gut, ich will Sie doch nur ein bisschen hänseln, aber denken Sie mal drüber nach, da ist schon was dran. So, und jetzt beantworte ich Ihre Frage: Ich gehe meistens irgendwo Humus oder Falafel essen. Das sind nämlich keine Erfindungen der Israelis, auch wenn in New York Falafel als israelische Spezialität verkauft wird. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich freue mich, wenn jemand meine Kultur mit mir teilen möchte, aber man muss schon bei den Tatsachen bleiben.
Baram: Genug diskutiert. Können wir jetzt ein bisschen über Pep Guardiola sprechen? Sie kommen doch aus München.
Nikodemus: Ja, reden wir über Fußball. Manchmal spielen wir mit unserer Klostermannschaft gegen die Armenier oder die amerikanischen Studenten aus der Episkopalkirche. Gegen die Armenier haben wir nie eine Chance.
Boullata: Sorry, aber bevor das hier zu leicht wird, möchte ich noch eine letzte Sache loswerden: Edward Said hat einmal gesagt: »Die ganze Welt ist ein Hotel, aber Jerusalem ist meine Heimat.« Genauso fühle ich auch. Und ich hoffe und bete, dass auch meine Enkel so empfinden werden. Jerusalem ist meine Heimat und ich wünsche mir, dass es eine freie Stadt für jeden ist. Das geht aber nur, wenn die Besatzung aufhört. Und deshalb werde ich gegen diese Besatzung kämpfen, solange ich lebe, und meinen Töchtern werde ich sagen, sie sollen das Gleiche tun.

Natürlich wird noch weiterdiskutiert, jetzt erst recht, aber die Argumente wiederholen sich, ebenso die Forderungen, Einsichten, Missverständnisse. Nein, der Nahostkonflikt wurde auch heute nicht gelöst, aber wir haben einander zugehört. Wir haben diskutiert und gestritten, aber jeder blieb höflich; am Ende haben sich manche umarmt. Gegen 21 Uhr löst sich die Runde allmählich auf, Nir Baram muss nach Tel Aviv, Amira Hass zurück nach Ramallah. Nur Bruder Nikodemus bestellt noch ein Gösser Dunkel. Er freut sich, ein paar Leute aus der Heimat getroffen zu haben. Wir werden noch bis Mitternacht mit ihm im Garten sitzen, Bier trinken und Geschichten aus Jerusalem und München austauschen.

(Fotos: Simon Roberts/Gallerystock; Atlantide Phototravel/Corbis; Daniel Tepper; Peter van Agtmael/Magnum Photos/Agentur Focus; AFP Photo/Menahem Kahana; imago/Xinhua; Amit Shabi/laif; Ronen Zvulun/Reuters; Gali Tibbon/AFP Photo)