Die apokalyptischen Reiter

Im Gazastreifen kann jede falsche Bewegung den Tod bedeuten. Für ein paar unerschrockene Surfer aber ist der Ritt auf der Welle die einzige Freiheit – und auch das größte Risiko wert.

Unsere Begegnung mit den Surfern von Gaza beginnt mit einer Enttäuschung. Nur zwei erscheinen, sechs andere nicht. Wir hatten uns für den frühen Nachmittag am Holzhaus von Bademeister Mohammed Jayab verabredet, dem Veteranen unter Gazas Wellenreitern. Nachmittag sei gut, hatte Mohammed gesagt, dann schlügen die Wellen hoch. Aber in Al Deira, dem Hausstrand von Gaza-Stadt, lassen sich an diesem Mittwoch im heißen Spätherbst nur Mohammed und sein Surf-Kumpel Achmed Haseera blicken. Die Wellen sind bräunlich, denn ein Teil der Abwässer Gazas fließt ungefiltert ins Meer.

Über uns schwebt ein weißer Zeppelin, mit dem Israels Armee gestochen scharfe Fotos von jedem Flecken im Gazastreifen schießen kann. Israel kontrolliert die 1,5 Millionen Bewohner des Gazastreifens zu Lande, zu Wasser und aus der Luft. Plötzlich klingelt das Handy des Fotografen. Am Apparat ist einer von Mohammeds Surfschülern. Er kann sich ein Handygespräch nicht leisten und bittet um Rückruf. Der Surfer sagt, er und seine Freunde hätten am Al-Deira-Strand auf uns gewartet. Doch plötzlich sei eine Hamas-Patrouille erschienen und habe geschimpft. Warum sie surften, anstatt den Koran zu lernen. Dass der Sport aus Amerika komme, Feindesland. Mohammed nimmt das Fotografenhandy und sagt dem verschreckten Surfer, er und seine Freunde sollen sich ein Taxi nehmen und kommen, die Hamas-Leute seien wieder verschwunden. Mohammed ist 34 Jahre alt und Achmed 28. Die Freunde sind die erfahrensten Surfer im Gazastreifen, »die einzigen richtigen Surfer«, wie sie selbst sagen. Außer ihnen gebe es noch »15 oder zwanzig« andere Jungs, die surften. Vor neun Jahren war Mohammed zum ersten Mal auf dem Sportkanal von Al-Dschasira an einem Beitrag über Surfer hängen geblieben. »Ich konnte nicht mehr aufhören, Surf-berichte zu sehen«, sagt er. Die gigantischen Wellen, die Leichtigkeit der Surfer, ihre waghalsigen Manöver: »Ich wollte das nachmachen!« Und weil es im Gazastreifen keine Surfschulen, keine Surfshops und keine Surflehrer gibt, beschlossen er und Achmed, sich das Wellenreiten selbst beizubringen.

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Bei einem Besuch in Israel – damals durften Palästinenser den Gazastreifen, anders als heute, noch verlassen – entdeckte Mohammed in einem Sportladen in Tel Aviv ein gebrauchtes Surfbrett. Lange habe er überlegt, ob er dreißig Euro für diese Plastikscheibe ausgeben sollte. Viele Menschen im Gazastreifen verdienen noch nicht einmal in einem Monat dreißig Euro. Als Mohammed mit dem Secondhand-Brett nach Hause kam, starrten ihn die Nachbarn an und seine Frau erklärte ihn für verrückt. Seine drei Töchter fragten, für was ein Surfbrett gut sei. Dieses Brett, das sich Mohammed und Achmed teilten, war jahrelange das einzige, das es im gesamten Gazastreifen gab.

Inzwischen kommt Mohammeds Familie oft an den Strand und schaut ihm beim Wellenreiten zu. »Für die ist das wie Kino«, sagt Mohammed und zündet sich eine Zigarette an. Im Gazastreifen, der nahezu baumlosen und sandigen Enklave zwischen Ägypten und Israel, gibt es weder Kinos noch Bars und kaum andere Freizeitmöglichkeiten. Seit der Machtübernahme der radikal-islamischen Hamas im Juni werden auch Internetcafés und Apotheken, die Verhütungsmittel verkaufen, als Ärgernis empfunden und in Brand gesetzt. Das Surfen hat Mohammed und Achmed sogar zu einem neuen Job verholfen. Sie sind jetzt Bademeister.

Achmed kommt gerade aus dem Meer angepaddelt, bäuchlings auf einem Surfbrett liegend lässt er sich von den Wellen an den Strand tragen. »Wir sind die besten Schwimmer im Gazastreifen!«, behauptet er und zieht seine grüne Baseballkappe tiefer ins Gesicht. Auf ihr steht »Libya«, Libyen. Später sitzen die beiden auf Plastikstühlen im Sand, zwischen der Bademeisterhütte und einer wilden Müllkippe.

Achmed lässt sich von der Sonne trocknen, Mohammed behält das Strandleben im Auge. Die beiden tragen keine Badehosen in grellen Farben und stellen keinen Muskelbauch zur Schau. Gesurft wird im Gazastreifen in weiten T-Shirts und schwarzen Badehosen. Nackte Oberkörper sind selten, eng anliegende Kleider verpönt. Für Wetsuits haben die palästinensischen Wellenreiter kein Geld, im Winter werfen sie sich eben frierend in die Fluten.

Mohammed und Achmed wohnen mit ihren Familien in Flüchtlingslagern und nicht in einem Bungalow in Malibu. Sie werden nicht von hübschen Frauen in Bikinis angehimmelt, sondern von verschleierten Mädchen angestarrt. Und sie müssen sich mit maximal vier Meter hohen Wellen zufriedengeben im Winter, wenn Stürme toben und sie ihre Scheu vor dem kalten Wasser überwunden haben. Denn zu jenen Stellen in den Ozeanen der Welt, wo die Wellen doppelt so hoch und immer warm sind, dürfen sie nicht reisen: »Gaza ist ein Gefängnis. Die Grenzen sind zu. Wir dürfen noch nicht einmal nach Israel oder Ägypten«, sagt Mohammed.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie die Surfer auf ihren Brettern Fische fangen und die Begegnung mit einem israelischen Patrouillenboot)

Doch wenn er sich aufs Surfbrett schwingt und dem Gazastreifen den Rücken kehrt, öffnet sich für Mohammed die Grenze. Auf dem Wasser, sagt er, »bin ich ein freier Mensch«. Auf dem Brett vergesse er das Eingesperrtsein, die Kämpfe zwischen Hamas und Fatah, die Aussichtslosigkeit. »Ich bin dann ein Fisch im Wasser.« Und Achmed, der Wachs von seinem Surfbrett abrubbelt, sagt: »Auf den Wellen vergesse ich mein normales Leben.« Gaza schnüre ihm die Luft ab, auf dem Meer könne er atmen. Die Not im Gazastreifen hat auch seine Surfer erfinderisch gemacht.

Mohammed und Achmed benutzen ihre Bretter manchmal zum Fischen. Paddeln raus aufs Meer, halten Netze ins Wasser, bis sie Fische fürs Abendessen mit nach Hause bringen können. Einmal ist Mohammed dabei einem israelischen Patrouillenboot zu nahe gekommen. Die Soldaten waren überrascht, keinen Terroristen vor sich zu haben, erzählt Mohammed: »Ein Soldat hat gesagt, er wusste gar nicht, dass auch im Gazastreifen gesurft wird.«

Ein Taxifahrer hupt und hält am Rand des Strandes. Türen fliegen auf und sechs palästinensische Surfer-Jungs kommen zur Holzhütte der Bademeister, wo ihre Bretter liegen. Sie begrüßen Mohammed und Achmed mit Handschlag und rennen mit den Surfboards ins Meer. Sie johlen und lachen, stolpern ins Wasser und verlieren die Bretter, sie balancieren auf Wellen und warten bäuchlings auf größere, sie paddeln und kippen vom Brett, sie kraulen und halten ihre Köpfe über Wasser, nach einer halben Stunde geht ihnen die Puste aus. Nur Jusuf, der Jüngste, bleibt die nächsten anderthalb Stunden im Meer.

Mohammed sagt, Jusuf sei ein Naturtalent. Vor zwei Jahren habe er das erste Mal auf einem Surfbrett gestanden, »als ob er auf einem Surfbrett zur Welt gekommen wäre«. Jusuf hält das Gleichgewicht selbst dann, wenn der Wellenkamm kleiner und das Balancehalten schwerer wird. Immer wieder paddelt er raus aufs Meer und wartet gute Wellen ab. Später, in einer Pause, scharrt Jusuf mit seinen dürren Beinen im Sand, das Reden mit einem Fremden ist ihm unangenehm. Sein Surfbrett ist doppelt so lang wie er selbst. Den Blick aufs Meer geheftet, sagt er, die Schule interessiere ihn nicht, Hausaufgaben langweilten ihn. Jeden Tag sei er am oder im Meer, denn: »Ich will an Wettbewerben teilnehmen und Champion werden.« In der Schule sei er der Einzige, der surfe. Die meisten verstünden gar nicht, worin der Spaß am Wellenreiten liege.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie und warum der 86 Jahre alte Jude Dorian Paskowitz aus Hawaii Surfbretter in den Gaza-Streifen bringt)

Vor zwei Jahren, als Jusuf am Strand war und Mohammed das erste Mal auf einer Welle beobachtet hatte, bettelte er seinen Vater an, er möge ihm auch so ein Board besorgen. Doch der Vater musste passen. Im ganzen Gazastreifen gab es keine Surfboards und der Grenzübergang zu Israel war nur für medizinische Notfälle passierbar. So behalf sich Jusuf zunächst mit einer dicken Plastikscheibe, die ihm sein Vater zurechtschneiden ließ.

Seit August besitzt Jusuf endlich auch ein eigenes, wenn auch viel zu großes Surfboard. Es ist ein Geschenk des 86 Jahre alten Juden Dorian Paskowitz aus Hawaii. Paskowitz reitet seit über siebzig Jahren auf den Wellen und ist in der Surf-Welt als »Doc« bekannt. Im Frühsommer war Paskowitz in einem Artikel der Los Angeles Times auf die Surfer vom Gazastreifen gestoßen. Den Artikel zierte ein Foto, auf dem Mohammed und Achmed unsicher in die Kamera lächelten, zwischen sich das ramponierte Surfboard, das sie sich teilten. Paskowitz beschloss, gebrauchte Bretter zu sammeln und in den Gazastreifen zu schicken. Mehrere Wochen telefonierten der »Doc« und sein Sohn David mit Surfshops und Friedensgruppen in Israel und den Palästinensergebieten. Bis Spenden für den Transport von 15 gebrauchten Brettern zusammenkamen und »Doc« und David die 12500 Kilometer lange Reise zum Gazastreifen antreten konnten.

Dann standen sie mit ihren Brettern in sengender Augusthitze am Grenzübergang Eres, während auf der gegenüberliegenden Seite Mohammed und Achmed warte-ten. Doch die Soldaten am Checkpoint waren unerbittlich: »Doc« könne die Bretter den Palästinensern nicht persönlich übergeben, wegen solch einer komischen Aktion könne man nicht einfach die Grenze öffnen. Zwei Stunden lang wurden Telefonate geführt und Argumente ausgetauscht. Bis schließlich die Armeeführung ein Einsehen hatte mit den spendablen Surfern aus Hawaii. Das schwere Tor schwang auf und Mohammed und Achmed konnten die Secondhand-Bretter persönlich in Empfang nehmen.

Mohammed sagt, er habe Tränen in den Augen gehabt, als er die Surfbretter endlich berühren konnte. Zehn Minuten habe man mit dem Gönner aus Hawaii reden dürfen, dann wurde die Grenze wieder geschlossen. Er habe dem Surf-Guru gesagt, sein Traum sei es, einen Surfkurs zu absolvieren, um den Kindern im Gazastreifen das Wellenreiten beizubringen. »Ich warte jeden Tag auf einen Anruf aus Hawaii«, sagt Mohammed und schnippt seine Zigarette in den Sand. Das wäre sein Traum: einmal rauskommen aus dem Gazastreifen und Wellenreiten lernen. Mohammed hat sein neues Surfboard bis heute nicht benutzt, es ist ein Heiligtum für ihn. Das Brett liegt bei ihm zu Hause im Gästezimmer, niemand darf es berühren.

Mohammed wartet auf den Winter und einen Tag mit starkem Wind, wenn meterhohe Wellen weit draußen Fahrt aufnehmen und mächtig auf den Al-Deira-Strand zurollen. Dann wird Mohammed hinauspaddeln und sich im richtigen Moment auf das Brett des jüdischen Amerikaners schwingen. Und sich frei fühlen.